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Länderberichte

Einheitsregierung in Kabul

Kein demokratischer, aber friedlicher Machtwechsel in Afghanistan

Der seit Ende 2001 amtierende afghanische Präsident Hamid Karzai durfte 2014 verfassungsgemäß kein weiteres Mal als Präsidentschaftskandidat antreten. Mit den dritten Präsidentschaftswahlen in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes verbanden viele Afghanen folglich die Hoffnung auf den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte ihres Landes. Als knapp sechs Monate nach dem ersten Wahlgang letztlich ein Sieger der Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben wurde, sprach in Kabul kaum noch jemand von Demokratie.

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Weite Teile der Bevölkerung waren erleichtert, dass der mit wirtschaftlicher Stagnation sowie politischer und persönlicher Ungewissheit verbundene Wahlprozess überhaupt zum Abschluss gekommen ist und immerhin einen friedlichen Machtübergang zu gewährleisten scheint. Dennoch wies der von einigen Beobachtern zum Meilenstein der Transitionsphase oder Lackmustest für den gegenwärtigen Stand der Demokratisierung erklärte Wahlprozess, vor allem in seiner Anfangsphase, demokratische Ansätze und eine Reihe positiver Aspekte auf. Die Einheitsregierung ist trotz ihres kuriosen Zustandekommens und der Vielzahl beteiligter, eigentlich rivalisierender, politischer und gesellschaftlicher Gruppen nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, sieht sich jedoch einer Reihe gewaltiger Herausforderungen gegenüber.

Am 21. September erklärte Afghanistans Independent Election Commission (IEC) – ohne ein Wahlergebnis vorzulegen – Dr. Ashraf Ghani Ahmadzai zum Gewinner der Präsidentschaftswahlen 2014 und beendete dadurch den seit Monaten festgefahrenen Wahlprozess, der eigentlich die erste demokratische Machtübergabe in der Geschichte Afghanistans gewährleisten sollte. Wenige Stunden zuvor hatten die beiden Kontrahenten der Stichwahl vom 14. Juni, Dr. Ashraf Ghani und Dr. Abdullah Abdullah, nach mehrwöchigen zähen Verhandlungen, die mehrfach kurz vor dem Scheitern standen, eine Vereinbarung über die Bildung einer Einheitsregierung (National Unity Government) unterzeichnet. Die Amtseinführung Ashraf Ghanis erfolgte am 29. September und beendete die fast 13jährige Regentschaft Hamid Karzais, der ab Dezember 2001 zunächst für zwei Jahre als Interimspräsident fungierte und 2004 und 2009 jeweils als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervorgegangen war.

Das Wahlergebnis des zweiten Wahlganges vom 14. Juni wurde den Wahlkampfteams der beiden Kandidaten am 21. September durch die unabhängige Wahlkommission zugesandt, nachdem die Vereinbarung über die Bildung einer Einheitsregierung unterzeichnet und Ashraf Ghani durch den Kommissionsvorsitzenden, Ahmad Yousuf Nuristani, zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt worden war. Aus dem Umfeld Ashraf Ghanis wurde das Ergebnis noch am 21. September in sozialen Netzwerken verbreitet und der Presse zugänglich gemacht, von offizieller Stelle erfolgte bis heute keine Bekanntgabe des Endergebnisses des zweiten Wahlganges. Die seitens des Teams von Ashraf Ghani der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Ergebnislisten der IEC weisen 3.935.567 (55,27 Prozent) der gewerteten Stimmen für Ashraf Ghani und 3.185.018 (44,73 Prozent) für Abdullah Abdullah aus. Dies bedeutet, dass für den zweiten Wahlgang insgesamt 7.120.585 der abgegebenen Stimmen gewertet wurden. Dem am 7. Juli von der IEC bekannt gegebenen vorläufigen Ergebnis lagen noch 7.972.727 gewertete Stimmen bei einer Verteilung von 4.485.888 (56,44 Prozent) für Ashraf Ghani und 3.461.639 (43,56 Prozent) für Abdullah Abdullah zugrunde. Das heißt, dass der von den Vereinten Nationen finanzierte und überwachte siebenwöchige Überprüfungsprozess, der am 5. September abgeschlossen worden war, zur Disqualifizierung von 852.142 Stimmen, aber keiner entscheidenden Veränderung der Stimmverteilung (Ashraf Ghani -1,17 Prozent und Abdullah Abdullah +1,21 Prozent gegenüber dem vorläufigen Ergebnis) geführt hat.

