Asset-Herausgeber

von Rainer Bucher

Perspektiven für die eine gefährdete Welt

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Am 15. Mai 2014 eröffnete der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in Wuppertal einen Zukunftskongress der Evangelischen Kirche in Deutschland. In einer bemerkenswerten Rede forderte er von seiner Kirche, es sich nicht zu leicht zu machen in dieser Gesellschaft, vielmehr eine moralische und spirituelle Avantgarde zu sein, eine eigensinnige, von ihrer Aufgabe zutiefst überzeugte Gemeinschaft, die vernehmbar und verstehbar von Gott spreche.

Gut zweieinhalb Jahre vorher hatte Papst Benedikt XVI. vor dem versammelten deutschen Katholizismus in Freiburg angemerkt, dass Macht die Kirche potenziell korrumpiere und die Vertreibung der Kirche von der Macht in den Säkularisierungsprozessen der Neuzeit auch ihr Gutes gehabt habe. Denn die Kirche zeige immer wieder die Tendenz, sich in dieser Welt einzurichten, selbstgenügsam zu sein und sich den Maßstäben der Welt anzugleichen. Man wird Benedikt XVI. wie Gauck zustimmen können, wenn auch eine gewisse Ironie nicht zu übersehen ist: Da fordert der Papst, das letzte absolute Staatsoberhaupt Europas, Machtverzicht und ein evangelischer Pastor als Bundespräsident vom Protestantismus mehr Distanz zu Staat und Gesellschaft.

Warum aber forderte der damalige Papst von seiner Kirche Distanz zu ihren eigenen verkrusteten Institutionalisierungen und der pastorale Bundespräsident Gauck von seiner Kirche Distanz zur deutschen Gesellschaft und ihrem Mainstream? Sie haben gute theologische Gründe dafür. Nur eine „entweltlichte Kirche“, so Benedikt XVI., könne wirklich offen sein „für die Anliegen der Welt“ und „die Herrschaft der Liebe Gottes bezeugen“. Es ginge in den Kirchen darum, so Gauck, „uns mit Maßstäben zu konfrontieren, die oft quer zu dem stehen, was wir uns selber so schön ausgedacht haben“. Beides sei in der aktuellen Konstellation gefährdet.

Mitarbeiten in der „Liquid Modernity“

Warum traut der Papst der stolzen katholischen Institutionalität nicht mehr so recht und Gauck nicht mehr dem eindrucksvollen Versuch des Protestantismus, zum eigentlichen, besseren Betriebssystem des modernen Staates zu werden? Es ist eine Ahnung, dass wir nicht mehr auf den Kontinenten der Sicherheit, sondern auf dem offenen Meer einer „liquid modernity“ sind. Wir „spüren vielleicht noch mehr, als wir wissen“, so Gauck, „dass sich große Veränderungen vollziehen – und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem fremdgesteuerten Schiff sein wollen“. Die Welt müsse sich, so Papst Benedikt XVI., „immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen“.

Gauck und Benedikt XVI. sind nicht mehr im Amt. Aber die von ihnen analysierten Konstellationen bestehen, und sie verschärfen sich angesichts der weltpolitischen Entwicklungen seither eher noch. Die drei mächtigsten Männer der Welt sind gegenwärtig ein ehemaliger KGB-Offizier, ein amerikanischer Hyper-Kapitalist und ein „kommunistischer“ Politikfunktionär. Der eine hat sich seiner alten tschekistischen Destabilisierungstechniken erinnert und sie gegen die Ukraine in ihrer altbekannten, gegenüber dem Westen in modernisierter digitaler Form eingesetzt. Der andere gedenkt, die hegemoniale Großmacht dieser Welt offenkundig nach der Logik eines aggressiven Großkonzerns zu führen, der dritte schreitet energisch voran beim Beweis, dass Kapitalismus und liberale Demokratie mithilfe einer repressivpaternalistischen Einparteienherrschaft auf Dauer erfolgreich entkoppelt werden können.

