Asset-Herausgeber

Länderberichte

Die Politische Union nimmt Gestalt an

von Dr. jur. Stefan Gehrold, Joscha Ritz, Dr. Olaf Wientzek

Analyse des Europäischen Rats vom 8. und 9. Dezember 2011

Die Staats- und Regierungschefs haben auf ihrer Tagung am 8./9. Dezember 2011 erste Schritte in eine politische Union unternommen. Zum einen wurde das Regelwerk zur Förderung von Haushaltsdisziplin und wirtschaftlicher Konvergenz fixiert, das in einen zwischenstaatlichen Vertrag gegossen werden soll – vorerst ohne Großbritannien. Zum anderen verstärkten die Staats- und Regierungschefs das Kriseninstrumentarium. Der integrationspolitische Fortschritt kommt jedoch nicht ohne Risiken: Zahlreiche politische und rechtliche Hürden sind noch zu überwinden.

Asset-Herausgeber

Am Rande des Gipfels unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs den Beitrittsvertrag mit Kroatien. Serbien und Montenegro konnten die nächste Etappe auf dem Weg zum EU-Beitritt noch nicht beschreiten.

1. Durchbruch bei der Stabilisierung der Währungsunion – trotz vielen Fragezeichen

Strittig war die Wahl des rechtlichen Instrumentariums zur Förderung von Haushaltsdisziplin und wirtschaftlicher Konvergenz. Die Mitgliedstaaten einigten sich auf einen zwischenstaatlichen Vertrag 17+: die 17 Eurostaaten plus interessierte Nicht-Eurostaaten. Von den zehn Nicht-Eurostaaten erklärten neun ihr Interesse, teilzunehmen; Tschechien, Schweden und Ungarn wollen noch ihre Parlamente konsultieren; nur Großbritannien schloss seine Unterschrift aus. Für eine Änderung der Europäischen Verträge gab es keinen Raum. Dies wäre nur einstimmig möglich gewesen. Großbritannien stellte eine für die anderen 26 Mitgliedstaaten inakzeptable Bedingung: ein britisches Veto bei der EU-Finanzmarktregulierung.

In der Substanz bestand weitgehend Einigkeit. Haushaltdisziplin und wirtschaftliche Konvergenz sollen mit Hilfe einer europäischen Schuldenbremse, mehr Automatismus im Defizitverfahren und verstärkter Koordinierung in der Eurozone erreicht werden. Zur Krisenbewältigung soll die Europäische Zentralbank (EZB) die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF) mit ihrer Expertise unterstützen; der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) soll ein Jahr früher als geplant im Juli 2012 die Arbeit aufnehmen; eine Erhöhung der Krisenmittel des IWF um 200 Milliarden Euro wird geprüft; die Beteiligung des Privatsektors an der Sanierung von Schuldenstaaten erfolgen künftig nur noch nach den Grundsätzen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und im Ernstfall entscheidet der ESM mit einer qualifizierten Mehrheit von 85%.

Einigkeit in der Substanz – 11 Punkte zur Stabilisierung des Euro

Auf Initiative des Präsidenten des Europäischen Rats, Hermann Van Rompuy, verlief die Tagung der Staats- und Regierungschefs in zwei Abschnitten: Zuerst wurde die Substanz, dann das rechtliche Instrumentarium zur Umsetzung diskutiert. Auf dem Tisch lagen zwei Vorschläge: Zum einen ein Bericht Van Rompuys, zum anderen der Brief Bundeskanzlerin Angela Merkels und Staatspräsident Nicolas Sarkozys an Van Rompuy vom 7. Dezember 2011.

Zu den Inhalten im Einzelnen:

  1. Zur Stärkung von Haushaltsdisziplin und wirtschaftlicher Konvergenz beschloss man eine europäische Schuldenbremse: Die 17+ verpflichteten sich zur Aufnahme von Haushaltsvorschriften in die nationalen Verfassungen oder vergleichbares Recht nach dem Vorbild der deutschen Schuldenbremse. Konkret: Das strukturelle Defizit, d.h. der Teil des Defizits, der nicht auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen ist, darf 0.5% des BIP nicht überschreiten. Erfolgt eine Abweichung, wird ein automatischer Korrekturmechanismus ausgelöst, der den betroffenen Mitgliedstaat wieder auf den Pfad solider Haushaltspolitik zurückführen soll. Die Europäische Kommission wurde beauftragt, entsprechende Grundsätze auszuarbeiten. Fest steht bereits, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Umsetzung der Haushaltsvorschriften in das nationale Recht überwachen wird. Deutschland konnte sich nicht mit der Forderung durchsetzen, dass der EuGH auch die Einhaltung der nationalen Haushaltsvorschriften kontrolliert.
  2. Das Verfahren zur Rückführung eines übermäßigen Defizits und zum Schuldenabbau wird verschärft. Zum einen wird das Verfahren automatischer und damit effektiver. Über jeden Verfahrensschritt entscheidet der Ministerrat mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Europäischen Kommission; d.h. die Mitgliedstaaten müssen einer Empfehlung der Kommission nicht mehr aktiv zustimmen, sondern eine Entscheidung gilt als getroffen, wenn die Mitgliedstaaten sich in einem bestimmten Zeitrahmen nicht mit qualifizierter Mehrheit dagegen ausgesprochen haben. Die bisherige Praxis: In über 60 Fällen waren Defizitsünder vertragswidrig nicht mit Sanktionen belegt worden. Hauptgrund: Die Mitgliedstaaten schreckten aus diplomatischen Gründen davor zurück, einander zu bestrafen. Dem neuen Entscheidungsmodus liegt folgende Logik zugrunde: Sanktionen werden wahrscheinlicher, wenn Mitgliedstaaten sich nicht mehr aktiv untereinander bestrafen müssen, sondern passiv bleiben können. Quasi-automatische Sanktionen sah bereits die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor. Dr. Merkel betonte jedoch am Rande des Gipfeltreffens, der Pakt wäre in der Vergangenheit zu oft gebrochen worden und habe damit an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Dies erforderte einen neuen, schwieriger zu ändernden Vertrag.
  3. Defizitsünder müssen künftig gemeinsam mit der Kommission ein Wirtschaftspartnerschaftsprogramm, d.h. ein Programm für Strukturreformen zur Senkung des Staatsdefizits, ausarbeiten. Das Partnerschaftsprogramm bedarf der Zustimmung von Kommission und Ministerrat und wird durch sie überwacht. Das schränkt im Falle unsolider Haushaltspolitik die wirtschafts- und finanzpolitische Souveränität der Mitgliedstaaten durch Kontrolle der EU-Organe künftig nicht erst bei drohender Zahlungsunfähigkeit, sondern deutlich früher ein. Zudem verabredeten die Staats- und Regierungschefs, die Verordnungsvorschläge der Kommission vom 23. November zügig zu prüfen. Dabei geht es primär um harmonisierte und abgestufte Berichtspflichten sowie um verstärkte Kontrolle durch die Kommission von Defizitstaaten und Eurostaaten unter EFSF bzw. ESM.
  4. Verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung der Eurostaaten: Zentrale wirtschaftspolitische Reformpläne sollen künftig vermehrt abgestimmt werden. Eine Vorlage eines entsprechenden Verfahren befindet sich in Vorbereitung.
  5. Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone treffen sich während der Krise in monatlicher Frequenz, um insbesondere Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zu beraten. Dies stärkt die Eurozonengovernance zusätzlich zu den bereits im Oktober gefassten Beschlüssen weiter.
  6. Bis zum Frühjahrsgipfel des Europäischen Rats wird Ratspräsident Van Rompuy den Bericht über weitere Schritte zur Förderung von Haushaltsdisziplin und wirtschaftlicher Konvergenz finalisieren. In diesem Zusammenhang könnten auch Eurobonds und die Finanzierung der EFSF durch die EZB wieder auf den Tisch kommen. Van Rompuy, der als Präsident des Europäischen Rats die Interessen aller Mitgliedstaaten berücksichtigen muss, hatte diese Elemente bereits in seinen Zwischenbericht aufgenommen. Damit unterstrich Van Rompuy auch seine Unabhängigkeit von Deutschland: Die Bundesregierung hatte eine Diskussion darüber zum jetzigen Zeitpunkt abgelehnt. In der Diskussion der Staats- und Regierungschefs wurde jedoch deutlich, dass auch Befürworter Eurobonds nur als letzten Schritt eines Prozesses zur Stärkung von Haushaltsdisziplin verstehen.
  7. Zur Stärkung des Kriseninstrumentariums gingen die Staats- und Regierungschefs auf das Angebot Draghis ein, die Kompetenz der EZB der EFSF zur Verfügung zu stellen. Am Rande des Gipfeltreffens wurden jedoch Divergenzen in der Interpretation deutlich: Während Merkel berichtete, die EZB werde die EFSF durch ihre Expertise und technischen Möglichkeiten unterstützen, sprach Sarkozy von einer Steuerung der EFSF durch die EZB. Im Gegensatz zu Merkel strebt Sarkozy eine zentralere Rolle der EZB in der Krisenbewältigung an. Die gänzliche Unabhängigkeit der EZB von politischen Einflüssen ist für die Bundesregierung nicht verhandelbar.
  8. Der ESM-Vertrag tritt bereits ein Jahr früher als geplant im Juli 2012 in Kraft. Im Vergleich zur EFSF hat der ESM insbesondere den Vorteil, dass alle Eurostaaten einzahlen, sodass dem ESM Kapital zur Verfügung steht. Obwohl damit die EFSF und der ESM parallel laufen werden, soll die Gesamtkapazität 500 Milliarden nicht übersteigen. Zudem soll auf dem Frühjahrsgipfel 2012 über eine erneute Aufstockung der Rettungsschirme beraten werden. Merkel brachte am Rande des Gipfeltreffens jedoch bereits ihre Ablehnung zum Ausdruck. Darauf hatte insbesondere Finanzminister Dr. Schäuble hingewirkt.
  9. Binnen zehn Tagen entscheidet die Eurozone über die Aufstockung der Krisenmittel des IWF um 200 Milliarden Euro. Für diesen Fall sicherte IWF-Chefin Christine Lagarde den Staats- und Regierungschefs zu, sich bei Drittstaaten ebenfalls für zusätzliche Finanzspritzen stark zu machen. Der IWF spielt bei der Sanierung finanzieller Eurostaaten nicht nur durch zusätzliche Finanzmittel, sondern insbesondere durch seine Expertise eine zentrale Rolle.
  10. Privatgläubigerbeteiligung soll in der Eurozone künftig nur noch nach den Regeln des IWF möglich sein. Einen umfassenden Schuldenschnitt wie im Falle Griechenlands soll es künftig nicht mehr geben. Ziel ist die Vermeidung der Benachteiligung der Eurozone im Wettbewerb um Investoren gegenüber Drittstaaten. Frankreich und Deutschland hatten sich auf diesen Kompromiss im Vorfeld des Europäischen Rats geeinigt.
  11. In Ausnahmefällen entscheidet der ESM mit einer qualifizierten Mehrheit von 85%. Voraussetzung: Kommission und EZB kommen zu dem Schluss, dass die Stabilität der Eurozone gefährdet ist. Damit sind künftig Entscheidungen auch gegen die Stimmen einzelner Mitgliedsstaaten möglich.