Bewertung des Wahlprozesses

Der im Februar und März geführte Wahlkampf der zunächst elf, später dann acht, Kandidaten für den ersten Wahlgang wurde deutlich professioneller geführt, als dies noch 2009 der Fall war. Auch wenn persönliche Netzwerke und die Bildung möglicher Allianzen der Kandidaten den Wahlkampf dominierten, so wurde doch intensiver als dies bei vorherigen Wahlen in Afghanistan der Fall war, vor allem seitens der Medien, nach politischen Inhalten und Regierungsprogrammen der Kandidaten gefragt. Die überraschend hohe Wahlbeteiligung am 5. April, trotz erheblicher Drohungen und Einschüchterungen der Wähler durch die Taliban, bestätigte dann das vorhandene Interesse an politischer Partizipation und dem Wunsch nach Veränderungen. Die unerwartet stabile Sicherheitslage am Wahltag wurde als großer Erfolg der afghanischen Sicherheitskräfte gewertet, was deren Ansehen in Teilen der Bevölkerung erhöhte. Vor Bekanntgabe des endgültigen Wahlergebnisses des ersten Wahlgangs am 15. Mai schätzten Vertreter unabhängiger afghanischer Wahlbeobachterorganisationen die Zahl der gefälschten Stimmzettel auf etwa zehn Prozent der insgesamt abgegebenen 6.892.816 Stimmen.

Sie gingen ferner davon aus, dass Wahlbetrug von Unterstützern nahezu aller beteiligter Kandidaten begangen wurde und die Verfälschungen keinen Kandidaten entscheidend begünstigt oder benachteiligt haben. Somit kam letztendlich in dem Endergebnis, das Abdullah Abdullah (45,00 Prozent) und Ashraf Ghani (31,56 Prozent) auf den ersten beiden Plätzen und eindeutig vor dem abgeschlagenen drittplatzierten Zalmai Rassul (11,37 Prozent) verortete, der Wille der Wähler zum Ausdruck. Der Verlauf des ersten Wahlganges wurde von vielen Wählern und afghanischen, wie internationalen, Beobachtern als akzeptabel und teilweise besser als erwartet bewertet. In der Wahrnehmung zahlreicher Afghanen legten Verlauf und Ergebnis des Wahlganges vom 5. April die Schlussfolgerung nahe, dass der erste Urnengang zwar noch keinen Sieger, aber doch zwei Verlierer hervorgebracht hat. Aufgrund des Unvermögens, den Wahlablauf bis dahin entscheidend zu beeinträchtigen und angesichts der unerwartet hohen Wahlbeteiligung sahen viele Afghanen in den Taliban die eigentlichen Verlierer des ersten Wahlganges. Als zweiter Verlierer galt der noch amtierende Präsident Karzai, dem es nicht gelungen war, Zalmai Rassul, den viele Afghanen als Karzais Kandidaten und möglichen künftigen ‚Stellvertreter‘ sahen, in die Stichwahl zu bringen. Letztendlich wurden allein die planmäßige Durchführung der Wahl am 5. April und die weitgehende Einhaltung des ursprünglichen Wahlkalenders als Erfolg gewertet.

