Asset-Herausgeber

Die deutsche Fußballnationalmannschaft holt den ersten Weltmeistertitel. Es ist "das Wunder von Bern"

von Thilo Ernst Pries
Als am 16. Juni 1954 die 5. FIFA Fußball- Weltmeisterschaft begann, ahnte noch niemand, welchen Ausgang dieses Großereignis am 4. Juli nehmen würde. 16 Mannschaften traten gegeneinander an, um in den folgenden 19 Tagen den Weltmeister zu ermitteln.

Asset-Herausgeber

Der Ausgang des Turniers ist bekannt. Die Nationalmannschaft der Bundesrepublik, erst seit 1950 wieder Mitglied der FIFA, trat gegen den haushohen Favoriten auf den Titelgewinn an, die zu diesem Zeitpunkt vier Jahre ungeschlagenen Ungarn. Ein Duell David gegen Goliath. Noch in der Vorrunde gewann die ungarische Auswahl deutlich mit 8:3 und stellte mit Sándor Kacsis auch den besten Torschützen des Turniers. Doch die Bundesrepublik gewann in einem aufregenden Finale mit 3:2 gegen das Team aus Ungarn.

Die Symbolwirkung dieses sportlichen Sieges, nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen sehr entbehrungsreichen Zeit, war enorm. Mythen und Legenden begleiten die Erzählungen zu diesem Ereignis, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wie auch der Ungarn vorhanden ist. Doch während in Deutschland vom „Wunder von Bern“ gesprochen wird, sehen es die Ungarn als nationales Trauma an.

 

Warum die Schweiz?

Nachdem sich die Schweiz bereits auf dem 25. FIFA-Kongress in Luxemburg im Juli 1946 mit den Argumenten der „Neutralität im 2. Weltkrieg“ sowie „Hauptstandort der FIFA“ für die Ausrichtung der WM 1950 bewarb, aber abgelehnt wurde, kam es auf dem FIFA-Kongress in London 1948 zur offiziellen Vergabe. Der eigentlich feststehende Ausrichter Schweden stimmte im Vorfeld einem Tausch mit den Schweizern zu, die 1954 ihr 50-jähriges Jubiläum der Mitgliedschaft in der FIFA feiern würden.

Als Spielorte wurden die sechs Stadien in Basel, Zürich, dem späteren Finalort Bern, sowie Lausanne, Genf und Lugano ausgewählt.

 

Die Ausgangslage

Ein Novum war die Vielzahl der Anmeldungen für die Qualifikationsrunde im Vorfeld der WM. Die Schweiz als Gastgeber sowie Uruguay als Titelverteidiger waren bereits qualifiziert. Hinzu meldeten sich 34 Mannschaften, darunter erstmalig alle großen Nationen bis auf Argentinien an. Die Zusammenstellung der Qualifikationsrunden wurde nach geografischen Gesichtspunkten durch die FIFA beschlossen. Eine durchaus umstrittene Maßnahme.

Die Ungarn, immerhin Sportler der Armee, qualifizierten sich aufgrund des Rückzugs des polnischen Verbandes ohne aktive spielerische Teilnahme. Die Polen traten der Aussichtslosigkeit wegen nicht an, sahen sie doch gegen die damals stärkste Mannschaft der Welt, die im Volksmund „Goldene Mannschaft“ genannt wurde, keine realistische Chance. Die deutschen „Amateure“ unter ihrem Trainer Sepp Herberger qualifizierten sich hingegen regulär als Gruppensieger durch Siege gegen Norwegen und das Saarland und bekamen in der Vorgruppe der Weltmeisterschaft Ungarn, Südkorea und die Türkei zugelost.