Differenzen in der Wahl des Instrumentariums

Differenzen bestanden hinsichtlich der Wahl des rechtlichen Instruments zur Verankerung der Fiskalunion. Die Bundesregierung hatte sich bereits einige Monate vor dem Gipfel darauf festgelegt, dass eine Änderung der Europäischen Verträge nach dem ordentlichen Vertragsänderungsverfahren, d.h. unter Einberufung eines Konvents und einer Konferenz der Regierungsvertreter, notwendig sei. Diese Änderung sollte sich ausschließlich auf die Förderung von Haushaltsdisziplin beschränken (sektoral begrenzt) und innerhalb eines Jahres (zeitlich begrenzt) abgeschlossen sein. Ziel: Die Wiederherstellung des Vertrauens der Finanzmärkte in die europäische Politik durch verbindliche und durchsetzbare Regeln. Mehr Geld werde die strukturelle Krise in zahlreichen Eurostaaten langfristig nicht lösen – so die Auffassung Merkels. In der EU und in zahlreichen anderen Mitgliedstaaten war diese Forderung auf Kritik gestoßen. Hauptkritikpunkt: Die von Deutschland angestrebte Vertragsänderung koste zu viel Zeit und wäre daher für die Bewältigung der aktuellen Krise ungeeignet.

Vor diesem Hintergrund hatte der Präsident des Europäischen Rats einen Kompromissvorschlag unterbreitetet: eine Änderung des Protokolls 12 zum Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, die über eine einstimmige Entscheidung aller 27 im Ministerrat gemäß Art. 126 AEUV möglich wäre. Darüber hinaus könnten Änderungen des Art. 126 AEUV im vereinfachten Änderungsverfahren, d.h. via einstimmigen Beschlusses im Europäischen Rat, sowie durch EU-Gesetze erfolgen. Dieser Vorschlag war in der Vorbereitung des Gipfeltreffens auf breite Unterstützung unter den Mitgliedstaaten gestoßen. Die Bundesregierung hatte ein solches Vorgehen jedoch erstaunlich scharf als juristischen Trick aus Brüssel zurückgewiesen.