Mit der Abhaltung des zweiten Wahlgangs am 14. Juni, ‚nur‘ 17 Tage verzögert gegenüber dem von vornherein als kaum einhaltbar geltenden Wahlkalender, begann sich der bis dahin als positiv gewertete Verlauf des Wahlprozesses in eine problematische Richtung zu entwickeln. In den 48 Stunden nach Schließung der Wahllokale gingen mehr als 2.500 Beschwerden über Wahlbetrug bei der Wahlbeschwerdekommission ein und insbesondere das Abdullah-Lager erhob schwere Vorwürfe gegen die andere Seite, die von Abdullah Abdullah der Wahlmanipulation in „industriellem Ausmaß“ bezichtigt wurde. Die Hinweise auf ‚ballot stuffing‘ in erheblichem Ausmaß relativierten schnell die anfängliche Euphorie über die erneut unerwartet hohe Wahlbeteiligung.

Am 29. Juni ließ der Wahlkampfleiter Abdullah Abdullahs verlautbaren, dass sein Team jedwede weiteren Schritte der IEC als illegal betrachten würde. Als diese dann am 7. Juli ein vorläufiges Ergebnis bekannt gab, demzufolge Ashraf Ghani mit etwas mehr als einer Million Stimmen vorne lag (56,44 Prozent für Ghani und 43,56 für Abdullah), spitze sich die Lage in Afghanistan dramatisch zu. Noch am Tag der Bekanntgabe dieses vorläufigen Ergebnisses gaben zwei ehemalige Kriegsherren, die zu den mächtigsten Unterstützern Abdullah Abdullahs gehören, der Gouverneur von Balkh, Atta Mohammad Noor, und der Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Mohammad Mohaqeq, Erklärungen ab, in denen sie das Recht auf die Regierungsbildung für das Abdullah-Lager beanspruchten, von der Möglichkeit der Bildung einer Parallel-Regierung sprachen und Demonstrationen ankündigten.

Zudem erklärte sich Abdullah Abdullah am 8. Juli zum Sieger der Präsidentschaftswahlen, woraufhin Beobachter ihre Befürchtungen ausdrückten, dass es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhängern beider Lager kommen könnte. In der Tat fanden in den folgenden Tagen Demonstrationen – in Kabul von bis zu 10.000 - der Anhänger Abdullah Abdullahs statt, die in ihrem Ausmaß jedoch weit hinter den Erwartungen des Abdullah – Lagers beziehungsweise den Befürchtungen der internationalen Gemeinschaft zurück blieben.

Nachdem US-Präsident Barack Obama am 9. Juli Abdullah Abdullah in einem Telefongespräch zur Zurückhaltung und Besonnenheit aufgerufen hatte, verhandelte US-Außenminister John Kerry zwischen dem 10. und 12. Juli in Kabul mit beiden Kandidaten. Nach zähen Unterredungen und ständigem Hin-und Herpendeln zwischen Abdullah Abdullah, Ashraf Ghani und dem noch amtierenden Präsidenten Hamid Karzai, verkündeten der US-Außenminister und die beiden Präsidentschaftskandidaten am 12. Juli in einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass sie sich auf die Durchführung eines umfassenden Überprüfungsprozesses der Stichwahl (‚audit‘) sowie die Bildung einer Einheitsregierung geeinigt hätten.

‚Audit‘ und Bildung der Einheitsregierung

Für den Überprüfungsprozess wurden zunächst mit Hilfe der ISAF sämtliche etwa 23.000 Wahlurnen nach Kabul geflogen. Dort begann am 18. Juli unter der Aufsicht der IEC und der Vereinten Nationen die Überprüfung der mehr als acht Millionen Stimmzettel. Die Überprüfungskriterien für die faktische Neuauszählung wurden maßgeblich von der UNAMA sowie der IEC vorgegeben. Aufgrund von Uneinigkeiten über diese Kriterien wurde der Überprüfungsprozess, an dem etliche hundert nationale Beobachter und eine noch größere Zahl an internationalen Beobachtern beteiligt waren, mehrfach angehalten. Bis Ende August waren Beobachter aus beiden Wahlkampfteams an dem Überprüfungsverfahren beteiligt. Nachdem Abdullah Abdullah seine Mannschaft aus Protest über den gravierenden Wahlbetrug abzog, wurde auf Drängen der UNAMA auch das Ghani-Team ausgeschlossen, so dass der Prozess ausschließlich durch „unabhängiges“ afghanisches und internationales Personal fortgesetzt wurde. Letztendlich verkündete die IEC am 5. September, dass die Überprüfung sämtlicher Wahlurnen des zweiten Wahlganges am Vorabend zu Ende gegangen sei.

