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Ein Jahr nach Minsk: Was ist aus der Chance für den Frieden geworden?

von Gabriele Baumann, Moritz Junginger
Die Minsker Vereinbarung von Februar 2015 galt als Hoffnungsschimmer zur Konfliktbeilegung im Donbas. Doch ein Jahr danach sterben nach wie vor fast täglich Soldaten und Zivilisten. Keiner der 13 Punkte des Abkommens wurde bisher umgesetzt. Nur die hochrangigen Normandie-Gespräche scheinen noch Impulse im Friedensprozess setzen zu können.

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Nach einer langen Verhandlungsnacht verkündeten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident François Hollande am 12. Februar 2015 den Durchbruch. Die Ukraine und Russland hatten sich unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs auf ein Waffenstillstandsabkommen geeinigt, das auch von den pro-russischen Separatisten unterschrieben wurde. Kernpunkte sind neben dem Waffenstillstand und Rückzug schwerer Waffen unter anderem der politisch umstrittene Sonderstatus für die besetzten Gebiete, die Durchführung von Kommunalwahlen, die ukrainische Kontrolle über die Grenze sowie Amnestien und Gefangenenaustausch.

Die Bundeskanzlerin betonte in Minsk, dass sich die Vermittler keinerlei Illusionen hingeben würden, aber nun immerhin ein „Hoffnungsschimmer“ und eine „reale Chance“ für den Frieden bestehen. Doch trotz der Bemühungen konnte die Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bisher keine vollständige Einhaltung der Waffenruhe oder den kompletten Abzug schwerer Waffen feststellen. Die Verhandlungen in der politischen, der humanitären und der wirtschaftlichen Arbeitsgruppe der Trilateralen Kontaktgruppe verlaufen stockend und weitgehend ergebnislos. Minsk hätte bis Ende 2015 umgesetzt werden sollen und wurde nun auf unbestimmte Zeit verlängert.

Was ist aus der Chance für den Frieden geworden? Die anfänglich vorsichtige Hoffnung ist verpufft. Im Winter 2015 kann jeder Dritte Ukrainer der Minsker Vereinbarung nur noch Negatives abgewinnen. Minsk ist ein Ausdruck der Frustration und der gegenseitigen Vorwürfe geworden.

Ein Waffenstillstand, der keiner ist: Verstöße sind Alltag entlang der Kontaktlinie

Der Waffenstillstand ist ein blutiger. Kaum ein Tag vergeht ohne Schusswechsel und Opfer. Trotz Waffenstillstandsvereinbarung hat der Konflikt seit Mitte Februar 2015 mehr als 3400 Menschen das Leben gekostet. Insgesamt beläuft sich die Opferzahl auf fast 9100 Menschen. Mit der Eroberung des Verkehrsknotenpunkts Debaltsewe durch die Separatisten am 18. Februar 2015 wurde das Abkommen nur wenige Tage nach der Unterzeichnung bereits gebrochen. Obwohl es seitdem keine nennenswerten Verschiebungen der Gefechtslinie gab, fordern Stellungskämpfe, Artilleriebeschuss und Minen viele Opfer. Die bisher stabilste Ruhephase im September und Oktober 2015 führte zu einem Rückgang der zivilen Opfer, konnte aber nicht in einen dauerhaften Waffenstillstand überführt werden. Selbst die „Waffenruhe im Waffenstillstand“ über Neujahr und das orthodoxe Weihnachtsfest wurde direkt nach der Aushandlung mit Schusswechseln gebrochen.

Schwere Waffen kommen weiterhin zum Einsatz

Der Abzug schwerer Waffen ähnelt einem Katz- und Maus-Spiel. Den OSZE-Beobachtern wird häufig genau dort der Zugang verwehrt, wo schwere Waffen zum Einsatz kommen. So berichtet der stellv. Leiter der OSZE-Beobachtermission Alexander Hug, dass Gebiete mit schweren Kampfhandlungen und Gebiete mit Zugangsrestriktionen häufig übereinstimmen. Die Beobachter können außerdem nur schwer verifizieren, ob Waffen tatsächlich endgültig das Kampfgebiet verlassen haben oder an anderer Stelle erneut stationiert werden. Eine Erhöhung der OSZE-Beobachter auf 800, neue vorgelagerte Beobachtungspunkte auf beiden Seite der Kontaktlinie und der verstärkte Einsatz von Aufklärungsdrohnen sollen helfen, den Abzug besser überwachen und Verletzungen genauer dokumentieren zu können.