Sowohl der Vorschlag der Bundesregierung als auch der Vorschlag Van Rompuys erforderten die Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedstaaten. Der Britische Premier David Cameron hatte jedoch bereits bei seinem Besuch bei Merkel am 18. November 2011 Bedingungen für seine Zustimmung genannt: die Rückkehr zur Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten bei der EU-Finanzmarktregulierung; ein Veto für Nicht-Eurostaaten für Maßnahmen in der Eurozone sowie ein Opt-out Großbritanniens für große Teile der EU-Sozialpolitik. Obwohl die anderen Mitgliedstaaten diese Bedingungen als inakzeptabel abgelehnt hatten, insistierte Cameron bis zuletzt auf einem Veto Großbritanniens bei der EU-Finanzmarktregulierung.

Vor diesem Hintergrund stellte ein zwischenstaatlicher Vertrag die einzige Option dar. Der juristische Dienst des Rates gab ebenfalls grünes Licht für diesen Weg. Insbesondere Van Rompuy und Merkel setzten sich dafür ein, dass der Vertrag offen gegenüber Nicht-Eurostaaten bleibt: Die Formulierung 17+ bringt dies zum Ausdruck. Interessierte Nicht-Eurostaaten sollen nun auch in die Ausarbeitung des Vertrages einbezogen werden. Es bleibt abzuwarten, ob über die sechs Nicht-Eurostaaten hinaus, die ihre Unterschrift bereits zugesagt haben, auch Tschechien, Schweden und Ungarn nach Konsultation ihrer Parlamente teilnehmen werden.

Die Ausarbeitung des zwischenstaatlichen Vertrags soll bis März 2012 abgeschlossen sein. Die Bundesregierung strebt eine Zusammenfassung des Regelwerks der Fiskalunion und des ESM in einem Vertragstext an. Anschließend muss der Vertrag noch in den Mitgliedstaaten nach den jeweiligen innerstaatlichen Verfahren ratifiziert werden. Zudem gilt es den Vertrag schnellstmöglich in die Europäischen Verträge zu überführen.

Anmerkungen

Der Europäische Rat vom 8./ 9. Dezember war bereits das achte Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 27 bzw. 17 im Jahr 2011. Im Mittelpunkt der Gipfeltreffen stand stets die Stabilisierung der Eurozone. Dabei wurde u.a. der Euro-Plus-Pakt zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit verabredet, die Arbeiten zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts begleitet und die Stärkung der Rettungsschirme beschlossen. Kein Gipfeltreffen wird jedoch so umfassende Auswirkungen auf den weiteren Integrationsprozess haben wie der Dezembergipfel. Daher lohnt es sich, einige Aspekte der Tagung in Perspektive zu setzen.

Die Parallelität von Europäischen Verträgen und dem neuen zwischenstaatlichen Vertrag bringt zahlreiche juristische Schwierigkeiten mit sich. Problematisch ist z.B. die künftige Rolle der EU-Organe im Integrationsprozess. Der britische Premier David Cameron forderte bereits am Rande des Gipfels, die Organe müssten sich weiterhin auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren. Merkel und Sarkozy argumentierten hingegen mit Verweis auf entsprechende Aussagen des juristischen Dienstes des Rats, die EU-Organe ließen sich auch für die Zusammenarbeit in einem zwischenstaatlichen Vertrag nutzen. Kommission und EuGH erhielten durch den zwischenstaatlichen Vertrag keine neuen Kompetenzen, sondern bestehende Zuständigkeiten würden hinlänglich erweitert. Zudem wäre eine Einbindung der EU-Organe bereits deshalb wichtig, weil der zwischenstaatliche Vertrag schnellstmöglich in die Europäischen Verträge überführt werden solle – so Merkel. Derweil ist nicht zu erwarten, dass Großbritannien eine Einbeziehung der Organe in die Zusammenarbeit der 17+ blockieren wird: Der diplomatische Schaden wäre wohl zu groß.