Einige der internationalen Beobachter vertreten die Auffassung, dass trotz des erheblichen Wahlbetruges zu erkennen gewesen sei, dass Ashraf Ghani mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Stimmen erringen konnte, als sein Kontrahent. Andere wiederum räumten, wenn auch oftmals nicht offen, ein, dass die Wahlmanipulation in einem solch erheblichen Ausmaß stattgefunden hat, dass der zweite Wahlgang nicht mehr voll umfänglich zu bereinigen gewesen sei. Vor, nach und während des etwa siebenwöchigen Überprüfungsprozesses war die politische Situation in Kabul extrem angespannt. Den ständigen Meldungen über das mögliche vollkommene Scheitern des Wahlprozesses, bevorstehende Ausschreitungen und gar Spekulationen über einen (Militär-)Putsch war kaum zu entnehmen, ob sie gänzlich auf Gerüchten beruhten oder teilweise berechtigt waren. Dies führte phasenweise zu einer erheblichen Verunsicherung in Teilen der Bevölkerung und verursachte einen monatelangen Stillstand der ohnehin schwächelnden afghanischen Wirtschaft. Zudem bestärkte diese Situation die Skeptiker und Gegner der Demokratisierung Afghanistans und stärkte in der Wahrnehmung vieler Afghanen die militante Opposition.

Der Unterzeichnung der Vereinbarung über eine Einheitsregierung am 21. September durch Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani waren wochenlange Verhandlungen vorausgegangen, die parallel zur Neuauszählung der Stimmen des zweiten Wahlganges stattfanden. Im Vorfeld der Stichwahl hatten sich die meisten im ersten Wahlgang ausgeschieden Kandidaten und deren Teams entweder auf die Seite Abdullah Abdullahs oder Ashraf Ghanis gestellt. Somit hatten beide zusammengenommen einen Großteil der relevanten politischen und gesellschaftlichen Akteure in Afghanistan, von Einzelpersonen über Parteien, Jugend- und Frauenorganisationen bis hin zu Stammesräten, mobilisiert. Dies geschah in der Regel allerdings nicht aufgrund politischer Überzeugungen oder Programmatik, sondern im Gegenzug für Versprechungen von Ämtern, Posten und den Zugang zu Ressourcen. Diese Zusagen erfolgten in der Annahme, dass, wenn die Versprechungen im Falle eines Wahlsieges eingelöst werden müssen, der gesamte Staatsapparat für die Ämter- und Postenverteilung zur Verfügung stehen würde. Als sich abzuzeichnen begann, dass sie durch eine Machtteilung nur noch die Hälfte würden liefern können, sahen sich beide Kandidaten starkem internen Druck ausgesetzt. Hinzu kam der externe Druck der internati-onalen Gemeinschaft, insbesondere der US-Regierung, den Wahlprozess in jedem Fall zum Abschluss zu bringen und eine Einigung zu erzielen. Hieran knüpften etliche Geber ihre mittel- und langfristigen finanziellen Zusagen.

Abgesehen von den Verteilungsproblemen der beiden Kontrahenten konzentrierten sich die Verhandlungen vor allem auf drei Themenkomplexe. Dies waren der Umgang mit dem Wahlergebnis, die Machtfülle beziehungsweise Kompetenzen des neu zu schaffenden Postens eines Chief Executive Officer (CEO), der später in ‚Premierminister‘ umbenannt werden soll, sowie die Aufteilung der Kabinettsposten und anderer Schlüsselämter der künftigen Administration. Eine der Forderungen Abdullah Abdullahs bestand darin, das Wahlergebnis nicht bekannt zu geben. Als dies auf inoffiziellem Wege kurz nach Unterzeichnung der Vereinbarung über die Einheitsregierung am 21. September doch geschah, kam es erneut zu Querelen, die bis kurz vor der Amtseinführung Ashraf Ghanis am 29. September anhielten. Bis zuletzt wurde spekuliert, dass Abdullah Abdullah dem Akt fern bleiben könnte.

