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Nach dem Netanjahu-Besuch in Washington

von Michael Mertes

Zum Stand der Debatte über Maßnahmen gegen das iranische Nuklearprogramm

Hauptthema der Gespräche zwischen Ministerpräsident Netanjahu und Präsident Obama in Washington am 5. März 2012 war das iranische Nuklearprogramm. Die israelischen Medien widmen den Resultaten dieses weltpolitisch bedeutsamen Besuchs eine Reihe von groß aufgemachten Berichten, Analysen und Interpretionen.

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Die Symbolik des Buches Esther

In Israel ist Purim 2012 am 8. und 9. März gefeiert worden. Es ist ein fröhliches Fest zum Gedenken an die Errettung der Juden vor dem Völkermord, den der persische Großwesir Haman vor rund zweieinhalbtausend Jahren plante. Die im Buch Esther aufgezeichnete Geschichte bildet heute den Hintergrund für eine ernste Debatte darüber, wie in letzter Minute das iranische Kernwaffenprogramm gestoppt werden kann. (Siehe hierzu auch die Darstellung des Debattenstandes Anfang Februar durch Adi Singer: In the Eye of Storms.)

Bei seinem Besuch in Washington zu Beginn der Purim-Woche überreichte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem US-Präsidenten Barack Obama ein Exemplar der Esther-Megilla als Gastgeschenk. Für Herb Keinon (siehe Finding wiggle room in Washington, Jerusalem Post vom 9. März 2012, S. 13) ist das ein doppelsinniges Mitbringsel. Seine Botschaft könne lauten: „Wir brachten Obama das Buch Esther, um Parallelen zwischen dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und Haman zu ziehen.“ Vielleicht heiße es aber auch nur ganz schlicht „Wir brachten Obama das Buch Esther, weil wir drei Tage vor Purim mit ihm zusammentrafen.“

Die Frage, ob zur Not – wenn alle nichtmilitärischen Sanktionen wirkungslos bleiben – eine bewaffnete Aktion Israels das richtige Mittel wäre, spaltet die israelische Gesellschaft. Bisherige Umfragen – zum Beispiel der von den KAS-Auslandsbüros in Jerusalem und Ramallah geförderte Joint Israeli Palestinian Poll vom Dezember 2011 – haben ergeben, dass eine starke relative Mehrheit diese Option befürwortet. Nach einer aktuellen Haaretz-Umfrage, die während des Washington-Besuchs von Netanjahu durchgeführt wurde, sagen heute jedoch 58 Prozent der Befragten, dass Israel, wenn die Vereinigten Staaten die iranischen Nuklearanlagen nicht angreifen, keinen militärischen Alleingang unternehmen sollte. Gleichzeitig dokumentiert diese Umfrage eine deutliche Verbesserung des Meinungsklimas für den von Netanjahu geführten Likud.

Wo verläuft die „rote Linie“?

In Washington einigten sich Obama und Netanjahu darauf, das weitere Vorgehen noch stärker zu koordinieren als bisher. Das ist allein deshalb notwendig, weil es offenbar unterschiedliche Vorstellungen gibt von der „roten Linie“, die der Iran auf keinen Fall überschreiten darf. Für Israel ist diese Linie schneller erreicht als für die Vereinigten Staaten. Netanjahu hat in Washington deutlich gemacht, dass es Israels souveräne Entscheidung sei, ob und wann es zum Schutz der eigenen Lebensinteressen seine militärische Option ausübt.

Worin die amerikanischen und die israelischen Positionen voneinander abweichen, brachte der israelische Ministerpräsident nach seiner Rückkehr wie folgt auf den Punkt: „Die USA sind groß und weit entfernt, Israel ist kleiner und näher am Iran – und natürlich sind auch unsere (sc. militärischen) Fähigkeiten anders. Deshalb stimmt die amerikanische Uhr, was die Verhinderung der Nuklearisierung des Iran anbetrifft, nicht mit der israelischen überein. Die israelische Uhr arbeitet offensichtlich nach einem anderen Zeitschema.“ (Siehe Attack on Iran not immediately in offing, says Netanyahu, Jerusalem Post vom 9. März 2012, S. 1 und 10).