Der angestrebte zwischenstaatliche Vertrag wird politisch verbindlich, rechtlich jedoch nur begrenzt durchsetzbar sein. Hintergrund: Europäisches Recht hat Vorrang vor internationalem Recht, d.h. die Europäischen Verträge werden Vorrang vor dem zwischenstaatlichen Vertrag haben. Parallel zu den Regeln des zwische nstaatlichen Vertrages werden die Vorschriften der Europäischen Verträge zum Defizitverfahren fortbestehen. Mithin könnte ein Defizitsünder, der auf Grundlage des zwischenstaatlichen Vertrages sanktioniert wird, unter gewissen Voraussetzungen vor dem EuGH gegen die Sanktionen klagen. Wird dieser dann die Klage mit Hinweis auf den Rechtsgrundsatz des „venire contra factum proprium“ zurückweisen? Immerhin hatte der „Sünderstaat“ durch die Unterschrift unter den zwischenstaatlichen Vertrag doch sein Einverständnis mit dem Vorgehen erklärt. Zu wünschen wäre, dass ein solcher Fall nicht eintritt. Zum einen könnte das von den Finanzmärkten als Signal für mangelnde finanzpolitische Solidität gewertet werden: Der betroffene Mitgliedstaat müsste höhere Renditen fürchten. Zum anderen sollte der politische Druck unter den Staats- und Regierungschefs einen Bruch der vereinbarten Regeln verhindern. Eines wird jedoch durch die Diskussion über die rechtlichen Implikationen deutlich: Langfristig kann nur eine Überführung der neuen Regeln in die Europäischen Verträge die rechtliche Durchsetzbarkeit und damit das Vertrauen in die Fiskalunion sicherstellen.

Noch ein Wort zur „Scheidung zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich“ (Kommentar eines Beobachters). Die Trennung hat sich über die letzten Monate schleichend vollzogen. Das Auseinanderdriften zwischen Großbritannien und dem Rest der EU ist primär für Großbritannien problematisch. Die Isolation Großbritanniens innerhalb der EU dürfte künftig noch weiter voranschreiten. Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der 17+ künftig monatlich treffen, soll es um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit gehen. Es ist davon auszugehen, dass dabei auch Reformen in Politikbereichen thematisiert werden, die für die britische Wirtschaft von Bedeutung sind. In diesem Zusammenhang könnte auch die Finanzmarktregulierung auf den Tisch kommen. Der niederländische Premier, Mark Rutte, sicherte Cameron zwar zu, innerhalb der 17+ würden keine Beschlüsse zur Finanzmarktregulierung getroffen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern Rutte dieses Versprechen wird halten können. Außerdem: Das bis dato ungeschriebene Gesetz in der EU-Finanzmarktregulierung wackelt: Aufgrund der Bedeutung des Finanzplatzes London für die britische Wirtschaft werden keine Beschlüsse ohne einen Kompromiss mit Großbritannien getroffen. Fraglich ist, ob dieser gute Wille bei einer weiteren Abspaltung Großbritanniens Bestand haben wird.

Es bleibt abzuwarten, ob das Regelwerk der Fiskalunion in Mitgliedstaaten mit divergierenden politischen Kulturen vergleichbare disziplinierende Wirkungen zeitigen wird. Die neuen Regeln sind vom deutschen Ansatz geprägt: eine in der Verfassung verankerte Schuldenbremse, deren Einhaltung vom Verfassungsgericht überwacht wird. Die Erwartung, dass die Schuldenbremse in Deutschland zu solider Haushaltspolitik führen wird, ist eng damit verbunden, dass das Bundesverfassungsgericht, das über die Einhaltung der Schuldenbremse wacht, im deutschen politischen System über eine hohe Autorität verfügt. Das ist nicht in allen Mitgliedstaaten so. In vielen gilt der Primat der Politik. Mithin bleibt abzuwarten, ob die Schuldenbremse langfristig in anderen Mitgliedstaaten einen vergleichbaren disziplinierenden Effekt entfalten wird. Kurz- und mittelfristig sollte die Befolgung der neuen Haushaltsvorschriften unter dem Druck der Finanzmärkte jedoch kein Problem darstellen. Die Verhandlungsführung der Bundesregierung war daher auch von dem festen Willen gekennzeichnet den Druck der Märkte auf die stark verschuldeten Mitgliedsstaaten aufrechtzuerhalten.