Letztendlich sieht die am 21. September von Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani unterschriebene Vereinbarung die Einrichtung von vier neuen Ämtern vor, den Chief Executice Officer (CEO), dessen beide Stellvertreter und einen Oppositionsführer. Der CEO steht einem neu zu schaffenden Ministerrat vor und ist laut Vertragstext für die Implementierung von Kabinettsentscheidungen verantwortlich. Ferner hat er Vorschlags- bzw. Mitspracherecht bei der Besetzung von Spitzenämtern der Administration, wobei das letzte Wort allerdings beim Präsidenten zu liegen scheint. Grundsätzlich sieht der Vertragstext, der sich fast ausschließlich mit der Stellung und den Kompetenzen des CEO befasst, eine annähernd gleichwertige Machtfülle für beide Spitzenpositionen des Staates vor. Die Kompetenzen des Präsidenten ergeben sich nach wie vor im Wesentlichen aus der afghanischen Verfassung und werden durch den Vertragstext der Vereinbarung zwischen Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani nun beschränkt. Dies soll innerhalb der nächsten zwei Jahre durch eine Entscheidung der Großen Ratsversammlung (Loya Dschirga) legitimiert werden und wird zu einer Änderung oder Ergänzung der bestehenden Verfassung führen. Die Kabinettsposten und andere Spitzenämter der künftigen Regierung wurden im Zuge der Vereinbarung offenbar gleichmäßig zwischen Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani aufgeteilt.

In den ersten fünf Wochen nach Amtseinführung der beiden vormaligen Kan didaten wurde viel über die Ressortaufteilung und Personalfragen spekuliert, wobei nur wenige Personalfragen in dieser Phase geklärt wurden. Abgesehen davon, dass fast alle Minister und Provinzgouverneure als geschäftsführende Amtsträger ihre Amtsgeschäfte fortführen, wurde mit dem Ghani-Unterstützer Hanif Atmar ein neuer nationaler Sicherheitsberater ernannt. Ferner ernannte der neue Präsident Ahmad Zia Massoud zu seinem Sonderbeauftragten für Reformen und gute Regierungsführung. Außerdem scheinen sich Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani darauf geeinigt zu haben, die Spitzen der drei Sicherheitsorganisationen Armee, Polizei und Geheimdienst, also den Innenminister, den Verteidigungsminister und den Chef des National Directorate for Security (NDS) sechs Monate im Amt zu belassen und nicht zeitgleich mit den anderen Kabinettsposten neu zu besetzen.

Erste Akzente des neuen Präsidenten

Wenige Stunden nach seiner Amtsinauguration ernannte Ashraf Ghani per Präsidentenerlass Ahmad Zia Massoud zum Sonderbeauftragten für Reformen und gute Regierungsführung sowie den ehemaligen Innenminister Hanif Atmar zum Nachfolger Rangin Dadfar Spantas als nationalen Sicherheitsberater. Dieser unterzeichnete im Rahmen einer von Ashraf Ghani geleiteten Zeremonie in Gegenwart der neuen Staatsspitze am 30. September, also nur einen Tag nach Ghanis Amtseinführung, das Bilateral Security Agreement (BSA) zwischen der afghanischen und der US-Regierung sowie das Truppenstationierungsabkommen mit der NATO. Hierdurch wurden der fast ein Jahr andauernde Streit zwischen den Regierungen Afghanistans und der USA beigelegt und die Voraussetzungen für die Einrichtung der geplanten Resolute Support Mission (RSM) für die Jahre 2015 und 2016 sowie letztendlich für die weitere finanzielle Unterstützung Afghanistans durch die internationale Staatengemeinschaft geschaffen.

