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Ein Jahr mit Dilma Rousseff

von Dr. Thomas S. Knirsch, Kathrin Zeller, Gregory Ryan
Die brasilianische Staatspräsidentin Dilma Rousseff, seit etwas mehr als einem Jahr im Amt, reist Anfang März zur Computer- und Technologiemesse CEBIT nach Deutschland. Deutschland stellt für Brasilien den fünftgrößten Ex-portmarkt und die viertgrößte Bezugsquelle für Importe dar. Wie fällt die bisherige Bilanz der Regierung Dilma Rousseff aus, was ist noch zu erwarten?

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Dilma, wie sie in ihrem Heimatland genannt wird, repräsentiert einen Staat, der heute mehr denn je als einer der großen neuen Akteure auf der Weltbühne wahrgenommen und umworben wird. Brasilien ist Mitglied der G-20, der BRICS-Gruppe und seit kurzem sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Während die meisten westlichen Industrieländer in den letzten Jahren schwer unter Wirtschafts- und Finanzkrisen litten, segelte Brasilien beinahe unversehrt durch den Sturm. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordtief von 5 Prozent, das Wirtschaftswachstum fiel nicht unter 3 Prozent. Es fragt sich jedoch, ob Dilma Rousseff diese neu gefundene Wirtschaftskraft dazu verwenden kann, einerseits die Lebensqualität der Bevölkerung nachhaltig anzuheben und andererseits Brasilien langfristig als Weltmacht zu etablieren.

Als Wunschnachfolgerin des charismatischen Lula da Silva stand Dilma Rousseff, die zuvor das Präsidentenamt geleitet hatte, lange im Verdacht nur eine „Platzhalterin“ für den Ex-Präsidenten zu sein, der laut Verfassung nicht drei Amtsperioden am Stück ausüben darf. Sie galt, als sie am 1. Januar 2011 ins Präsidentenamt eingeschworen wurde, als kühle Technokratin der es an Charisma fehlt.

Ihre Prioritäten in den ersten Monaten galten (fast) erwartungsgemäß der Konsolidierung des Staatshaushalts. Rasch schaffte sie es allerdings, aus dem Schatten Lulas herauszutreten und ein eigenes politisches Profil zu entwickeln. In den ersten 14 Monaten an der Spitze des Staates, entließ Dilma Rousseff bereits sieben Minister, deren Integrität nach wiederholten Korruptionsvorwürfen in den Medien stark beschädigt wurde. Obwohl die Präsidentin sich zunächst jeweils vor die Minister stellte, und dann wiederum jene nur zögerlich gehen ließ, stellt diese Entwicklung einen Neubeginn für Brasilien dar. Das Land befindet sich auf dem aktuellen „Corruption Perception Index“ von „Transparency International“ auf Platz 73, in einer Reihe mit Staaten wie Samoa, Tunesien, Ghana und Italien.

Profil und Popularität gestiegen

Dilma Rousseff hat nach Analystenmeinung bislang großes politisches Geschick im komplexen System der Machtstrukturen in der Hauptstadt Brasilia bewiesen. Auch konnte sie den Rückhalt in ihrer eigenen Arbeiter-Partei (PT) ausbauen, in der sie bislang kein gewähltes Amt bekleidet hatte, sowie ihre Popularität bei der Bevölkerung eindrucksvoll sichern: Kürzlich durchgeführte Umfragen attestieren der brasilianischen Präsidentin einen Beliebtheitsgrad von 59% im ersten Regierungsjahr (Lula hatte zu diesem Zeitpunkt seiner ersten Amtsperiode 42% Zustimmung).

Schon während des Wahlkampfes ließ Dilma Rousseff die Absicht erkennen, die außenpolitische Linie ihres Vorgängers fortzusetzen. Dieser wiederum hatte sich auf das Modell berufen, welches noch in den letzten Jahren von Fernando Henrique Cardoso, Präsident von 1995 bis 2002, artikuliert wurde. Es wird in der brasilianischen Fachliteratur als „Estado Logistico“ (frei übersetzt: logistischer Staat) beschrieben. Hiernach arbeitet das Außenministerium mit nationalen Akteuren zusammen - staatlichen wie privaten - um die brasilianische Wirtschaft zu internationalisieren und um Türen zu ausländischen Märkten zu öffnen. Priorität bei diesem Modell haben die wirtschaftlichen Interessen.