 

Die Regeln

Der Modus des Turniers von 1954 ist mit dem heutigen nur bedingt zu vergleichen. Das Torverhältnis war nicht relevant. Bei Punktgleichheit am Ende der Vorrunde gab es ein Entscheidungsspiel. Hätte dies nicht zur Klärung der Verhältnisse geführt, entschied das Los über den Einzug in das Viertelfinale. In der K.O.-Runde gab es nach der Verlängerung des Spiels, hätten 90 Minuten nicht ausgereicht, ebenfalls den Losentscheid. Das Finale hingegen hätte nach einem Unentschieden und einer Verlängerung von zwei mal 15 Minuten neu angesetzt werden müssen. Erst nach einem weiteren Spiel mit eventueller Verlängerung hätte dann das Los entschieden. Ein heute nicht mehr denkbares Szenario. Ein Elfmeterschießen war in den FIFA-Regeln noch unbekannt und wurde erstmals bei der WM 1970 eingesetzt.

 

Die Vorbereitung – Der Geist von Spiez

Sepp Herberger stieg mit seiner Mannschaft im Hotel Belvédère in Spiez am Thuner See ab. Dies gehörte Bekannten des deutschen Co-Trainers Albert Sing, der zeitgleich auch Trainer der Mannschaft „Young Boys“ aus Bern war. In diesem Hotel wurde die Grundlage für die sportliche Leistung der Spieler gelegt. Wunderschön in der Natur gelegen und so für gemeinsame Ausflüge bestens geeignet, wollte der Nationaltrainer Sepp Herberger die Spieler einen. Sie wurden vor der Presse abgeschottet und auch Besuche der Spielerfrauen waren nicht gestattet. Zapfenstreich war um 22 Uhr und es herrschte Bade-, Rauch- und Alkoholverbot. Die Maxime des Nationaltrainers war, dass nur als Gemeinschaft die optimale Leistung abgerufen werden könne. Und wie sich zeigen sollte, funktionierte das von Sepp Herberger geformte Kollektiv der „Elf Freunde“.

 

Das Turnier beginnt

Am 17. Juni 1954 startete die deutsche Mannschaft in die Weltmeisterschaft. Im ersten Gruppenspiel im Berner Wankdorf-Stadion konnte man sich gegen die Türkei mit 4:1 durchsetzen. Das zweite Spiel folgte am 20. Juni im St. Jakob-Park in Basel, welches eine deutsche B-Elf deutlich gegen die favorisierten Ungarn mit 8:3 verlor. Ob dies eine taktische Maßnahme war, so wie es teilweise angedeutet wird, ist nicht eindeutig geklärt. In der Heimat aber kam es zu wütenden Reaktionen. So bekam Herberger Briefe, u.a. einen mit der Aufforderung, er solle „sich besser einen Strick kaufen “.

Doch das von Sepp Herberger wohl einkalkulierte Risiko bedeutete letztlich nur, dass man erneut gegen die Türken zu einem Entscheidungsspiel antreten musste. Dieses gewann man deutlich mit 7:2 und zog in das Viertelfinale ein.

Die Ungarn hingegen gewannen alle Spiele der Vorgruppe souverän mit einem Torverhältnis von 17:3 und kamen ihrer Favoritenrolle eindrucksvoll nach.

 

Die K.O.-Runde

Der nächste Gegner der Deutschen hieß Jugoslawien. Schon in dieses Spiel ging die deutsche Mannschaft als deutlicher Außenseiter, doch konnten die Spieler von Sepp Herberger von einem Eigentor der jugoslawischen Mannschaft in der Anfangsphase profitieren. In der Folge versuchten die Jugoslawen ihre spielerischen Übermacht zu nutzen, konnten aber die deutsche Defensive und vor allem Torwart Toni Turek nicht überwinden. Letztlich war es ein Konter in der Schlussphase, bei dem das vorentscheidende 2:0 durch Helmut Rahn erzielt wurde. Dieses Spiel ging als Abwehrschlacht in die Geschichte ein und war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Titel.

Das folgende Halbfinale gegen Österreich, die zuvor die gastgebenden Schweizer mit dem eher seltenen Ergebnis von 7:5 besiegten, wurde deutlich gewonnen. 6:1 hieß es nach 90 Minuten und, die kleine Sensation, der Einzug in das Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954, war perfekt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Auswahl nichts mehr zu verlieren und konnte im Finale befreit aufspielen. Die Ungarn mussten im Halbfinale gegen den Titelverteidiger Uruguay den Umweg über die Verlängerung nehmen und hatten so zumindest einen kleinen Nachteil. Dennoch blieb die ungarische Mannschaft, nicht nur aufgrund des Ergebnisses im Hinspiel, der Favorit auf den Titelgewinn.