Zu den ersten Amtshandlungen Ashraf Ghanis gehörten Budgeteinsparungen im Bereich des Präsidentenpalastes und Personalentlassungen eigener Bediensteter sowie eine Reihe von Verordnungen und Ansprachen gegenüber Staatsbeamten und Parlamentsabgeordneten, die auf die Eindämmung der gravierenden Verschwendung von Staatsmitteln und des Amtsmissbrauches durch Spitzenpersonal des Staates abzielen. Ferner kündigte der neue Präsident unverzüglich an, den Skandal um die Kabul Bank, bei der fast eine Milliarde Dollar veruntreut worden waren, neu aufzurollen. Hiermit un-terstreicht er zwar die Ernsthaftigkeit seiner im Wahlkampf immer wieder hervorgehobenen harten Linie gegen die allgegenwärtige Korruption, setzt allerdings auch eine Reihe von Schwergewichten der afghanischen Politik, die direkt oder indirekt in die Veruntreuung der Gelder verwickelt sind, unter Druck. Ashraf Ghani kündigte Reformen im Bereich des Justizwesens, des Steuerwesens und der Spitzengliederung des Sicherheitsapparats an und scheint einen Neubeginn des Friedensprozesses und damit einhergehend eine Reformierung des Hohen Friedensrates vorzubereiten. Hierzu sind bisher wenige Details bekannt geworden.

Aufsehen in den Medien und der Bevölkerung erregten vor allem die zahlreichen, teilweise unangekündigten, Besuche des neuen Präsidenten in Dienststellen der Sicherheitsbehörden, aber auch in Krankenhäusern, dem größten Staatsgefängnis und anderen zivilen staatlichen Dienststellen. Diese neue Art der Dienstaufsicht von ‚ganz oben‘ und der teilweise schroffe Umgang Ashraf Ghanis mit Staatsbediensteten, in deren Bereich er Unzulänglichkeiten ausmachte, hat dem Präsidenten zunächst Anerkennung und die Zustimmung von weiten Teilen der Bevölkerung eingebracht.

Mittlerweile kritisieren afghanische Beobachter das Verhalten ihres neuen Staatschefs teilweise aber auch als Mikromanagement und lediglich „kosmetische oder symbolische Eingriffe“ und wünschen sich eine Fokussierung auf die Kabinettsbildung und dann das Angehen der großen politischen Fragen, wie Wirtschaftsentwicklung, Friedensprozess und das Verhältnis zu den Nachbarstaaten, vor allem Iran und Pakistan.

Fazit

Vertreter der internationalen Staatenge-meinschaft hatten als Orientierungsmaßstab für die Bewertung des Erfolges der diesjährigen Wahlen häufig die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2009 angegeben. Demnach könnten die Wahlen als ‚erfolgreich‘ angesehen werden, wenn sie in einem höheren Maße als die von Wahlbetrug, Amtsmissbrauch und Gewalt überschatteten Präsidentschaftswahlen von 2009 transparent, fair, frei und inklusiv verliefen.

Angesichts der Tatsache, dass zuletzt jeder Beteiligte nur noch gehofft hat, dass der Wahlprozess ohne Gewalteskalation irgendwie zu einem Ende gelangt und dies auch nur durch massiven äußeren Druck gelang, erscheint diese Zielsetzung, nüchtern betrachtet, verfehlt. Vor allem die Aussagen der an dem Überprüfungsverfahren (‚audit‘) des zweiten Wahlganges beteiligten Beobachter würden eine solche Bewertung des Wahlprozesses rechtfertigen.

Den gesamten Wahlprozess mit Prädikaten, wie ‚gescheitert‘ oder ‚nicht erfolgreich‘ zu versehen, wäre allerdings zu einseitig und würde positive Aspekte, vor allem das Engagement vieler afghanischer Bürger, negieren. Vereinfacht ausgedrückt war alles, was vor dem 14. Juni, einschließlich des Nominierungsverfahrens der Kandidaten und des Wahlkampfes, abgelaufen ist, akzeptabel und in vielen Bereichen besser als bei den Wahlen vor fünf Jahren. Als sich der Prozess auf einen Zweikampf zuspitzte und Personen beider Lager alle Mittel einsetzten, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen, waren die staatlichen Strukturen und Wahlinstanzen nicht stark genug, den gravierenden Verstößen, Missbräuchen und Betrügereien Einhalt zu gebieten. Dies war gleichwohl in einem Land auf dem Entwicklungsniveau Afghanistans, das sich zudem in einer extrem prekären sicherheitspolitischen Situation befindet und zeitgleich eine politische, militärische und ökonomische Transition vollzieht, kaum anders zu erwarten.