Mehr als 400 km unkontrollierte Grenze

Da die OSZE-Grenzbeobachtungsmission auf nur zwei Übergänge entlang der Ukrainisch-Russischen Grenze begrenzt ist, können illegale Übertritte und Waffenlieferungen auf den 409 km Grenze weder festgestellt noch verhindert werden. Zu anderen Grenzabschnitten müsste die OSZE zwar Zugang erhalten, doch insbesondere in Luhansk wird sie nicht bis an die Grenze gelassen. Die Minsker Vereinbarung sieht die Rückkehr zur ukrainischen Kontrolle der Grenze nach den Kommunalwahlen vor. Diese Reihenfolge der Umsetzung ist in Kiew äußerst umstritten.

Politisch höchst umstritten: Sonderstatus und Kommunalwahlen

In der Ukraine ist ebenfalls der „Sonderstatus“ für die besetzten Gebiete einer der strittigsten Punkte. Kiew befürchtet, dass dadurch eine Hintertür für russische Einflussnahme in die ukrainische Politik geschaffen wird. Der ukrainische Präsident Poroschenko versucht daher den politischen Spagat: Eine Änderung der ukrainischen Verfassung soll den besetzten Gebieten eine lokale Selbstverwaltung ermöglichen, aber eine umfassende Autonomie und Föderalisierung verhindern. Moskau und die Separatisten lehnen diesen Vorschlag strikt ab.

Auch innenpolitisch ist die Verfassungsänderung kaum durchsetzbar. Bei der ersten Abstimmung am 31. August 2015 kam es zu Protesten mit mehreren Toten vor dem Parlament. Eine der Koalitionsfraktionen verließ die Regierung. Die Parteien Batkiwschtschyna und Samopomitsch drohen ebenfalls mit dem Austritt. Die Verfassungsänderung hätte bis zum 2. Februar 2016 mit 300 Stimmen in zweiter Abstimmung angenommen werden müssen, doch kam es nicht dazu. Nun bleibt abzuwarten, ob das Verfassungsgericht eine erneute Abstimmung bis Juli 2016 ermöglicht oder sich die Verfassungsreform unbestimmt verzögert.

Ebenfalls hoch umstritten sind die Kommunalwahlen, die laut Minsker Vereinbarung nach ukrainischem Recht und OSZE-Standards in den besetzten Gebieten stattfinden sollen. Eine Beteiligung von ukrainischen Parteien und Medien lehnen Luhansk und Donezk bisher allerdings ab. Zusätzliche Sprengkraft steckt in der Frage, ob die 2 bis 2.5 Mio. (Binnen-) Flüchtlinge wählen dürfen. Ungeklärt ist außerdem, wie freie und faire Wahlen unter den Augen bewaffneter Separatistengruppen durchgeführt werden sollen. Aus Donezk wird über die Gründung von „Parteien“ berichtet, mit denen sich die Separatistenführer wählen lassen wollen. Nachdem sie auf Druck Moskaus im Herbst 2015 keine Wahlen durchführten, kündigten sie diese für den 21. Februar und 20. März 2016 erneut an. Allein die Wahlbeobachtung durch die OSZE würde allerdings 90 Tage Vorbereitungszeit benötigen.

Amnestien: Die schwierige Balance zwischen Frieden und Recht

Die Minsker Vereinbarung enthält eine Amnestie-Klausel, deren Erfüllung Donezk und Luhansk als Voraussetzung für den Gefangenenaustausch erachten. Pauschal-Amnestien stoßen allerdings nicht nur bei der ukrainischen Regierung auf Ablehnung. Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass ein Frieden um jeden Preis die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auf beiden Seiten verhindert. Darunter fallen willkürliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, der Einsatz von weltweit geächteter Streumunition und Folter von Gefangenen. Zu deren Aufklärung hat sich die Ukraine nicht zuletzt mit der Anerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshof verpflichtet.

Gefangenaustausch als Druckmittel

Die Minsker Vereinbarung sieht einen Gefangenenaustausch „aller gegen alle vor“. Doch in der Praxis werden nur kleine Gruppen ausgetauscht, zuletzt scheiterte ein solcher Austausch im Januar 2016. Die Separatisten sprechen von mehr als 1000 Gefangenen auf ukrainischer Seite, schließen aber auch vor dem Konflikt Inhaftierte mit ein. Auf Separatistenseite werden nach wie vor 133 Ukrainer gefangen gehalten. Da aber nur vier davon vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz besucht werden dürfen, vermutet Kiew mittlerweile, dass viele bereits tot sind und nur für Verhandlungszwecke missbraucht werden.

