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Der Europäische Binnenmarkt tritt in Kraft

von Kordula Kühlem
Seit dem 1. Januar 1993 gibt es ihn und seit diesem Zeitpunkt ist er trotz aller Herausforderungen eine beispiellose Erfolgsgeschichte ebenso wie er eine anspruchsvolle Daueraufgabe der Europäischen Union bleibt: der Binnenmarkt, der mit rund 15 Billionen Euro Umsatz (Stand 2017) der größte einheitliche Markt der Welt ist. Der Binnenmarkt steht im Kern des Europäischen Integrationsprojektes.

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Anfänge in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Schon seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge am 1. Januar 1958 bemühten sich die Mitgliedsländer um eine Anpassung ihrer Wirtschaftsräume. Die ersten Schritte erfolgten durch eine Zollunion, die seit 1968 im gewerblichen Bereich und seit 1970 bei landwirtschaftlichen Produkten besteht.

Eine wichtige Rolle übernahm auch der Europäische Gerichtshof; einige seiner Urteile zu Klagen privater Akteure führten zur faktischen Vertiefung des Binnenmarktes. Das bekannteste davon ist sicherlich das nach dem französischen Johannisbeer-Likör benannte „Cassis de Dijon“-Urteil vom 20. Februar 1979. Daraus folgend dürfen Waren, die in einem Mitgliedsland rechtmäßig in Umlauf sind, auch in jedem anderen Land verkauft werden, solange dem nicht zwingende Interessen wie Gesundheits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz entgegenstehen.

 

Auf dem Weg zum Binnenmarkt

In den 1980er Jahren übernahmen die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften erneut die Federführung im Hinblick auf das Ziel eines gemeinsamen Binnenmarktes. Ein erstes wichtiges Signal setzten die Staats- und Regierungschefs bei der Tagung des Europäischen Rats in Kopenhagen 1982, wo sie dem Ausbau des Binnenmarktes höchste Priorität einräumten. Das bestätigten die Ratsmitglieder in den folgenden Jahren auf ihren Sitzungen im Juni 1984 in Fontainebleau, im Dezember 1984 in Dublin und erneut im März 1985 in Brüssel.

Kurz darauf nahm sich die Europäische Kommission unter ihrem Präsidenten Jacques Delors der Frage an, wie dieses Projekt zu einem Durchbruch geführt werden kann. Sie legte am 14. Juni 1985 ein „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes“ vor, das in der Einleitung selbstbewusst festhielt: „Die Zeit für Reden ist nun vorbei. Es ist Zeit zu handeln.“

Diese Sichtweise teilte die EVP-Fraktion uneingeschränkt. Sie setzte sich für die Umsetzung des Binnenmarktes ein, u. a. auch gemeinsam mit der Fraktion der Europäischen Demokraten (ED). Beide Fraktionen kamen zu regelmäßigen Kolloquien zu dem Thema zusammen. Auf einem dieser Treffen, am 9. März 1989 in Lissabon, betonte der deutsche EVP-Abgeordnete Karl von Wogau: „Für die EVP-Fraktion ist die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes der Bürger.“

Das Weißbuch der Delors-Kommission unterteilte die angestrebten Maßnahmen in: Beseitigung der materiellen Schranken, Beseitigung der technischen Schranken, Beseitigung der steuerlichen Schranken und setzte mit Ende 1992 auch bereits ein konkretes Datum für die Vollendung dieser Schritte fest.

Zur Beseitigung der wortwörtlichen Schranken, der Schlagbäume an den innereuropäischen Grenzen, unterzeichneten am Tag des Erscheinens des Kommissions-Weißbuchs, am 14. Juni 1985, Frankreich, die Benelux-Staaten und Deutschland das sogenannte Schengener Abkommen, das die Personenkontrollen zwischen den beteiligten Ländern abschaffen sollte. Zwar dauerte es bis zur endgültigen Inkraftsetzung zehn Jahre, aber die Abmachungen von Schengen, denen inzwischen 26 Staaten beigetreten sind, unterstützten das Anliegen des einheitlichen Binnenmarktes.

Diese Bestrebungen bestanden in den nächsten Jahren in der Umsetzung des von der Kommission Delors auf der Basis des Weißbuchs erarbeiteten Binnenmarktprogramms mit 282 Einzelmaßnahmen. In der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) wurde am 1. Juli 1987 dazu festgelegt, bis Ende 1992 die vier Grundfreiheiten – freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – in der EG zu verwirklichen. Auch dafür wurde der Zwang zur Einstimmigkeit im Rat abgeschafft und der Weg für Mehrheitsentscheidungen geöffnet sowie die Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments erweitert.

Der Vertrag von Maastricht, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde, stellte ebenfalls einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Vollendung des Binnenmarkts dar. Damit wurde zum einen die Unionsbürgerschaft eingeführt, zum anderen die mit der Einführung des Euro ab 1999 umgesetzte Wirtschafts- und Währungsunion anvisiert. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Ratifizierung konnte der Vertrag erst im November in Kraft treten und nicht wie geplant bereits zum 1. Januar 1993.

 

Dauerprojekt Binnenmarkt

Schon die beschriebenen Verzögerungen bei der Etablierung des Vertrages von Maastricht als auch beim Schengener Abkommen zeigen, dass der Europäische Binnenmarkt an seinem „offiziellen Geburtstag“ am 1. Januar 1993 noch nicht wirklich vollendet war. Allerdings war auch viel erreicht worden: 93 Prozent, also 263 der 282 von der Kommission genannten Maßnahmen konnten bis Ende 1993 in Kraft treten. Die Umsetzung in nationales Recht erfolgte zu 75 Prozent – in Deutschland sogar zu 79 Prozent. Das Abkommen vom 2. Mai 1992 mit den ehemaligen EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen schuf außerdem den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) als Ergänzung des Binnenmarkts.

Doch bereits zum Inkrafttreten des Binnenmarkts gab es Forderungen für Nachbesserungen und Vertiefungen, schon damals – und teilweise bis heute – stehen Steuerregelungen dabei besonders im Fokus. Außerdem war den Beteiligten klar, dass es sich um einen Prozess handelte, an dem stetig weitergearbeitet werden müsse. Das haben die folgenden Jahre und Jahrzehnte bewiesen.

Die Weiterentwicklung erfolgte in vielen kleinen, aber auch großen Schritten, zu denen beispielsweise die EU-Richtlinie von 2006 „über Dienstleistungen im Binnenmarkt“, die Binnenmarktakte der Kommission von 2011/2012 sowie die von der EU-Kommission unter Jacques Santer im Mai 2015 vorgelegte „Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa“ gehörten.

Der Binnenmarkt war weder zu seinem „offiziellen Geburtstag“ am 1. Januar 1993 vollendet, noch ist er zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgeschlossen. Er ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess und steht damit zugleich auch symbolisch für die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Europäischen Union, deren Willen zum stetigen Fortschritt sie schon über manche Krise hinweggebracht hat.

 

Literaturhinweis:

  • Michael Borchard (Hrsg.), Deutsche Christliche Demokraten in Europa. Sankt Augustin/Berlin 2020.

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