Positiv ist jedoch, dass viele Afghanen nicht bereit waren, an Demonstrationen oder gar gewaltsamen Protesten teilzunehmen, sondern der Tenor – insbesondere in den urbanen Zentren – der war, dass man mit der gewaltsamen Austragung von politischen Machtkämpfen in den 1990er Jahren bereits ausreichend Erfahrungen gemacht habe und es eine Wiederholung dessen um jeden Preis zu verhindern gälte. In diesem Zusammenhang bleibt die Hoffnung, dass die Afghanen auch aus den erheblichen Defiziten dieser Wahl lernen und im Hinblick auf künftige Wahlen Rückschlüsse vor allem in den Bereichen Wählerregistrierung sowie Beeinflussung des Wahlprozesses durch Regierungsstellen und informelle Machthaber ziehen.

Die Einigung auf eine Regierung der nationalen Einheit wird angesichts des Verlaufs des Wahlprozesses und der schwierigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Situation Afghanistans von vielen Afghanen als die ‚beste Lösung‘ angesehen. Sollte es Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah gelingen, sich auf der persönlichen Ebene zu arrangieren und einen Weg zu finden, wirklich gemeinsam zu regieren, so erscheinen eine Konsolidierung der Regierung, die Kabinettsbildung und letztendlich die Installation einer handlungsfähigen und effektiven Administration möglich. Dieser Prozess steht allerdings noch am Anfang und es ist nicht auszuschließen, dass es aufgrund von Differenzen zwischen den politischen Lagern Abdullah Abdullahs und Ashraf Ghanis oder aufgrund von persönlichen Zerwürfnissen der beiden zu einem Bruch der Einheitsregierung kommt. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte besonders relevant. Zum einen haben alle an der künftigen Regierung beteiligten Politiker keine Erfahrung mit dem neuen, aus der Vereinbarung Ashraf Ghanis und Abdullah Abdullahs resultierenden, Entscheidungsfindungsprozess. Es ist nicht klar, ob alle Beteiligten wirklich die gleiche Vorstellung davon haben, wie in Zukunft praktisch regiert und entschieden wird, das heißt vor allem, wie verfahren wird, wenn sich der Präsident und sein CEO nicht einig sind.

Ferner ist zu bedenken, dass es sich bei der Einigung auf die Einheitsregierung um eine politische Vereinbarung zwischen den beiden Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahlen 2014 handelt. Sollte beispielsweise Abdullah Abdullah von der Vereinbarung zurücktreten und sein Amt niederlegen, so wäre nicht eindeutig geklärt, wie dann zu verfahren ist. Die Forderung Abdullah Abdullahs nach einer paritätischen Machtteilung und seine Legitimität als CEO gründen sich auf das stärkste Ergebnis im ersten Wahlgang und seinen zweiten Platz in dem umstrittenen zweiten Wahlgang. Die Einheitsregierung sieht sich immensen politischen und sozio-ökonomischen Herausforderungen gegenüber gestellt, deren Bearbeitung in den einzelnen Politikfeldern erhebliches Konfliktpotential birgt. Ein Scheitern der Ashraf Ghani/ Abdullah Abdullah-Koalition würde nicht nur ein politisches Machtvakuum nach sich ziehen, sondern auch eine Reihe rechtlicher Fragen im Hinblick auf die dann notwendig werdende Neu- oder Umbildung der Regierung aufwerfen.

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Ashraf Ghani Ahmadsai und Abdullah Abdullah | Foto: Wikimedia/U.S. Department of State Wikimedia/U.S. Department of State

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