Angespannte humanitäre Situation und rechtsfreie Räume in Donezk und Luhansk

In den besetzten Gebieten bemühen sich die selbsternannten „Volksrepubliken“ ein Bild von Normalität und geregeltem Alltag zu vermitteln. Es wird öffentlichkeitswirksam von der Auszahlung von Renten berichtet. Doch die Realität ist eine andere. Die Verwaltung ist chaotisch. Die Auszahlung der Gehälter wurde nach monatelanger Unterbrechung mit russischer Unterstützung erst im April 2015 wiederaufgenommen. Das lässt sich Moskau laut Berichten bis zu 1 Mrd. Euro jährlich kosten. Die Lebensmittelpreise haben sich fast verdreifacht. Dem gegenüber stehen Einkommen, die dreimal niedriger sind als in den nicht-besetzten Gebieten. Laut Vereinten Nationen sind 2,7 Mio. Menschen auf Hilfe angewiesen. Umso schwerer wiegt, dass internationalen Hilfsorganisationen trotz Zusagen im Minsker Abkommen der Zugang verwehrt wird. Nur 11% der verfügbaren Hilfslieferungen konnten im Dezember 2015 zugestellt werden.

Donezk und Luhansk sind rechtsfreie Räume. Ukrainische Fernsehkanäle wurden verboten und Internetseiten blockiert. Bewaffnete Gruppen kontrollieren teils überlappende Einflusszonen. Um verschleppt zu werden, muss man nicht offen pro-ukrainisch sein. Menschen, die sich für die humanitäre Unterstützung der Bevölkerung engagieren, werden zum Ziel von Verhaftungen. Erpressung oder die Übernahme lukrativer Unternehmen sind häufige Motive. Beobachter berichten von systematischen Menschenrechtsverletzungen in illegalen Gefängnissen. Bis zu 86% der gefangenen Soldaten und 50% der Zivilisten wurden demnach gefoltert.

Das Bild, dass die Menschen in den besetzten Gebieten geschlossen die Separatisten unterstützen und alle anderen geflohen sind, trifft nicht zu. Viele, insbesondere Ältere und sozial Schwächere, konnten es sich nicht leisten, ihren Wohnort zu verlassen. Offenen Widerstand gegen die Separatisten gibt es abgesehen von einigen wenigen Protesten von Minenarbeitern in der repressiven Atmosphäre allerdings nicht. Die Einstellung ukrainischer Sozialleistungen, die Wirtschaftsblockade und der Beschuss durch die ukrainische Armee haben aber auch dazu geführt, dass die Feindseligkeit gegenüber Kiew stetig zunimmt. Die Verhandlungen über die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen, wie in der Minsker Vereinbarung vorgesehen, verlaufen schleppend. So müssen nach wie vor Tausende Menschen täglich die Fahrt durch das verminte Niemandsland und stundenlange Wartezeiten an Kontrollposten in Kauf nehmen, um lebenswichtige Medikamente, Lebensmittel und Sozialleistungen auf regierungskontrolliertem Gebiet zu erhalten.

Moskaus Unterschrift ohne Konsequenz?

Mit der Unterschrift unter der Minsker Vereinbarung hat sich Moskau für die vollständige Umsetzung verpflichtet. Obwohl Moskau abstreitet, Kontrolle über die Separatisten zu haben, ist diese sowohl finanziell auch als personell klar nachweisbar. Daher hat es Moskau in der Hand, die Separatisten zur Umsetzung der Minsker Vereinbarung zu bewegen. Darüber hinaus muss Russland die geschätzt 15.000 russischen Freiwilligen und 9.000 regulären Soldaten unverzüglich aus der Ostukraine abziehen und Waffenlieferungen einstellen. Die Sanktionen der EU wurden im Dezember 2015 für weitere sechs Monate verlängert. Sie müssen so lange in Kraft bleiben, bis Russland seine Verpflichtungen aus der Minsker Vereinbarung umfassend erfüllt.

Neue Impulse für die Ostukraine beim Normandie-Treffen in München?

Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz werden die Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland im Normandie-Format voraussichtlich am 13. Februar 2016 die festgefahrene Situation diskutieren. Es ist zu hoffen, dass dieses Treffen fast genau auf den Tag ein Jahr nach Unterzeichnung der Minsker Vereinbarung den Friedensprozess wiederbeleben und neue Impulse für eine Konfliktlösung setzen kann.

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