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Länderberichte

Abbas in New York

von Marc Frings

Zur Lage in den Palästinensergebieten zu Beginn der VN-Generalversammlung

Am 30. September wird Mahmud Abbas vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) sprechen. Mitte des Monats hatte er angekündigt, während seines Auftritts vor der Staatengemeinschaft eine rhetorische „Bombe platzen zu lassen“.

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Ob er, wie manche weiterhin spekulieren, tatsächlich Teile der Oslo-Friedensverträge aufkündigt, ist fraglich. Allerdings ist angesichts der aktuellen Lage in Israel und den Palästinensergebieten alles – und nichts! - möglich: eine eskalierende Lage in Jerusalem, mangelnde Fortschritte bei der nationalen Versöhnung zwischen Fatah und Hamas, Stillstand bei den Friedensverhandlungen mit Israel und zuletzt die Verschiebung wichtiger Wahlen bei der PLO zeichnen ein verworrenes Bild.

Innenpolitisch steht Präsident Abbas mit dem Rücken zur Wand: Seit 2004 steht er an der Spitze der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und seit 2005 als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vor. Sein Mandat ist bereits 2009 abgelaufen, seitdem behilft er sich mittels Präsidialdekreten und PLO-Führungsentscheidungen, seiner Amtsführung Legitimation zu verschaffen. Sein Volk wendet sich allmählich von ihm ab: derzeit wünschen sich 65 Prozent einen Rücktritt von Präsident Abbas.

PLO stärken, um Macht zu konsolidieren?

Zumindest auf PLO-Ebene sah es kurzzeitig nach Erneuerung aus: Am 22. August erklärte Abbas, und mit ihm die Mehrheit des PLO-Exekutivkomitees, ihren Rücktritt, um – so die offizielle Verlautbarung – Platz für jüngere Generationen zu machen. Eine Dringlichkeitssitzung des Palästinensischen Nationalrats (PNC) wurde daraufhin für den 14. und 15. September in Ramallah einberufen. Während der Palästinensische Legislativrat den legislativen Arm der PA bildet, vertritt der PNC Strömungen und gesellschaftliche Gruppen der PLO. Ihm gehören heute über 700 Mitglieder an. Seine größten Mankos: seit 1996 fand keine reguläre Sitzung mehr statt; zudem wird in der palästinensischen Gesellschaft darüber diskutiert, welchen Vertretungsanspruch die PLO noch hat, da Gruppierungen wie Hamas und Islamischer Jihad, die von vielen Palästinensern in West Bank, Gaza, Ostjerusalem und dem Exil unterstützt werden, nicht Mitglied dieser Organisation sind.

Zwischenzeitlich wurde die Dringlichkeitssitzung mit Verweis auf fehlende Vorbereitungszeit vertagt. Frühestens im Dezember werde man zusammenkommen, um eine neue PLO-Spitze zu wählen, so die neueste Volte. Inwieweit eine Sitzung noch in diesem Jahr in die Dramaturgie des Präsidenten passt, ist aber fraglich, weil für Ende November der erste Fatah-Parteikongress seit sechs Jahren terminiert ist. Auch hier ist offen, welche (personellen) Entscheidungen zu erwarten sind.

Am 7. September meldete sich Chalid Maschal, Leiter des Hamas-Politbüros, aus dem katarischen Exil zu Wort: Der palästinensischen Nachrichtenagentur Ma’an gab er die Forderung zu Protokoll, dass ein umfassender politischer Dialog mit allen Gruppierungen notwendig sei, um eine breite, nationale Strategie zu entwickeln. Arabische Medien spekulieren bereits, ob der von Maschal geforderte Dialog tatsächlich zustande kommen könnte: die katarische Zeitung al-Quds al-Arabi berichtete unlängst, Ägypten habe nichts dagegen einzuwenden, sollten Gespräche zwischen PLO, Hamas und Islamischer Jihad in Kairo stattfinden. Zuletzt hatte Kairo bereits die Hamas von der nationalen Terrorliste gestrichen.