Neue Akzente in der Außenpolitik

Nach ihrer Wahl kündigte Dilma Rousseff jedoch an, ihre Regierung werde den Menschenrechten mehr Bedeutung einräumen und Brasilien werde dementsprechend sein Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen anpassen. Als die Präsidentin dann auch gleich zu Beginn ihres Mandats eine entschlossene Haltung gegenüber den regierenden Geistlichen im Iran und deren Politik gegenüber den Frauen zeigte, schien sich die neue Richtung zu bestätigen und Menschenrechtsaktivisten zeigten sich begeistert. Doch während des „Arabischen Frühlings“ und insbesondere in Bezug auf das internationale diplomatische „Tauziehen“ um Libyen - und nun auch Syrien - scheint die Regierung wieder auf das Modell des „Estado Logistico“ und damit zur Politik der Nichteinmischung zurückzukehren. Diese Haltung wurde durch ihren jüngsten Besuch in Kuba Anfang Februar unterstrichen, wo sie sich weigerte, Menschenrechtsfragen zu erörtern, und hingegen klarstellte, dass ihre Reise die Förderung von Wirtschaftsinteressen zum Ziel hatte.

Der wirtschaftliche Erfolg der letzten Dekaden sowie die politische Stabilität des Landes haben Brasilien zu einer regionalen Führungsmacht avancieren lassen. Brasilien wird umworben, sein Einfluss auf die Organe und Institutionen der internationalen Sicherheits- und Finanzarchitektur wächst kontinuierlich. Das Werben für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ist Abbild dieses neuen Selbstverständnisses. Der Ausbau der Streitkräfte schreitet weiter voran, neben einem atomgetriebenen U-Boot stehen neue Kampfflugzeuge auf der Wunschliste der Militärs. Der Süd-Atlantik wird von brasilianischen Militärstrategen neuerdings als „Sicherheitsgebiet“ definiert. Es öffnet sich der Raum für neue strategische Allianzen mit Brasilien unter der Regierung Dilma Rousseff.

Wirtschaftspolitik vorangetrieben

Das sichtbarste Zeichen der neuen Stärke Brasiliens bleibt dennoch vorderst dessen Wirtschaft. Nach einer raschen Überwindung der Krise von 2008 schrieb Brasilien 2010 wieder Wachstumszahlen von 7,5% des BIP und 2011 trotz globaler Finanzmarktkrise noch 3,5% Wachstum erreicht. Der positive Trend ließ Brasilien zur Nummer 6 der Weltwirtschaft avancieren, und löste das Vereinigte Königreich auf dieser Position ab.

Dennoch ist die weitere Entwicklung des Wirtschaftspotentials Brasiliens noch immer durch zahlreiche Faktoren gehemmt. Brasilien liegt beim Index der Weltbank zur Messung der ökonomischen Rahmenbedingungen eines Landes, Doing Business, im Jahr 2012 auf Platz 126 von 186. Besonders fällt die ausgeprägte Bürokratie ins Gewicht. Zur Eröffnung eines Geschäftes sind beispielsweise 119 Tage nötig. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 12 Tagen. Dilma Rousseff initiierte bisher zurückhaltende Reformen für vereinfachte Wirtschaftstätigkeiten mit dem Programm „Brasil Maior“. So wurde beispielsweise für kleine und mittlere Unternehmen des Exportsektors ein Fonds zur vereinfachten Finanzierung geschaffen.

Der von Dilma eingesetzte Präsident der brasilianischen Zentralbank, Alexandre Tombini, senkte vor einigen Monaten auch den Leitzins „Selic“ auf ein im weltweiten Vergleich noch immer sehr hohen Wert von 10,5%. Die Maßnahme wurde zu Anfang als Risiko für die Kontrolle der Inflation gewertet, die Ende vergangenen Jahres bereits an die obere Toleranzgrenze von 4,5% pro Jahr gestoßen war. Tombinis Rechtfertigung, der Markt würde sich mittelfristig abkühlen und eine Senkung des Leitzinses daher positiv auf das Wirtschaftswachstum wirken, ohne die Toleranzgrenze der Inflation zu überschreiten, stellte sich bis heute als richtig heraus. Die Landeswährung, der brasilianische Real, baute seine Aufwertung gegenüber anderen Währungen wie dem Euro oder dem Dollar weiter aus.

Sozialpolitik weiter ausgebaut

Dilma Rousseff verfolgt seit ihrem Amtsantritt eine sehr starke sozialpolitische Linie. Als Nachfolgerin des ehemaligen Präsidenten Lula, der gerade wegen seines Engagements für die unteren Einkommensklassen hohe Zuspruchsraten der Bevölkerung erfuhr, machte auch Dilma Rousseff die Bekämpfung der Armut zu einem ihrer Zugpferde. Das Ende der absoluten Armut innerhalb ihrer Präsidentschaft war daher im Wahlkampf 2010 auch ein Hauptthema.