 

Das Finale von Bern

Am 4. Juli war es soweit. Nachdem sich am Tag zuvor die Österreicher durch einen 3:1-Sieg über Uruguay den dritten Platz sicherten, trafen nun die beiden Nationalmannschaften der Bundesrepublik und Ungarns erneut aufeinander. In der Halbzeit berichtet Radiokommentator Herbert Zimmermann davon, dass von ca. 40 Reporterkollegen nur einer der deutschen Mannschaft einen Sieg zutrauen würden. Und zunächst sah es auch nicht nach einem Sieg aus. Bereits nach acht Minuten lagen die Spieler von Sepp Herberger mit 0:2 hinten, hatten den Rückstand aber bereits in der 18. Minute wieder egalisiert. Die Ungarn waren lange Zeit überlegen, doch Helmut Rahn schoss letztlich das entscheidende und viel umjubelte Tor für die deutsche Auswahl. Die Ungarn konnten zwar den vermeintlichen Ausgleich erzielen, doch wurde das Tor wegen einer angeblichen Abseitsstellung nicht anerkannt. Mittlerweile ist bekannt, dass dies eine Fehlentscheidung war.

Die Worte, die der Radiokommentator Herbert Zimmermann im Zusammenhang mit dem Tor sprach, sind so berühmt wie das Ereignis selbst: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“ . Nach dem Abpfiff waren die Emotionen deutlich zu hören: „Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwo Toren im Finale in Bern!“.

Die deutsche Nationalmannschaft konnte auch dem Wetter danken. Es war ein Tag, an dem es ohne Unterlass regnete. Der Begriff „Fritz-Walter-Wetter“ wurde geboren. Fritz Walter, als Spielmacher die wichtigste Person des Teams, spielte tatsächlich bei Regen besser, litt er doch unter der Malaria, die besonders bei warmen Temperaturen dessen Leistungsfähigkeit stark verminderte. Zusätzlich gab es erstmals Schraubstollen, die nur den deutschen Spielern zur Verfügung standen und jedem Wetter angepasst werden konnten. Der Regen, die bessere Vorbereitung und das moderne Material sowie die Leidenschaft des Teams waren letztlich ausschlaggebend für die erste Niederlage der Ungarn seit dem 14. Mai 1950 und den Gewinn der Weltmeisterschaft.

 

Die Heimkehr

Nach dem Sieg wurden die Spieler noch im Stadion frenetisch gefeiert. Einige, so auch der Trainer Sepp Herberger, wurden auf Schultern getragen. Nach der Übergabe des, 1946 nach dem damaligen Präsidenten der FIFA benannten Pokals, „Coupes Jules Rimet“, wurde die deutsche Nationalhymne gespielt. Doch anstatt die dritte Strophe zu singen, gaben die 30.000 deutschen Stadionbesucher die erste Strophe wider. Ob dies bewusst geschah, oder wie auch geschrieben wurde, entweder aus Unkenntnis der dritten Strophe oder aber im Überschwang der Gefühle, bleibt fraglich. Es sorgte jedoch damals für erhebliche Irritationen in Europa.

Nach der Siegerehrung zog sich das Team ins Hotel zurück. Bereits am nächsten Morgen fuhr man mit dem Triebwagen und der „Aufschrift Fußballweltmeister 1954“ von Spiez bis nach Lindau und weiter nach München. Unterwegs wurde oft angehalten und überall wurde die Mannschaft zu ihrer Leistung beglückwünscht. Es sollen insgesamt ca. 1.000.000 Menschen am Rand der Strecke gewartet haben, um die Mannschaft zu empfangen. Nicht nur die Stadionbesucher hatten den Erfolg erleben dürfen. Die Weltmeisterschaft 1954 wurde erstmals auch im Fernsehen übertragen. Und obwohl in Westdeutschland nur wenige das Privileg hatten und ein TV-Gerät besaßen, verfolgten das Finale sehr viele Zuhörer am Radiogerät.