Das Problem der unterschiedlichen Zeit- und Dringlichkeitsmaßstäbe ist auch ein Gegenstand der Analyse von Martin Sherman (Barack, Bibi and the bomb, Jerusalem Post vom 9. März 2012, S. 16): „Wie Generalmajor d. Res. Amos Yadlin kürzlich hervorhob, haben die ‚Fenster der Gelegenheit’, die sich beiden Verbündeten öffnen, sehr unterschiedliche Zeitrahmen. Wenn Israel sich dem amerikanischen Verlangen nach Zurückhaltung fügt, könnte es seine Fähigkeit verlieren, den iranischen Nuklearanlagen erheblichen Schaden zuzufügen. Israel hinge somit völlig davon ab, ob die Vereinigten Staaten sich dazu entschließen, eine existentielle Bedrohung für den jüdischen Staat zu beseitigen.“

Medizinische Isotopen und nukleare Enten

Dass Teheran nach atomarer Bewaffnung strebt, gilt für Israel wie für die USA als gesicherte Erkenntnis. Ebenfalls unstreitig ist, dass Kernwaffen in der Hand eines Regimes, dessen führende Vertreter Israel von der Landkarte radieren wollen, ein Albtraum wären. Martin Sherman zitiert aus Netanjahus Washingtoner Rede vor dem AIPAC die Sätze: „Erstaunlicherweise weigern sich einige Leute anzuerkennen, dass der Iran das Ziel verfolgt, Kernwaffen zu entwickeln. Schauen Sie, der Iran behauptet, er reichere Uran an, um medizinische Isotopen zu entwickeln. Ist doch klar: Ein Land, das unterirdische Nuklearanlagen baut, das interkontinantale ballistische Flugkörper entwickelt, das Tausende von Zentrifugen herstellt und das einschneidenden Sanktionen trotzt – ein solches Land macht dies alles, um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben. Das heißt ... wenn eine iranische Interkontinentalrakete durch die Luft auf einen Ort in Ihrer Nähe zufliegt, dann haben Sie nichts zu befürchten – sie trägt ja nur medizinische Isotopen.“

Hierauf folgt der seither oft zitierte „A duck is a duck“-Vergleich: „Meine Damen und Herren, wenn es aussieht wie eine Ente, wenn es watschelt wie eine Ente, wenn es quakt wie eine Ente, was ist es dann? Was ist es dann? (Zurufe aus dem Publikum) Richtig! Es ist eine Ente. Aber diese Ente ist eine nukleare Ente! Und es ist an der Zeit, das die Welt anfängt, eine Ente ‚eine Ente’ zu nennen!“

Zwar steht einer der wichtigsten Verbündeten des Iran, das Assad-Regime in Syrien, vor dem Untergang. Dafür aber wächst die Furcht vor einer „schiitischen Allianz“ zwischen dem Iran und dem Irak, nachdem die US-Truppen das Zweistromland verlassen haben. Die hegemonialen Ambitionen des Iran erfüllen die sunnitischen Teile der Region – von der Türkei bis Saudi-Arabien – mit großer Sorge. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Golfstaaten Israel nicht daran hindern würden, ihren Luftraum für Kampfflüge zu den iranischen Atomanlagen zu nutzen (siehe z.B. Saudis May Let Israeli Jets Fly Over For Iran Raids, DefenseNews Online vom 12. Juni 2010, sowie Our Saudi Arabian allies von Shoula Romano Horing in Ynetnews.com vom 15. April 2011).

Risikoabwägungen

Die politisch Verantwortlichen in Israel sind sich darüber im Klaren, dass ein Präventivschlag gegen den Iran heftige Erschütterungen in der Region auslösen dürfte. Aus dem Gazastreifen und dem Südlibanon droht massiver Raketenbeschuss auf Israel. (Allerdings meldete kürzlich der britische Guardian, die Hamas werde sich in eine militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran nicht einmischen, siehe Hamas rules out military support for Iran in any war with Israel, Gurdian Online vom 6. März 2012; ferner Jonathan Spyer: Confusion in the ranks, Jerusalem Post vom 9. März 2012, S. 16.) Zu befürchten sind Terroranschläge gegen israelische Einrichtungen weltweit – und möglicherweise auch neue Unruhen im Westjordanland, wo die Hoffnung auf einen Palästinenserstaat schon heute nahe am Nullpunkt ist. Weltpolitisch bedeutsam sind nicht zuletzt die Wirkungen des israelischen Vorgehens auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf.

Der Preis ist hoch – zumal die Wahrscheinlichkeit, dass der Iran sich dadurch von seinen nuklearen Ambitionen abbringen lassen wird, gering ist. Ministerpräsident Netanjahu soll aber – laut einem Haaretz-Bericht (siehe Netanyahu, Obama divided on price of Israeli strike against Iran, Haaretz Online vom 7. März 2012) – der Ansicht zuneigen, dass ein konventioneller iranischer Gegenschlag mit Raketen auf Tel Aviv im Vergleich zu einer nuklearen Bewaffnung des Iran das geringere Übel wäre. Letztlich geht es um die Glaubwürdigkeit der Drohung mit der militärischen Option: „Das Paradox“, so meinte Netanjahu in einem Fox News-Interview (siehe Attack on Iran not immediately in offing, says Netanyahu, Jerusalem Post vom 9. März 2012, S. 10), „sieht so aus: Wenn sie (= die Iraner), daran glauben, dass sie mit der militärischen Option konfrontiert werden, dann wird man von der militärischen Option wahrscheinlich keinen Gebrauch machen müssen.“

Michael Mertes

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