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Beginn der „Spiegel-Affäre“

von Michael Mische , Hans-Paul Höpfner
Im letzten Quartal 1962 hielt die „Spiegel-Affäre“ Deutschlands Öffentlichkeit für lange Wochen in Atem. Sie war eine Affäre, die es so in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hatte und die das politische Klima veränderte. Sie blieb auch juristisch und medienrechtlich nicht ohne Folgen: Nach der Affäre fällte das Bundesverfassungsgericht ein Grundsatzurteil, mit dem die Verantwortung der Presse für die demokratische Meinungsbildung noch einmal genauer definiert und die Voraussetzungen für die Pressefreiheit in der Bundesrepublik festgeschrieben wurden.

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Bedingt abwehrbereit

Der Anlass der Spiegel-Affäre war ein Artikel mit der Überschrift „ Bedingt ab-wehrbereit“, federführend vom Stellvertretenden Chefredakteur Conrad Ahlers verfasst, veröffentlich in der Ausgabe Nr. 41 des Magazins „Der Spiegel“ am 10.Oktober 1962. Die in dem Artikel zusammengeführten Informationen über das Nato-Manöver „Fallex 1962“ wiesen weit über eine normale Manöver-Reportage hinaus. So enthielt der Artikel eine pointierte Zusammenfassung des politischen Streits um eine nukleare oder rein konventionelle Bewaffnung West-Deutschlands, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Konsequenzen. Auch die Positionen der NATO und der Vereinigten Staaten wurden beschrieben, die offen-sichtlich im Gegensatz zu der Auffassung des deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß standen: „Straußens Demagogie empörte die Amerikaner, die deutschen Heeresgeneräle erschreckte sie. Trotzdem besteht Strauß auf seinen Raketen und entschied entgegen den Forderungen der Nato: 500.000 Mann sind genug.“

Diese Passage des Spiegel-Artikels verweist auf die politischen Hintergründe und die besondere Brisanz der Affäre. Im Kern ging es dabei um die Befürwortung einer nuklearen Teilhabe der deutschen Streitkräfte durch Bundesverteidigungsminister Strauß. Die NATO, die US-Regierung unter John F. Kennedy sowie Teile des Generalstabs der Bundeswehr befürworteten dagegen zur Abwehr eines möglichen Angriffs des Warschauer Pakts die sogenannte Strategie des Flexible Response: Also ein Ausbau der konventionellen Truppenstärke zur Ermöglichung einer stufenweise abgestimmten militärischen Reaktion in Ergänzung bereits vorhandener konventioneller und atomarer Potentiale.

Der Artikel von „Conny“ Ahlers blieb sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in politischen Insider-Kreisen zunächst weithin unbeachtet. Erst nachdem Friedrich Freiherr von der Heydte, CSU-Mann und Völkerrechtler an der Universität Würzburg, den „Spiegel“ wegen des „Fallex 62“- Artikels und weiterer sechs „anrüchiger“ Beiträge wegen „Landesverrates“ anzeigte, kam die Affäre ins Rollen. Entscheidend war hierbei, dass Teile der Bundesregierung die Vorwürfe von der Heytes bejahten und untermauerten. Am 23. Oktober 1962 beantragte schließlich die Bundesanwaltschaft, gestützt auf ein Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums, die Durchsuchung der Spiegel-Redaktion sowie Haftbefehle gegen mehrere Redakteure, darunter Conrad Ahlers, Claus Jacobi und Johannes K. Engel, sowie den Herausgeber und Chefredakteur des Blatts, Rudolf Augstein, beim Bundesgerichtshof.

 

Die Dinge nehmen ihren Lauf

Drei Tage später, am Abend des 26.Oktober 1962 lief daraufhin eine Polizeiaktion an, die in der Bundesrepublik bislang ohne Beispiel war. Die Redaktionsräume des „Spiegel“ wurden von der „Sicherungsgruppe Bonn“ des Bundeskriminalamtes gestürmt, Unterlagen beschlagnahmt und die Redaktionsräume versiegelt. Claus Jakobi und Johannes Engel wurden festgenommen und die Privatwohnungen der Chefredakteure wurden durchsucht. Am Mittag des darauf folgenden Tages wurde auch Rudolf Augstein, der sich inzwischen freiwillig gestellt hatte, verhaftet. Als besonders folgenreich sollte sich später die Festnahme von Conrad Ahlers an seinem Ferienort in Spanien erweisen. Mit der Begründung, es bestehe Fluchtgefahr, hatte Franz Josef Strauß im Namen des Bundeskanzlers den deutschen Militärattaché in Madrid angewiesen, Ahlers festnehmen zu lassen. Zur Begründung ließ die Bundesanwaltschaft verlautbaren, dass mehrere Mitarbeiter des „Spiegel“ wegen des Verdachts des Landesverrates, der landesverräterischen Fälschung und der aktiven Bestechung festgenommen worden seien. Als Anlass wurden die Artikel des Magazins erwähnt, die sich mit wichtigen Fragen der Landesverteidigung in einer Art und Weise befassten, die den Bestand der Bundesrepublik sowie die Sicherheit und die Freiheit des deutschen Volkes gefährdeten.