Als ersten Schritt hatte Dilma angekündigt, diejenigen Familien in extremer Armut zu identifizieren, die noch nicht im nationalen Programm „Bolsa Familia“, einem Transferprogramm für Familien, das unter anderem an den Schulbesuch der Kinder gekoppelt ist, registriert sind. Dies sei nach eigenen Angaben bisher gelungen. Zusätzlich sollen für die Empfänger nun Ausbildungsplätze in verschiedenen Berufsfeldern in von Fachkräftemangel betroffenen Sektoren, wie dem Tourismus oder dem Bauwesen, angeboten werden. Offizielle Zahlen für die Entwicklung der Armutsraten sowie der Ungleichverteilung des Einkommens werden im Laufe des ersten Halbjahres 2012 veröffentlicht und näheren Aufschluss geben.

Ein weiteres Wahlversprechen, der Bau von 6427 Kindertagesstätten bis zum Jahr 2014, bleibt bis jetzt weit hinter allen Erwatungen zurück. Bis Januar 2012 konnte noch keine der Stätten eingeweiht werden. Auch der Ausbau des Netzes öffentlicher Gesundheitsstationen hinkt den Planungen hinterher. 2011 konnten gerade einmal 30 der in dem Jahr vorgesehenen 99 Gesundheitsstationen eingeweiht werden. In diesem Tempo würden die geplanten 500 Gesundheitsstationen erst 2026 fertig gestellt und nicht, wie zu Beginn ihrer Regierungszeit von Dilma angekündigt, schon im Jahr 2014.

Migration große Herausforderung

Der neue „Wirtschaftsriese“ Brasilien wirkt wieder zunehmend als Magnet für Arbeitssuchende weltweit. Große Wellen von europäischen und japanischen Einwanderer kamen bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die riesige Nachfrage nach Arbeitern für die boomenden Kaffeeplantagen im Süden war dabei ein wichtiger Faktor.

Brasilien, obwohl traditionell ein Land der Einwanderer, ist dennoch heute paradoxerweise in vielerlei Hinsicht geschlossener als so manches europäisches Land. Getulio Vargas baute die Republik während seiner ersten Präsidentschaft zwischen 1930 und 1945 komplett um. Immigration wurde gekappt, Zwangsassimilierungsprogramme gestartet, und in der neuen Verfassung Artikel verankert, die in Brasilien geborenen Brasilianern Privilegien zusicherten, die anderen Brasilianern nicht zustehen, wie etwa eine bevorzugte Behandlung auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, bestimmte öffentliche Ämter bekleiden zu können. Viele dieser Artikel bestehen bis heute und wurden in überarbeiteter Form in die neue Verfassung von 1988 aufgenommen. Als Folge ist Migration und die erfolgreiche Integration in Brasilien bis heute mit großen bürokratischen Mühen verbunden und erscheint im Kontext einer immer stärker globalisierten Welt nicht mehr zeitgemäß.

Angesichts der boomenden Wirtschaft und dem wachsenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, hat Dilma Rousseff vor kurzem die Absicht erklärt, diese alten Gesetze zu überarbeiten, um die Immigration von Fachkräften in das Land zu erleichtern. Gleichzeitig hat sie die Zahl der Auslandsstipendien erhöht, um Brasilianer fachlich im Ausland weiter zu qualifizieren.

Qualifizierte Arbeitskräfte sind aber nicht die einzigen, die es vermehrt nach Brasilien zieht. Aktuell wird stark darüber debattiert, wie das Land mit der Einwanderungsflut aus Haiti umgehen soll. Die Zuwanderung aus anderen lateinamerikanischen Ländern stellt generell eine große Herausforderung dar. Hierbei sind gerade die illegalen Einwanderer aus den ärmsten Ländern der Region wie z. B. Bolivien und Paraguay ein zentrales Problemfeld. Für diese meist wenig gebildeten, im Niedriglohnbereich tätigen Migranten fehlen Programme, welche eine menschenwürdige Integration in der neuen Heimat ermöglichen und unmenschlichen Arbeitsverhältnissen entgegenwirken. Viele andere Migranten, die von außerhalb der Region stammen, wie etwa aus Pakistan oder dem Kongo, werden zumeist kurzerhand wieder abgeschoben.