Präsident Abbas steht hier unter Erfolgsdruck: Dass bisherige Bemühungen um eine nationale Aussöhnung zwischen dem Hamas-regierten Gazastreifen und dem Fatah-regierten Westjordanland bislang scheiterten, wird vor allem Abbas angelastet; mögliche Geheimverhandlungen – keine offizielle Seite bestätigt, dass Gespräche stattfinden – zwischen Hamas und Israel über einen langfristigen Waffenstillstand (Hudna) sind gut und richtig, finden sogar zwei Drittel der Palästinenser. Im Falle eines Erfolgs stünde Mahmud Abbas als unbeteiligter Dritter dar – ein Bild, das nicht in seinem (als legitimer Vertreter der Palästinenser) Interesse sein kann. Für den Präsidenten steht derzeit fest: Versöhnung zwischen Hamas und Fatah kann es für ihn nur geben, wenn die Islamisten einer Regierung der nationalen Einheit zustimmten, die mit dem Auftrag, Neuwahlen vorzubereiten, ausgestattet ist.

Eine möglicherweise erweiterte und demokratisch erneuerte PLO würde ihr allerdings keine neue Vertretungsmacht verleihen. Denn gefragt nach relevanten Politikfeldern und Herausforderungen, attestiert eine Mehrheit von 52 Prozent der Palästinenser konsequent der PA – und zu keinem Zeitpunkt der PLO – Führungskompetenz. Die PLO wird so zum Relikt der Vergangenheit, mit dem man sich innerhalb der Palästinensischen Gebiete nicht mehr identifizieren kann. Auch Wahlen innerhalb dieser Organisation würden an diesem Eindruck nichts ändern. Zudem würde dies nichts an der Teilung in einen Hamas-dominierten Gazastreifen und ein Fatah-dominiertes Westjordanland ändern.

Welche Strategie Präsident Abbas mit der Einberufung von Neuwahlen für die PLO-Führungsetage letztlich verfolgte, bleibt vorerst sein Geheimnis. Zwar ließ er erklären, er werde nicht noch einmal für den PLO-Vorsitz kandidieren, doch es mehren sich Stimmen, die dem 80-jährigen Ambitionen auf eine Machtkonsolidierung nachsagen. Dafür spricht, dass er unlängst seinem Generalsekretär in der PLO, Yasser Abed Rabbo, das Vertrauen entzog und durch Saeb Erekat, seinem langjährigen Vertrauten und Chefunterhändler der Palästinenser für Friedensgespräche mit Israel, ersetzte. Abed Rabbo wurde nachgesagt, zum Kreis um Muhammad Dahlan dazugestoßen zu sein. Als damaliger Sicherheitschef des Gazastreifens wird Dahlan von Abbas dafür verantwortlich gemacht, dass man während des „Bruderkampfs“ zwischen Fatah und Hamas 2007/2008 den Gazastreifen an die Islamisten verlor. 2011 wurde Dahlan seiner Ämter enthoben, unter anderem aufgrund des Vorwurfs der Verschwörung gegen die PA-Führung, Korruption und Mordes. Seitdem lebt er im emiratischen Exil. Die Feindschaft zwischen Dahlan und Abbas wurde zuletzt auch öffentlich ausgetragen, weil ersterer wiederholt öffentlich politische Versäumnisse des letzteren anprangerte. Die Ernennung Erekats, die durch den PNC noch bestätigt werden muss, ist letztlich die einzige personelle Weichenstellung der vergangenen Wochen.

Die öffentliche Debatte rund um die PNC-Sitzung kreiste ausschließlich um Fragen nach Namen und Personalrochaden. Angesichts der aktuellen Lage in den Palästinensergebieten die falsche Priorität: Im Gazastreifen herrscht aufgrund des nur schleppend anlaufenden Wiederaufbaus nach dem jüngsten Krieg im Sommer 2014 eine humanitäre Katastrophe, die Wirtschaft in den Palästinensischen Gebieten schrumpft erstmals seit Jahren wieder und Korruptionsfälle innerhalb der PA häufen sich. Statt Problem- und Krisenbewältigung, so die öffentliche Wahrnehmung, dreht sich in Ramallah indes alles um Machtfragen. Somit reist Abbas auch intern angeschlagen nach New York, weil die angekündigte Erneuerung der PLO-Spitze verschoben ist.