Die innerstaatliche Ratifizierung des zwischenstaatlichen Vertrages könnte sich in einigen nordeuropäischen Mitgliedstaaten schwierig gestalten. Irland steht möglicherweise vor einem Referendum. Angesichts der aktuellen wirtschafts- und finanzpolitischen Probleme und der gefühlten Fremdbestimmtheit durch EU und IWF könnte das Votum der Bevölkerung negativ ausfallen. Problematisch ist aus politischen Gründen die Situation auch in Frankreich. Im Frühjahr 2012 sind dort Präsidentschaftswahlen. Der voraussichtliche Kandidat der Sozialisten, François Hollande, hat bereits angekündigt, er werde im Falle seiner Wahl den Vertrag neu verhandeln: Ein wenig nachvollziehbares Signal in der aktuellen Krise. Die französischen Sozialisten lehnen insbesondere die Schuldenbremse ab. Sarkozy hingegen wird zu seinem Wort stehen. Er benötigt allerdings für eine Vertragsänderung zur Einführung der Schuldenbremse eine 3/5 Mehrheit im Congrès dem Zusammenschluss beider Kammern, Assemblée Nationale und Sénat. Seine regierende UMP verfügt jedoch nach den Wahlen zum Sénat vom September 2011 nicht mehr über eine solche Mehrheit. Eine Machtverschiebung könnte sich frühestens im Juni 2012 ergeben: Dann wird die Assemblée Nationale neu gewählt.

Schließlich könnte die wachsende Unterstützung für EU-feindliche Parteien in einigen Mitgliedstaaten eine zunehmend destabilisierende Wirkung entfalten. In den Niederlanden hat die PVV des Populisten Geert Wilders seit den Wahlen 2010 in Umfragen weiter zugelegt.

Schließlich bleibt abzuwarten, ob die Fiskalunion hinreichend Impulse für Wachstum setzen kann. Der Akzent liegt auf der Förderung von Haushaltsdisziplin. Auf diesem Wege soll makroökonomische Stabilität und damit die Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum geschaffen werden. Ferner soll das Wachstumspotential durch Strukturreformen erhöht werden: Diese werden im Rahmen der Strategie Europa 2020 (alle 27) und des Euro-Plus-Pakts (17 Eurostaaten plus sechs Nicht-Eurostaaten) beraten bzw. im Kontext von Wirtschaftspartnerschaftsprogrammen (Defizitstaaten) und Spar- und Reformprogrammen (Eurostaaten unter EFSF bzw. ESM) durchgesetzt. Darüber hinaus hat sich der Europäische Rat in Vorbereitung des Frühjahrsgipfels, bei dem traditionell die Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt steht, mit den Themenkomplexen Wachstum und Beschäftigung befasst. Als Grundlage diente der Jahreswachstumsbericht der Kommission. Die Staats- und Regierungschefs unterstützten insbesondere eine zügige Beratung der Kommissionsvorschläge zur Vollendung des EU-Binnenmarkts. Zudem forderten sie Fortschritte bei der Diskussion der Kommissionsvorschläge zur EU-Energiepolitik – u.a. zur Energieeffizienzrichtlinie und zum Verordnungsvorschlag zum Ausbau der Energieinfrastruktur. Deutschland und Frankreich haben bereits angeregt, dass sich der erste Euro-Gipfel im Januar 2012 mit den Themen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung befassen soll.

Viele Fragezeichen und doch gelang der Bundesregierung unter Führung der Bundeskanzlerin ein Durchbruch bei der Stabilisierung der Währungsunion.

2. Beitrittsvertrag mit Kroatien, Probezeit für Serbien und Montenegro, Mazedonien in der Warteschleife

Traditionell prüfen die Staats- und Regierungschefs im Rahmen des Dezembergipfels die Perspektiven der EU-Beitrittskandidaten. Dieser Gipfel sandte eine doppelte Botschaft. Deutlich wurde: der Erweiterungsprozess wird trotz Krise und zunehmendem Euroskeptizismus fortgeführt, aber nur unter strenger Einhaltung der Beitrittskriterien.

Die Staats- und Regierungschefs signierten, wie im Juni vorgesehen, den Beitrittsvertrag mit Kroatien. Die polnische Ratspräsidentschaft hatte sich für die Unterzeichnung noch während ihrer Ratspräsidentschaft eingesetzt. Offizielles Beitrittsdatum: 1. Juli 2013. Voraussetzung: die kontinuierliche Umsetzung der Reformen im Justizwesen. Ziel ist, die Einführung eines Kontroll- und Verifizierungsmechanismus nach erfolgtem Beitritt, wie im Falle Bulgariens und Rumäniens, zu vermeiden. In den kommenden 18 Monaten müssen – ein positives Referendum in Kroatien vorausgesetzt - die Mitgliedstaaten den Beitrittsvertrag ratifizieren. Von nun an kann Kroatien als Beobachter an den Beratungen des Europäischen Rates und den Fachministerräten teil nehmen.