Umweltpolitik

Während Brasilien in jüngster Zeit seine Ansprüche als neue Weltmacht einfordert, fragen kritische Stimmen zunehmend, ob das Land auch bereit sei, die damit einhergehende Verantwortung für den Schutz der Umwelt zu übernehmen. Dieser Anspruch wird im offiziellen Diskurs der Regierung einerseits bestätigt. Beim letzten Klimagipfel in Durban war Dilma Rousseff so auch für die Erneuerung des Kyoto-Protokolls eingetreten, und bestätigte das Ziel Brasiliens, bis 2020 die Emission der Treibhausgase um 36-39% gegenüber dem „Business-as-usual-Ausstoß“ zu senken. Auch während ihres Wahlkampfes kündigte sie Nulltoleranz gegenüber den Verantwortlichen für die Abholzung des Regenwaldes an.

Andererseits stellt sie, wie beschrieben, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Vordergrund. Beim Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar 2012 betonte sie abermals die Wichtigkeit des Wirtschaftswachstums als Grundlage für sozialen Fortschritt. Dieses Wachstum müsse jedoch in Einklang mit Umweltschutz erwirtschaftet werden.

Aufschlussreich, was sie unter diesem Kontext versteht, ist die Reform des Waldschutzgesetzes, welche für die faktische Minderung des Waldschutzes kritisiert wird. Als Argument für das neue Gesetz wird von Dilma Wirtschaftlichkeit angeführt. Auch der Diskriminierung von Kleinbauern, die den bisherigen Umweltschutzstandards kaum nachkommen konnten, solle mit dieser Gesetzesnovellierung entgegengewirkt werden.

Eine weitere Maßnahme der Verbindung von Sozialpolitik und Umweltschutz ist die „Bolsa Verde“, die vergangenen September von Dilma Rousseff eingeführt wurde. Das Programm bietet Familien in extremer Armut, mit einem Monatseinkommen von rund 30 Euro pro Kopf, eine Zahlung von 130 Euro pro Trimester. Als Gegenleistung müssen die Familien Aktivitäten im Umweltschutz, z. B. beim Waldschutz, nachweisen.

Ausblick

Dilma Rousseff genießt nach dem ersten Jahr ihrer Regierung hohe Zustimmung bei der Bevölkerung und ein hohes internationales Ansehen. Der neue außenpolitische Kurs, eher pragmatisch geprägt und weniger populistisch als unter ihrem Vorgänger Lula, öffnet neuen politischen Raum für Vertrauensbildung und ein stärkeres Engagement mit Brasilien, der strategisch genutzt werden sollte.

Das Wirtschaftwachstum Brasiliens dürfte bei hoher Nachfrage von Rohstoffen auf den Weltmärkten sowie konstanter Binnennachfrage weiter positiv bleiben. Bei Einbruch der Nachfrage könnte die erneute Abhängigkeit von Rohstoffexporten, bei zeitgleicher Abnahme der Industrieleistung, zu einem Problem für Brasilien werden: Es würden die Staatseinnahmen zum Abbau von Armut und dem Ausbau eines tragfähigen Mittelstands fehlen, die Binnennachfrage könnte mangels Kaufkraftverlusten sinken. Eine negative Kettenreaktion, die auch die politische Stabilität des Landes beeinträchtigen könnte, würde ausgelöst werde. Dilma Rousseffs Popularität und Autorität würden wahrscheinlich sinken.

Für Dilma Rousseff bleiben trotz des gelungenen Auftakts große politische „Baustellen“, die für die politische Stabilität und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens langfristig entscheidend sein könnten. Hierzu zählen: Bürokratieabbau, Korruptionsbekämpfung, Umbau des Erziehungssystems, Förderung von Industrie und Dienstleistung, Ausbau der sozialen und physischen Infrastruktur, Reform der Rentensysteme, Anpassung des Wahlsystems, Transparenz- und Effizienzsteigerung des Rechtssystems – um nur einige wichtige Themenfelder zu nennen.

Dilma Rou sseff hat bis zur nächsten Wahl noch beinahe drei Jahre vor sich. Die Zeichen stehen gut, dass es drei erfolgreiche Jahre für Brasilien werden. Es bleibt zu hoffen, dass sie die günstigen Voraussetzungen nutzt, um das Land für alle Teile seiner Gesellschaft nach vorne zu bringen. Im Jahr 2014 startet sie dann mit dem Bonus einer hoffentlich erfolgreichen Fußballweltmeisterschaft in den nächsten Wahlkampf. Es bleibt ihr viel Glück auf diesem Weg zu wünschen!

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Creative Commons, Foto: Roberto Stuckert Filho/PR. Creative Commons, Foto: Roberto Stuckert Filho/PR.
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Creative Commons, Foto: Roberto Stuckert Filho Creative Commons, Foto: Roberto Stuckert Filho

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