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Wie der Jahrhundertkonflikt begann

von Georg Schild

Die USA und die russische Oktoberrevolution

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Mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und dem russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin standen sich nach der Oktoberrevolution vor einhundert Jahren zwei Politiker gegenüber, die denkbar gegensätzliche Ansichten über eine neue Weltordnung vertraten. Ihre Konfrontation, die im Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahm, sollte die Politik des gesamten 20. Jahrhunderts bestimmen.

Am 16. August 1914 erschien in der New York Times ein Kommentar unter der Überschrift „The Contrast“. Der Gegensatz, den die Zeitung beschrieb, bestand zwischen den Vereinigten Staaten, die im Sommer 1914 die Fertigstellung und Eröffnung des Panamakanals feierten, und Europa, wo erneut ein Krieg ausgebrochen war. Während Amerika ein Werk des Friedens und des Wohlstandes vollbracht habe, würden sich Deutschland, England, Frankreich, das Habsburgerreich und Russland gegenseitig zerfleischen. Woodrow Wilson sah dies ähnlich. Er verurteilte den Kriegsausbruch und forderte alle Beteiligten dazu auf, den Konflikt unverzüglich zu beenden. Wilson kündigte an, dass Amerika neutral bleiben werde. Fast drei Jahre lang wirkte der amerikanische Präsident von außen auf die Kriegführenden ein und ermahnte sie wiederholt, zuletzt im Winter 1916/17, einen „Frieden ohne Sieg“ („peace without victory“) zu schließen, weil ein Frieden mit Sieger zu Ressentiments, Rache und einem neuen Krieg führen würde.

Das Jahr 1917 markierte ein Wendejahr für die Weltpolitik. Zunächst ging die russische Monarchie im Krieg unter. Der autokratisch herrschende russische Zar Nikolaus II., dessen Land im Krieg wirtschaftlich und militärisch überfordert war, wurde in der Februarrevolution Anfang März gestürzt und durch eine neue Provisorische Regierung unter der Führung von Georgi Lwow und später unter Alexander Kerenski abgelöst.

„Make the world safe for Democracy“

Aus amerikanischer Sicht war die Februarrevolution in Petrograd ein welthistorisch bedeutendes Ereignis. Als Präsident Wilson nach der Wiederaufnahme der deutschen U-Boot-Angriffe und aufgrund der Kontroverse um das Zimmermann-Telegramm seine Auffassung zum Krieg geändert hatte und den Kongress am 2. April 1917 zu einer Kriegserklärung gegen das Deutsche Reich aufforderte, sah er in dem Krieg einen Kampf um demokratische Ideale. Er nannte den zukünftigen Verbündeten Russland einen „im Grunde seines Herzens immer demokratisch organisierten“ Staat („always in fact democratic at heart“). Demokratie war für Wilson die politische Organisationsform, die früher oder später in allen Gesellschaften umgesetzt werden würde. Die Vereinigten Staaten waren dabei Vorbild und Lehrmeister für die Welt. Der Präsident verstand den Eintritt in den Krieg als Verpflichtung für sich und sein Land, höchste moralische Ziele umzusetzen. Es galt, die Welt sicher zu machen für die Demokratie („make the world safe for democracy“). Entsprechend ging es darum, die Kriegsgefahr in der Welt dauerhaft zu bannen („a war to end all wars“).

Mit dem Kriegseintritt der USA gab Wilson die Vorstellung eines peace without victory auf. Im Gegenteil: Einem Sieg über Deutschland und seine Verbündeten kam nun eine zentrale Bedeutung zu, der alle anderen Überlegungen unterzuordnen waren. Das hatte fatale Folgen für Russland. Die Wilson-Administration forderte die Provisorische Regierung wiederholt dazu auf, den Krieg fortzusetzen, der von einem autokratischen Herrscher begonnen worden war und der in der russischen Bevölkerung keinen Rückhalt hatte. Mitte Mai erinnerte Wilson den russischen Außenminister Pawel Miljukow mit deutlichen Worten an die gemeinsame Kriegsverantwortung. Der Krieg sei noch immer eine Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Demokratie und der Autokratie. Das Deutsche Reich plane Gebietserweiterungen; Amerika hingegen suche keinerlei materiellen oder territorialen Vorteil aus dem Konflikt zu ziehen.