 

Konsequenzen

Bei der Gewichtung der Facetten der „Spiegel“-Affäre stellt sich die Frage: Was eigentlich war die „Spiegel“-Affäre genau? Ging es dabei möglicherweise um eine schon länger währende Fehde zwischen Franz-Josef Strauß und Rudolf Augstein? Oder hat die Staatsanwaltschaft in der damaligen Kuba-Krise, als ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion unmittelbar bevorzustehen schien, überreagiert? Benutzte die Bundesregierung die Staatsanwaltschaft, um ein kritisches und missliebiges Presseorgan auszuschalten?

Zumindest einen Fall von Grenzüberschreitung beging jedenfalls Verteidigungsminister Strauß, als er Conrad Ahlers, den Autor des inkriminierten Artikels, in Spanien unter Berufung auf den Bundeskanzler festnehmen ließ. Inzwischen rumorte es nicht nur in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der FDP, sondern auch in der Öffentlichkeit kam es, angeführt von Intellektuellen, Professoren, Studenten und Gewerkschaften, zu Protesten. Entgegen einer früheren Behauptung, mit der Sache nichts zu tun zu haben, musste Strauß vor dem Bundestag später zugeben, höchst persönlich für die Festnahme von Ahlers in Spanien gesorgt zu haben. Selbst Parteifreund Herman Höcherl als Innenminister sah sich genötigt zuzugeben, dass sich die Festnahme von Ahlers außerhalb der Legalität vollzogen habe.

In der zunehmend aufgeheizten Öffentlichkeit avancierte Strauß nun zum Buhmann in Sachen Pressefreiheit. Die FDP-Fraktion zog am 19. November ihre Minister aus dem Kabinett Adenauer zurück, weil Justizminister Wolfgang Stamm-berger zu keinem Zeitpunkt zu Rate gezogen worden war. Zuvor hatte Bundeskanzler Adenauer am 7. November während der dreitägigen Fragestunde des Bundestages, die zumindest aus parlamentarischer Sicht den eigentlichen Höhe-punkt der Affäre bildete, in der Causa „Spiegel“ von einem „Abgrund von Landesverrat“ gesprochen und sich damit hinter Strauß gestellt. Zuletzt jedoch formulierten die CDU/CSU-Fraktion und Adenauer am 29. November einen Beschluss, der Strauß letztlich zum Rückzug zwang: „Der Bundeskanzler hat im Einzelfall keine Weisung erteilt. Das gilt auch für die Nicht-Unterrichtung des Justizministers.“

Am folgenden Tag trat Strauß als Verteidigungsminister zurück und am 14. Dezember 1962 wurde die fünfte und letzte Regierung Adenauer gebildet. Gleichzeitig kündigte Adenauer für den Herbst 1963 seinen Rücktritt als Bundeskanzler an. Angesichts der Dimensionen der Affäre ist aber in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Rudolf Augstein im Vorfeld des Kanzler-Rücktritts am 9. Oktober 1963 ein Sonderheft des „Spiegels“ vorgelegt und damit die Lebensleistung dieses großen Politikers durchaus angemessen gewürdigt hat.

Den juristischen Schlusspunkt der „Spiegel“-Affäre“ bildete erst das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. August 1966. Dieses Urteil wies über den konkreten Anlass weit hinaus und war wegweisend für die rechtliche und gesellschaftliche Absicherung der Pressefreiheit in Deutschland – es formulierte allerdings ebenfalls präziser als das zuvor der Fall war die Grenzen der Pressefreiheit, falls diese mit anderen schützenswerten Rechtsnormen in Konflikt gerät. Alle an der „Spiegel“-Affäre beteiligten Journalisten wurden freigesprochen.


Auszug aus dem Urteil des BVerfG vom 13. August 1966:​​​​​​​

Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung. In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. (…)

3. Die Pressefreiheit birgt die Möglichkeit in sich, mit anderen, vom Grundgesetz geschützten Werten in Konflikt zu geraten; es kann sich dabei um Rechte und Interessen Einzelner, der Verbände und Gruppen, aber auch der Gemeinschaft selbst handeln.(…)

4. (…) Der Schutz des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland nach außen, den die Strafrechtsnormen über den Landesverrat bezwecken, gerät mit der Pressefreiheit in Konflikt, wenn die Presse Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse veröffentlicht, deren Geheimhaltung dem Interesse der Landesverteidigung entsprechen würde. Dieser Konflikt kann nicht von vornherein und allgemein mit der Begründung gegen die Pressefreiheit entschieden werden, diese habe den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zur notwendigen Voraussetzung und gehe mit dessen Verlust auch selbst zugrunde. Denn unter dem Bestand der Bundesrepublik Deutschland, den es zu schützen und zu erhalten gilt, ist nicht nur ihr organisatorisches Gefüge, sondern auch ihre freiheitliche demokratische Grundordnung zu verstehen. Dieser ist es eigen, daß die Staatsgeschäfte, einschließlich der militärischen, zwar von den hierfür zuständigen staatlichen Organen geführt werden, aber der ständigen Kritik oder Billigung des Volkes unterstehen.

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