PA wichtig, aber reformbedürftig

Zwar wird, wie oben beschrieben, die PA im direkten Vergleich zur PLO als die politisch relevantere Institution betrachtet, indes zeigt sich die Bevölkerung maßlos enttäuscht vom jüngsten Agieren ihrer politischen Vertretung. Eindrücklich wird dies bei der Bewertung der Sicherheitslage: Zwei Drittel wünschen sich, dass die PA komplett für die Sicherheit in den Palästinensischen Gebieten verantwortlich sein sollte. Zugleich finden aber genauso viele Bürgerinnen und Bürger, dass die PA nicht genug Anstrengungen unternimmt, um die Sicherheit der Bewohner im Westjordanland zu gewährleisten. Derzeit werden, entsprechend der Oslo-Friedensabkommen, Sicherheitsfragen zwischen Israelis und Palästinensern koordiniert, sodass die palästinensische Polizei nicht überall, so insbesondere nicht in den israelisch verwalteten C-Gebieten, patrouillieren kann. So festigt sich auch ein kritisches Narrativ angesichts der Geschehnisse in dem palästinensischen Dorf Duma: Auf dem Höhepunkt der sog. „Preisschild-Attacken“ (Übergriffe jüdischer Extremisten aus den israelischen Siedlungen auf Palästinenser) wurde Ende Juli ein Brandanschlag auf das Haus der Familie Dawabsha verübt. Die Eltern und ein Kleinkind sind zwischenzeitlich an den Folgen ihrer Verletzungen verstorben, sodass der vierjährige Sohn einziger Überlebender des Angriffs ist. Das Entsetzen unter den Palästinensern angesichts dieses Angriffs richtet sich nicht nur gegen israelische Sicherheitskräfte, die bislang wenig unternahmen, um die Täter zu verfolgen, sondern auch und vor allem gegen die PA. Es festigt sich der Eindruck, dass zwar die PA als institutionelle Vertreterin der Palästinenser hohes Ansehen generiert, indes zweifelt man an der Kompetenz jener, die an ihrer Spitze stehen.

Anhaltende Unruhen in Jerusalem

Nachdem bereits im vergangenen Herbst erstmals von einer neuen Intifada die Rede war, steigt seit einigen Wochen wieder das Unruhe- und Eskalationspotenzial in Jerusalem. Bilder, die in der Tat an die Tage der ersten Intifada (1987-1993) erinnern, machten die Runde: Steine werfende palästinensische Jugendliche auf der einen, Tränengas einsetzende israelische Sicherheitskräfte auf der anderen Seite. Bislang, so lokale Quellen, wurden hunderte palästinensische Zivilisten in Ostjerusalem verletzt; ein israelischer Autofahrer starb, mutmaßlich nach einem Angriff durch Steinewerfer. Am 15. September beriet der VN-Sicherheitsrat über die Lage: Nickolay Mladenov, VN-Sonderkoordinator für den Nahostfriedensprozess, warnte davor, dass die aktuelle Lage das Potential habe, weitere Gewalt zu entflammen. Zum Verständnis: Palästinenser beobachten derzeit mit Sorge, dass vermehrt jüdische Israelis den al-Haram al-Sharif (Tempelberg) betreten, um dort zu beten. Dies indes widerspricht dem Status Quo, der nach der israelischen Besetzung von Jerusalem 1967 vereinbart worden war: Demnach befindet sich der al-Haram al-Sharif in muslimischer Verwaltung; Gläubige anderer Religionen (inkl. des Judentums) ist zwar der Besuch, nicht aber das Ausüben religiöser Handlungen auf dem Terrain erlaubt. 50 Prozent unter den Palästinensern ist überzeugt, Israel betreibe eine sukzessive Annexion und Veränderung der Heiligen Stätten auf dem al-Haram al-Sharif, mit möglichen Konsequenzen für Zugangsrechte der Palästinenser und den bisher gültigen Status Quo. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bekräftigte wiederholt, er habe keine Absicht, an der Status Quo-Übereinkunft zu rütteln. Dies änderte nichts daran, dass israelische Politiker, darunter auch Minister der aktuellen Regierung, den Tempelberg in jüngster Zeit demonstrativ für Gebete aufsuchten.

Mehr internationale Wahrnehmung

Aufgrund der Vielzahl globaler und regionaler Konflikte, hatte der Nahostkonflikt internationale Aufmerksamkeit eingebüßt. Seit dem Scheitern der Friedensinitiative von US-Außenminister John Kerry im Frühjahr 2014, finden keine strukturierten Verhandlungen mehr zwischen Israelis und Palästinenser statt. Ob Frankreich an seinem Plan festhält und in den kommenden Wochen einen Resolutionsentwurf in den VN-Sicherheitsrat einbringt, der einen neuen Fahrplan für Friedensgespräche zwischen Israelis und Palästinensern skizzieren soll, ist derzeit fraglich.