Ohne es zu beabsichtigen, schwächte Wilson mit der Forderung nach Fortsetzung des Krieges die Unterstützung für die bürgerliche Regierung in der kriegsmüden russischen Bevölkerung. Im November 1917 passierte das, was einzelne Mitglieder der Wilson-Administration wie Außenminister Robert Lansing bereits seit Längerem befürchtet hatten: Eine kleine Gruppe radikaler Revolutionäre unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki nutzte die verzweifelte Stimmung im Land aus und ergriff die Macht. Die Bolschewiki scharten Soldaten um sich und verhafteten die Mitglieder der Provisorischen Regierung. Dann riefen sie die Sowjetrepublik aus, leiteten eine Bodenreform ein und bereiteten den Rückzug Russlands aus dem Krieg vor.

Machterhalt durch Ausübung von Terror

Den Erklärungen Wilsons, dass die Alliierten für demokratische Ziele kämpften, stellte die Sowjetregierung eine eigene Darstellung entgegen. Laut dieser würde der Krieg von allen Westmächten, einschließlich der Vereinigten Staaten, mit imperialistischen und annexionistischen Zielen geführt. Trotzki, der das Amt des Volkskommissars für Äußeres bekleidete, warf Amerika vor, nur aufgrund nüchterner Kalkulationen der Wall Street in den Krieg eingetreten zu sein. Amerika habe Deutschland in dem Moment den Krieg erklärt, da Kriegsexporte durch U-Boot-Angriffe bedroht gewesen seien.

Trotzki konnte seine Vorwürfe an die Alliierten mit Dokumenten belegen, die er in zarischen Archiven fand. England, Frankreich und Russland hatten sich in bis dahin geheimen Verträgen mit Italien auf eine territoriale Neuaufteilung des Habsburgerreiches geeinigt. Statt einen solchen imperialistischen Krieg fortzusetzen, eigneten sich die Bolschewiki Wilsons alten Slogan eines „Friedens ohne Sieg“ an und suchten mit dem „Dekret über den Frieden“ vom 8. November 1917 einen schnellen Waffenstillstand aller Kriegsbeteiligten. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk Anfang März 1918 schied Russland aus der Kriegsallianz aus.

Wie sollte die amerikanische Regierung auf die russische Herausforderung reagieren? In einem Telegramm des amerikanischen Generalkonsuls in Moskau, Maddin Summers, an das State Department vom 27. November 1917 hieß es, dass es unklug sei, die De-facto-Regierung der Bolschewiki diplomatisch anzuerkennen. Wichtig sei jedoch, die Gründe für die Nichtanerkennung deutlich zu kommunizieren. Trotzki stelle die Behauptung auf, so Summers, dass die ablehnende Einstellung der Entente gegenüber der Sowjetmacht auf der Angst der Kapitalisten vor einer Sozialrevolution beruhe. Die amerikanische Weigerung, die Bolschewiki anzuerkennen, sollte jedoch nicht mit einem Widerwillen gegenüber ihrem eigenwilligen sozialen Experiment begründet werden, sondern mit demokratischen Argumenten. Bisher hätten die Bolschewiki ihre Macht nur durch die Ausübung von Terror erhalten können. Oppositionspolitiker seien verhaftet worden, viele Zeitungen könnten nicht erscheinen. Angekündigte Wahlen seien abgesagt worden.

Amerikanische Intervention in Russland

Präsident Wilson betrachtete das Phänomen des Bolschewismus in den ersten Wochen nach der Oktoberrevolution durch die Linse des Gegensatzes von Demokratie und Autokratie. Auf einer Kabinettssitzung Ende November 1917 warf er Lenin und Trotzki vor, im Interesse des autokratischen Deutschland zu handeln. Wilson bemühte sich deshalb, antisowjetische Kräfte in Russland zu unterstützen, und sandte zwei Expeditionsarmeen nach Archangelsk und Wladiwostok, um gemeinsam mit britischen und anderen Armeen im Russischen Bürgerkrieg zu intervenieren. Die etwa 10.000 amerikanischen Soldaten spielten jedoch keine entscheidende Rolle im Russischen Bürgerkrieg. Sie waren unzureichend ausgerüstet und schlecht vorbereitet in die Weiten Russlands gesandt worden. Das Experiment der Intervention endete 1920 erfolglos.