Die Staats- und Regierungschefs vertagten die Entscheidung über die nächsten Etappen im Beitrittsprozess Montenegros und Serbiens. Das kam zumindest teilweise überraschend. Im Oktober hatte die Europäische Kommission nämlich die Verleihung des Kandidatenstatus für Serbien empfohlen. Bedingung war eine engere Zusammenarbeit mit dem Kosovo. Nach der zwischenzeitlichen Verschärfung des Grenzkonflikts zwischen Belgrad und Pristina und der Verwundung deutscher wie österreichischer KFOR-Soldaten war bei einigen Mitgliedstaaten die Skepsis gewachsen. Neben Deutschland forderten Österreich, Finnland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich konkrete Beweise einer konstruktiveren Haltung Belgrads.

Zwar erzielten Serbien und Kosovo unter Vermittlung des erfahrenen EU-Diplomaten Robert Cooper am 2. Dezember eine Einigung zur gemeinsamen Kontrolle ihrer Grenze. Zudem rief der serbische Präsident Boris Tadic kurz vor dem Gipfel die in Mitrovica lebenden Serben auf, errichtete Barrikaden abzubauen. Beides kam jedoch nach Ansicht der genannten Mitgliedstaaten zu spät, um noch am Dezembergipfel grünes Licht für die Erteilung des Kandidatenstatus zu erteilen. Nun wird erst der Rat für Allgemeine Angelegenheiten im Februar über die Anerkennung des Kandidatenstatus befinden. Auf dem Märzgipfel könnten die Staats- und Regierungschefs diesen bestätigen. Bis dahin muss Serbien glaubhafte Belege für einen verbesserten Dialog mit dem Kosovo und die Umsetzung geschlossener Vereinbarungen liefern. Im einzelnen: Unterstützung der Mandate der EU-Mission EULEX und der NATO-Mission KFOR, Abbau aller Grenzbarrikaden, Zusammenarbeit mit dem Kosovo in regionalen Foren, Umsetzung der Übereinkunft zum gemeinsamen Grenzmanagement. Die Formulierung dieser Bedingungen und die Vertagung der Entscheidung trug den Bedenken der Bundesregierung Rechnung. Das Ergebnis ist für Serbien vorerst enttäuschend, doch immerhin stellen die Staats- und Regierungschefs ein konkretes Datum noch vor den serbischen Parlamentswahlen im Mai 2012 in Aussicht. Dies ist als Zugeständnis für die in anderen Fragen - z.B. die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien – kooperative Haltung des Landes zu verstehen.

Auch Montenegro erhielt entgegen vieler Erwartungen noch nicht das erhoffte grüne Licht für den Beginn der Beitrittsverhandlungen, obgleich die Kommission im Oktober dafür optiert hatte. Ein Grund für die Verschiebung: Mehrere Mitgliedstaaten äußerten Zweifel hinsichtlich der Bemühungen des Landes zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Nachbesserungsbedarf gibt es zudem bei der Pressefreiheit. Im Vorfeld hatte auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Bedenken geäußert, letztlich aber das positive Votum der Bundesregierung gestützt. Die Verschiebung ist auch ein Zugeständnis an diejenigen Mitgliedstaaten, die sich gegen eine völlige Entkopplung der Beitrittsverfahren von Serbien und Montenegro aussprachen.

Die Kommission legt in der ersten Jahreshälfte 2012 einen Bericht zu den Fortschritten Montenegros bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit sowie der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität vor. Auf dieser Grundlage befindet der Rat für Allgemeine Angelegenheiten noch vor dem Junigipfel des Europäischen Rats über die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen. Die unter dem jungen Ministerpräsidenten Igor Luksic unternommenen Anstrengungen werden damit zunächst nur eingeschränkt gewürdigt. Wie bei Serbien setzen Kommission und Mitgliedstaaten auf eine verstärkte politische Konditionalität: Sie begrüßten den Vorschlag der Kommission, die Verhandlungen mit Montenegro mit den Kapiteln „Justiz und Grundrechte“ sowie „Justiz, Freiheit und Sicherheit“ zu beginnen. Dies sind traditionell die höchsten Hürden bei der Übernahme des acquis. Bereits in den kommen Monaten sollen die Kommission und Podgorica vorbereitende Schritte zur Öffnung dieser Verhandlungskapitel einleiten.

Keine Fortschritte gab es erwartungsgemäß im Falle Mazedoniens. Griechenland sperrt sich aufgrund des ungelösten Namensstreits unverändert gegen die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.