Die aktuell angespannte Lage in Jerusalem macht Mahmud Abbas wieder zu einem gefragten Ansprechpartner der internationalen Staatengemeinschaft. Das ist aus innenpolitischer Perspektive wichtig, da 80 Prozent der Palästinenser derzeit der Meinung sind, dass die arabischen Staaten die Palästina-Frage nicht als relevant betrachten. Die Ereignisse dieser Tage reihen sich zudem ein in das palästinensische Bestreben um eine „Internationalisierung“ des Nahostkonflikts. Der Höhepunkt dieser Strategie war bereits im April 2015 erreicht, als Palästina offizielles Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wurde. Damit einhergehen Forderungen der Bürgerinnen und Bürger, die die palästinensische Führung in naher Zukunft nicht wird erfüllen können. So verlangen 88 Prozent, dass die palästinensische Führung die israelische Regierung für die fortlaufenden Siedleraktivitäten in Ostjerusalem und Westjordanland vor dem IStGH zur Verantwortung rufen soll.

Abbas‘ Rede vor der Generalversammlung

Am 16. September stellte Präsident Abbas in einem Interview mit al-Quds al-Arabi die eingangs erwähnte „Bombe“ in Aussicht, zerstreute kurze Zeit später aber Spekulationen, eine Aufkündigung von Teilen der Oslo-Abkommen aus den 1990er Jahren stünde bevor. Aus seinem Beraterkreis wurde zuvor auf die Frustration verwiesen, angesichts der Blockade bei den nahöstlichen Friedensgesprächen. So wurde der Eindruck vermittelt, Abbas werde „den Schlüssel an Israel zurückgeben“, das heißt eine sukzessive Auflösung der im Rahmen von Oslo geschaffenen Autonomiebehörde würde eingeleitet. Ein Ansatz, so wird derzeit gemutmaßt, könnte die Forderung sein, die Staatengemeinschaft möge Palästina als „Staat unter Besatzung“ anerkennen. Dies indes als „Bombe“ zu bezeichnen, wäre zu hoch gegriffen. Relevant werden mögliche Konsequenzen sein, wie beispielsweise das Aufkündigen der Oslo-Verträge. Dies wiederum kann nicht im präsidialen Alleingang passieren, sondern erfordert eine breite Legitimation im Rahmen der PLO, die in den 1990er Jahren für die Friedensgespräche verantwortlich war.

Fazit

In seinem elften Regierungsjahr ist Abbas‘ Amtsmüdigkeit angesichts mangelnder Erfolge auf innen- und außenpolitischer Ebene unübersehbar. So kann er das Volk weder von seinem diplomatischen Ziel – die Lösung des Nahostkonflikts im Sinne einer Zweistaatenlösung – überzeugen, noch setzt er sich an die Spitze jener Bewegung, die zurück zum zivilen, möglicherweise auch gewaltsamen Widerstand gegen die israelische Besatzung aufruft. Hier liegt das Dilemma: Wenn Abbas, so die vorherrschende Meinung, weiterhin an eine gerechte und friedliche Zweistaatenlösung glaubt, muss er mehr Überzeugungsarbeit unter den Palästinensern leisten, um verlorengegangenes Vertrauen – in seine Position und in diese politische Vision – zurückzugewinnen. Gleichzeitig wären klare Aus- und Absagen angesichts der aufflackernden Gewalt in Jerusalem wichtig, um seine Distanz zu alternativen, möglicherweise gewaltsamen Strategien zur Schaffung eines Palästinenserstaates zu markieren. Heute unterstützen die Palästinenser nur noch zu 48 Prozent eine Zweistaatenlösung, 42 Prozent betrachten bewaffnete Aktionen als probates Mittel zur Erreichung eines eigenen Staates.

Eine für die PNC-Wahlen Mitte September angekündigte „Rede an das Volk“ wurde gestrichen. Da er in keinem seiner drei Führungsämter an der Spitze von PA, PLO und Fatah Stellvertreter und potenzielle Amtsnachfolger aufgebaut hat, gibt es faktisch auch niemanden, der für ihn und für die politische Führung der Palästinenser sprechen kann. So stellt sich die Frage, ob die Rede in New York nicht besser das palästinensische Volk zum Adressaten haben sollte.

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