Im Januar 1918 legte Wilson einen 14-Punkte-Plan für eine künftige Friedensordnung vor, mit dem er Lenins und Trotzkis Kritik an den Kriegszielen der Alliierten begegnen wollte. Punkt 6 versprach die Evakuierung aller ausländischen Truppen aus Russland und die Sicherung des Rechts des russischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung. Punkt 14 sah die Gründung eines Völkerbundes mit dem Ziel gegenseitiger Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität für große und kleine Staaten gleichermaßen vor.

Um die Jahreswende 1917/18 war der ideologische Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Sowjetrussland deutlich geworden. Wilson und Lenin wollten gegensätzliche politische Ziele durchsetzen. Der demokratisch-liberalen Weltanschauung Wilsons stellte Lenin die Vision einer sozialistischen Sowjetrepublik gegenüber. Beide Ideologien definierten sich als Überwindung einer alten monarchischen Struktur, die seit Jahrhunderten in Europa existierte, sich aber spätestens mit Ausbruch des Krieges 1914 überlebt hatte. Die doppelte Ironie des Verhältnisses der beiden revolutionären Politiker zueinander war, dass Lenin ohne Amerikas Insistieren auf eine russische Fortsetzung des Krieges vermutlich nie an die Macht gekommen wäre. Gleichzeitig war es die bolschewistische Herausforderung, die Wilson dazu brachte, seine liberalen internationalen Vorstellungen zu Beginn des Jahres 1918 noch einmal exakt und explizit zu definieren.

Die Vereinigten Staaten, die die russische Provisorische Regierung im Frühjahr unverzüglich diplomatisch anerkannt hatten, verweigerten den Bolschewiki im Winter 1917/18 die Anerkennung. Erst Präsident Franklin D. Roosevelt erkannte die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) im Dezember 1933 an. Die Aufnahme normaler Beziehungen zwischen beiden Staaten war jedoch kein Schritt hin zu langfristigen partnerschaftlichen Beziehungen. Auf beiden Seiten bestanden weiterhin Vorbehalte und Befürchtungen. Während die westliche Historiographie den Kalten Krieg zumeist erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen lässt, betonten Sowjethistoriker in den Jahren des Ost-West-Konfliktes die traditionelle amerikanische Kritik am Sowjetstaat, die bereits mit Wilson ihren Anfang genommen hatte. Während die amerikanische Intervention in Russland im Geschichtsbewusstsein der Vereinigten Staaten weitgehend verdrängt wurde, ist diese Episode in der sowjetischen und russischen Erinnerung präsent.

Woodrow Wilsons Erbe

Als Wilson und Lenin Ende Januar und Anfang Februar 1924 innerhalb weniger Tage nacheinander starben, mag es manchen Beobachtern erschienen sein, dass Lenins Vermächtnis das erfolgreichere sein werde. Die Sowjetmacht hatte sich etabliert und im Bürgerkrieg gegen die feindlichen „Weißen“ durchgesetzt.

Ob sich die Sowjetgeschichte ab den 1920er-Jahren anders – demokratischer – entwickelt hätte, wenn das Land nicht in einer Pariarolle geblieben wäre, ist unmöglich zu sagen. Wilsons Vorstellungen von Demokratie und Internationalismus waren hingegen nicht auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Im Gegenteil: Es war dem Präsidenten bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 nicht gelungen, die anderen Staatsund Regierungschefs von seinen Zielen zu überzeugen. Der Versailler Vertrag war von den Prinzipien des 14-Punkte-Plans weit entfernt. Er war ein Siegfrieden, der, wie Wilson selbst wiederholt vorausgesagt hatte, beim Verlierer zu Revanchegedanken und einem neuen Krieg führen würde. Wilsons liberaler Internationalismus wurde einstweilen sogar im eigenen Land verworfen. Im amerikanischen Senat wurde zweimal nicht die nötige Stimmenzahl erreicht, um dem Völkerbund beizutreten. Es bedurfte erst der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, bevor sich Politiker wieder auf die Ziele und Überzeugungen des Internationalisten Wilson besannen und sie nach 1945 durchsetzten.

Hat Wilson in seiner Politik gegenüber der UdSSR Fehler gemacht? Er selbst war gegen Ende seines Lebens dieser Meinung. Im November 1920 erklärte er: „Was Russland angeht, so komme ich nicht umhin zu glauben, dass der Bolschewismus schon lange untergegangen wäre, wenn wir ihn in Ruhe gelassen hätten.“

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Georg Schild, geboren 1961 in Herne, seit 2004 Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

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