Anmerkungen

Trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise setzt die EU auch nach dem Abschluss des im Großen und Ganzen unumstrittenen Beitritts Kroatiens den Erweiterungsprozess im westlichen Balkan vorsichtig fort. Dabei verfolgt sie einen neuen, stärker auf Konditionalität ausgerichteten Ansatz, der drei wertvolle Neuerungen enthält:

  1. Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, aber auch politische Kriterien wie Pressefreiheit, Beachtung der Rechte nationaler Minderheiten werden in den Erweiterungsberichten und Empfehlungen der Kommission stärker berücksichtigt. Aus den Erfahrungen mit Rumänien und Bulgarien scheint die EU offenbar die richtigen Schlüsse gezogen zu haben.
  2. Die vorrangige Bearbeitung der Verhandlungskapitel „Justiz und Grundrechte“ und „Justiz, Freiheit und Sicherheit“ scheint ein geeignetes Instrument für die Unterstützung der Reformprozesse zu sein.
  3. Die Staats- und Regierungschefs pochen unmissverständlich auf die Beilegung bilateraler Streitigkeiten vor weiteren Verhandlungsetappen.
Nur wenn die künftigen Mitglieder die EU-Standards uneingeschränkt erfüllen, wird sich die derzeit in zahlreichen Mitgliedstaaten erweiterungsskeptische öffentliche Meinung drehen. Der Kroatienbeitritt ist eine Art Lackmustest: Im besten Fall wird das Land zu einem Modellbeispiel für den Erfolg der „neuen“ Erweiterungspolitik. Doch dürfen die EU-Mitgliedstaaten diesen Ansatz nicht selbst torpedieren: Die Rücksichtnahme auf innenpolitische Befindlichkeiten schwächen die Glaubwürdigkeit des neuen Ansatzes und lassen die verstärkte Konditionalität als Schikane erscheinen. Beurteilungsmaßstab sollten die tatsächlichen Meriten eines Landes sein. Die Kopplung der Erweiterungsprozesse einzelner Länder (Serbien & Montenegro) ist wenig hilfreich. Umfassende Reformbemühungen, wie sie Montenegro unternommen hat, sollten angemessen honoriert werden. Werden Fortschritte nicht hinreichend anerkannt, droht zunehmende Frustration in der Bevölkerung der Kandidatenländer, ein Nachlassen der Reformbemühungen und mittelfristig möglicherweise eine Destabilisierung. Erste Anzeichen dafür sind bereits jetzt in Mazedonien festzustellen.

3. Niederlande blockieren Schengenerweiterung

Erfolglos drängten Rumänien und Bulgarien - unterstützt durch einige mittelosteuropäischer Länder – auf ein positives Votum für ihren Schengenbeitritt. Die rechtlichen und technischen Voraussetzungen sind seit Monaten erfüllt. Die Niederlande blockierten - wie schon im Ministerrat - jedoch mit Hinweis auf die unzureichenden Fortschritte beider Länder bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität eine Einigung. Die Bundesregierung und andere Mitgliedstaaten befürworten eine schrittweise Aufnahme beider Länder. Vorbedingung für ein positives Votum der Niederlande ist ein positiver Bericht des Ve rifizierungs- und Kooperationsmechanismus der Kommission im Februar 2012. Dieser evaluiert zweimal jährlich die Fortschritte bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Sollten die Justiz- und Innenminister vorher keine Einigung erzielen, könnte die Frage beim Märzgipfel auf die Agenda kommen.

4. Zyprische Ratspräsidentschaft / Iran & Syrien

In deutlichen Worten mahnten die Staats- und Regierungschefs die Türkei zur Zusammenarbeit mit der zyprischen Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2012. In den vergangenen Wochen hatten Repräsentanten der türkischen Regierung angekündigt, während dieser Zeit die Kontakte mit der EU auf Eis zu legen. Sollte die türkische Regierung auf ihrer Haltung beharren, könnte sich das grundsätzlich auf den weiteren Verlauf des Beitrittsprozesses auswirken.

Zudem verurteilten die Staats- und Regierungschefs den Angriff auf die britische Botschaft in Teheran, und äußerten ihre Besorgnis über das iranische Nuklearprogramm. Die Außenminister werden im kommenden Monat eine Vorlage zur Verschärfung der Sanktionen erarbeiten. Mögliche betroffene Sektoren: Finanzsystem, Transport und Energie. Ferner verurteilten die Staats- und Regierungschefs die Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Assad-Regime und unterstützten den Aktionsplan der Arabischen Liga.

Asset-Herausgeber

comment-portlet

Asset-Herausgeber