Putin, Trump und Xi Jinping repräsentieren große Versuchungen der globalisierten Kultur des Jahres 2017: Putins illiberale kapitalistische Demokratie, Trumps Demokratie als Kapitalismus und Xi Jinpings Kapitalismus ohne Demokratie versprechen, die Vorteile der kapitalistischen Dynamisierung genießen zu können, ohne deren Kosten bezahlen zu müssen. Es sind vor allem spezifische kulturelle Verunsicherungserfahrungen, die man vermeiden möchte, nicht zuletzt übrigens jene, welche die Auflösung der alten patriarchalen Geschlechterordnung produziert. Und es geht darum, die ethischen Anforderungen von Gerechtigkeit zu umgehen. Diese drei Männer missachten daher offensiv das Gemeinwohl einer globalisierten Zivilisation, und genau dafür findensie den Beifall ihrer Anhänger.

Ausgerechnet das alte Europa, das selbst von Papst Franziskus in seiner Rede vor dem Europaparlament kritisch gesehen wurde und in seinem Bürokratismus wie in seinen überkomplexen Abstimmungsmechanismen tatsächlich an das untergegangene Alte Deutsche Reich erinnert, ausgerechnet dieses alte Europa, geführt übrigens von einer Frau und protestantischen Christdemokratin, erscheint da noch als der letzte Hort der normativen Aufladung der Demokratie mit Freiheitsund Menschenrechten, ja letztlich sogar mit einer geläuterten Version der alten Aufklärungs- und Fortschrittsidee.

Vatikanische Perspektiven

Der Kapitalismus ist die „gewinnorientierten Verwaltung der Welt“ (Jean-Luc Nancy), das Christentum die Aufforderung zum Tanz in den Armen von Gottes Gnade (Madeleine Delbrêl). Trump, Putin, Xi Jinping: Sie verkörpern in je eigener Weise jeweils lupenrein die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Ein größerer Gegensatz zum Tanz in den Armen der Gnade Gottes ist kaum denkbar. Papst Franziskus vertritt diesen Gegensatz offensiv. Aus der Perspektive des Vatikans unter Papst Franziskus geht es wirklich um die Zukunft der Welt. Franziskus spricht gar sehr hart von einem „Dritten Weltkrieg“, der schon begonnen habe.

Im Kern ist es eine alte christdemokratische Hoffnung, die dieser Papst verkörpert: einen Weg zu finden zwischen der kritiklosen Bejahung des kapitalistischen Fortschritts einerseits und der Sehnsucht nach vergangenen, aber verlorenen Ordnungen andererseits. Es geht darum, einen Weg zu finden, die unbestreitbare Dynamik der Marktwirtschaft und die notwendige Gemeinwohlorientierung miteinander zu verbinden, aber auch um liberale Emanzipationsbestrebungen und die Anerkennung lebensnotwendiger und lebensdienlicher Bindungen. Existenziell geht es in der globalisierten Zivilisation der Gegenwart zudem darum, weder dem kritiklosen konsumistisch-kapitalistischen Leerlauf noch der identitär-fundamentalistischen Reaktion darauf, wie sie sich in allen Weltreligionen epidemisch verbreitet, zu verfallen.

All dies ist auch die Aufgabe einer zeitgemäßen Christdemokratie und speziell des politischen Katholizismus in ihr. So sehr nämlich der politische Katholizismus nach dem Krieg etwa die Neugestaltung der Bundesrepublik Deutschland prägte, so ist doch auch unübersehbar, dass er nach und nach seine politische Kreativität verlor. Wofür sollte er auch noch stehen? Auf seine klassischen Themen – Rechte der katholischen Kirche, Rechte der Familie, Option für eine sozial balancierte Marktwirtschaft jenseits von Sozialismus und Liberalismus – hat er entweder kein Monopol mehr, so bei der Sozialen Marktwirtschaft, oder es besteht kaum mehr politischer Handlungsbedarf wie bei den „Rechten der Kirche“.