 

Historische Aufarbeitung

Im Jahr 2010 wurde eine Studie zu Doping in Deutschland an der Universität Leipzig vorgestellt. Auch im Blickpunkt waren die Wochen der Weltmeisterschaft 1954, insbesondere des Endspiels in Bern. Im Abfluss gefundene Glasampullen, eine innerhalb des deutschen Teams verbreitete Hepatitis-Krankheit seien Anzeichen für verabreichte und unsaubere Spritzen, dies wiederum ein Hinweis für Doping, heißt es dort. Es ist nicht zweifelsfrei zu belegen, doch die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass nicht nur Vitamin C zugeführt wurde, sondern das Amphetamin Perventil, so Erik Eggers. Zudem habe es frühe Todesfälle gegeben, die sehr wahrscheinlich auf eine Hepatitis der betroffenen Spieler schließen lassen.

Es ist an dieser Stelle nicht die Aufgabe diese Umstände zu bewerten. Doch müssen die Fragen gestellt werden: Was führte zum WM-Triumph? War es das Regenwetter, das dem Spielstil der deutschen Mannschaft Vorteile brachte? Waren es die neuartigen Schraubstollen? War es die Überheblichkeit der Ungarn nach dem 8:3 Sieg im Vorrundenspiel? Oder war es eben ein leistungssteigerndes Mittel?

Auch wenn die Fragen unterschiedlich beantwortet werden, ein Fußballwunder wird dieser sportliche Sieg im kollektiven Gedächtnis der Deutschen dennoch bleiben, auch weil der Sieg seit nunmehr 70-Jahren so stilisiert wird. Ein Aufbruch nach einer schweren Zeit und der Beginn aller folgenden sportlichen Erfolge der deutschen Nationalmannschaft bis heute.

 

Das nationale Trauma der Ungarn

Die Favoritenrolle der Ungarn, die auch durch die erspielten Ergebnisse vor und während der Weltmeisterschaft deutlich wurde, hatte sich im Selbstverständnis der ungarischen Bevölkerung festgesetzt. Alles andere als ein Titelgewinn war nicht denkbar. Umso deutlicher führte die überraschende Niederlage zu einer kollektiven Enttäuschung, einer Trauer, die nur zu verstehen ist, wenn man sich dieser Favoritenrolle bewusst ist. In Zahlen bedeutet dies, dass seit 1950 kein Spiel mehr verloren wurde. In 32 Spielen, die im Zeitraum von 1950-1954 stattfanden, wurde ein Torverhältnis von 144:33 erzielt, was immerhin 4,5 Tore pro Spiel bedeutet.

Der Sieg gegen die deutsche Nationalmannschaft, die man bereits deutlich besiegt hatte, schien also nur Formsache zu sein. Und doch verlor man das Spiel, wenn auch äußerst knapp. Diese Niederlage wird bis heute als „nationales Trauma“ verstanden.

Auch die politische Situation in Ungarn, in der durch das kommunistische Regime Angst und Repression die täglichen Begleiter der Bevölkerung waren, wird Fußball, insbesondere die Identifizierung mit der „Goldenen Mannschaft“, als fast einzige Möglichkeit zur Artikulierung von Gefühlen gesehen. Die ungarische Nationalelf war so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Herrschern und Beherrschten in Ungarn.

So kam es im Anschluss an die Niederlage zu massiven Ausschreitungen, die zwar in der Unzufriedenheit der Bevölkerung ihre Ursache hatten, der Auslöser aber in der sportlichen und damit wohl auch politischen Niederlage lag.

Die Weltmeisterschaft 1954 hatte also für zwei unterschiedliche Gesellschaften nicht nur unterschiedliche Ergebnisse, sondern auch unterschiedliche Konsequenzen. Noch heute, 70 Jahre nach diesem Ereignis, existiert eine differenzierte Wahrnehmung der Geschehnisse in Deutschland und Ungarn. Stolz und Enttäuschung, Freude und Trauer, Aufbruch und Stagnation.

 

Asset-Herausgeber