Die zentrale Herausforderung der Gegenwart, auf die tatsächlich neue Antworten gefunden werden müssen, ist der globalisierte, nicht sozial eingehegte Kapitalismus mit seinen weitreichenden Auswirkungen auf ganz unterschiedliche menschliche Existenzfelder. Die Christdemokratie muss nicht mehr zwischen einer vormodern getakteten Kirche und einer modernen Gesellschaft vermitteln, sondern zwischen einem global weitgehend unregulierten Kapitalismus und religiös-fundamentalistischen Antworten auf ihn.

Papst Franziskus entwickelt diese Perspektive. Er setzt sich dafür ein, allen kulturellen, sozialen und ökonomischen Ausgrenzungen zu wehren. Denn die Option für die Menschenrechte jedes und jeder Einzelnen wird an den Rändern des Gemeinwesens entschieden, dort, wo sozial, religiös oder wie auch immer Marginalisierte schließlich ganz aus dem „Wir“ ausgeschlossen werden, begrifflich, rechtlich oder sozial. Sich für diese vom Ausschluss Bedrohten einzusetzen, ist nicht nur christliche Pflicht, sondern auch Kampf um die eigene Freiheit. Denn wenn Ausschlussprozesse erst einmal eingesetzt haben, ist es beliebig, bei wem sie stoppen und wen sie treffen. Hier gilt wirklich: Wer den Anfängen nicht wehrt, gefährdet sich selbst.

Feldlazarett innerhalb der spätmodernen Weltkultur

Papst Franziskus definiertdabei seine Kirche nicht als Gegenkultur, sondern als „Feldlazarett“ innerhalb der spätmodernen Weltkultur. Dieser Papst hat sich in Amoris laetitia als solidarisch gezeigt mit der Fragilität moderner Lebensentwürfe. Er beschreibt in Laudato si’ detailgenau die prä-apokalyptischen Gefahren der globalen Zivilisation und macht ganz konkrete Vorschläge, wie mit ihnen umzugehen sei.

Dieser Papst markiert christliche Identität nicht durch theoretische Abgrenzungen, sondern durch alternative Praktiken. Kirche ist für ihn kein geschlossener gegenkultureller Raum, sondern ein Raum der Hoffnungen auf konkrete Handlungen der Hilfe, der Solidarität, Gerechtigkeit. Papst Franziskus realisiert, dass man die Kirche nicht mehr mit der (tridentinischen) Ekklesiologie, sondern nur noch mit dem Glauben führen kann und, um mit Karl Rahner zu sprechen, dass der Kern dieses Glaubens die Identifikation von Gottes- und Nächstenliebe ist.

Gegen die Gefährdungen der Menschenwürde

Kirche als Ereignis- und Zeugnisnetzwerk gegen die Gefährdungen der Menschenwürde in einer allzu sehr kapitalistisch bestimmten und von fundamentalistischen Gegenreaktionen gefährdeten Kultur: Das wäre, das ist eine Hoffnung für alle Menschen in der Welt. Angesichts des aktuellen weltpolitischen Führungspersonals, der partiellen Militarisierung von Religionen und der ungewissen Möglichkeit einer menschenrechtsgemäßen Entwicklungsgeschichte der menschlichen Zivilisation kann man – nicht nur als katholischer Theologe – dieser vatikanischen Perspektive wirkliche globale Bedeutung wünschen. Für die Christdemokratie aber bietet dieser Papst jenes Erneuerungsprogramm, das sie wohl dringend braucht, will sie nicht zu einer Variante des liberalen Konservativismus werden.

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Rainer Bucher, geboren 1956 in Nürnberg, seit 2000 Vorstand des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Fakultät Katholische Theologie der Universität Graz (Österreich), Mitinitiator des theologischen Internetfeuilletons „feinschwarz.net“.

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