Asset-Herausgeber

von Thomas Straubhaar

Vorhersagen über die Wohlstandsentwicklung gestern und heute

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„Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln .

Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.“

(Helmut Kohl in seiner Fernsehansprache am 1. Juli 1990 aus Anlass des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR, www.kas.de/wf/de/71.4516/)

Lange ist Helmut Kohl für seine scheinbare Fehlprognose der „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland kritisiert und süffisant belächelt worden. Aus heutiger Sicht jedoch hat der Kanzler den Lauf der Dinge im Großen und Ganzen richtig eingeschätzt – zumindest aus ökonomischer Perspektive. Dass es auch im gegenseitigen Verständnis zu einer Annäherung und damit zu einer Verbesserung der empfundenen Lebenssituation in Ostdeutschland gekommen ist, wird im Herbst 2017 ja gerade heftig infrage gestellt. Kohl hatte lediglich die Zeitspanne zu optimistisch und die finanziellen Transferleistungen von West nach Ost zu gering eingeschätzt, bis es – abgesehen von einzelnen Ausnahmen – rein wirtschaftlich tatsächlich „niemandem schlechter“ ging als zuvor, dafür auch in Ostdeutschland sogar „vielen besser“.

Mit seiner Prognose hat der damalige Bundeskanzler Mut bewiesen. Er wagte eine Voraussage, wohlwissend, dass der Weg zu den „blühenden Landschaften“ lang und beschwerlich sein würde. Der historische Glücksfall der deutschen Wiedervereinigung bremste zunächst das wirtschaftliche Wachstum Deutschlands in den 1990er-Jahren und beschleunigte die Arbeitslosigkeit. Unvergessen ist die brutale Einstufung Deutschlands als „The sick man of the euro“ des Economist im Juni 1999 (The Economist, 03.06.1999, www.economist.com/node/209559 04.10.2017). „Ist Deutschland noch zu retten?“, fragte der renommierte Ökonom Hans-Werner Sinn (Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003). Der bekannte Journalist und Herausgeber des Handelsblatts Gabor Steingart behauptete gar: „Deutschland – der Abstieg eines Superstars“ (Deutschland – der Abstieg eines Superstars, München 2005, aktualisierte Ausgabe).

Mittlerweile wissen wir, dass Helmut Kohl mit seiner optimistischen Prognose gar nicht so weit danebenlag. Deutschland ist zum ökonomischen Kraftzentrum Europas und zu einem der verlässlichsten Stabilitätsanker der Welt(wirtschafts)politik geworden. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigt seit 2010 ohne Unterbrechung an, und ein Ende des Aufschwungs ist im Herbst 2017 nicht in Sicht. Gerade haben die Forschungsinstitute eine Fortsetzung des Aufschwungs und für das nächste und übernächste Jahr einen Anstieg des BIP um zwei beziehungsweise 1,8 Prozent vorausgesagt. Der Arbeitsmarkt meldet Rekord um Rekord. Die Beschäftigung liegt auf einem historischen Höchststand, die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Niveau seit der Wiedervereinigung.

Der Ausnahmezustand als Normalität

Helmut Kohl hätte seine helle Freude an den aktuell guten Wirtschaftsdaten. Er hatte für die deutsche Zukunft ein besseres Gespür als viele andere. So sagte Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ voraus (Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München 1992). Was für ein fundamentaler Irrtum! Demokratie und Marktwirtschaft haben nicht überall gesiegt. Mit Wucht und Gewalt kehren in der jüngeren Vergangenheit ideologische Eiferer, religiöse Fundamentalisten, Nationalisten und Populisten auf die weltpolitische Bühne zurück. Sie markieren den Anfang einer neuen Zeitrechnung, bei der wenig Gültigkeit behält, was vorher als sicher galt.

Wie verlässlich und nachhaltig können Vorhersagen über die Wohlstandsentwicklung des vereinigten Deutschlands in Zukunft sein – in einem Zeitalter, in dem der Normalfall zur Ausnahme und die Unsicherheit zur Regel werden dürfte? Letzteres hat immense Rückwirkungen auf die wissenschaftliche Analyse der Ereignisse der vergangenen Jahre und auf die Prognosefähigkeit der Ökonomik für künftige Entwicklungen.

Die Ökonomik strebt danach, wirtschaftliche Ereignisse zu erkennen, zu verstehen, zu beschreiben und zu erklären. Sie betrachtet die Realität und versucht, aus Beobachtungen möglichst vieler Einzelfälle allgemein gültige Muster abzuleiten; etwa, dass viele Menschen mehr kaufen, wenn etwas billiger geworden ist. Aus diesen Mustern werden Prognosen erstellt: Für Firmen, die ihren Umsatz steigern wollen, kann es sinnvoll sein, die Preise ihrer Produkte zu senken, um mehr Kunden zum Kauf zu bewegen.

Um aus Erkenntnissen der Vergangenheit sinnvolle Rückschlüsse für die Zukunft abzuleiten, bedarf es jedoch einer gewissen Stabilität der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Das Vergangene gilt somit zumindest als grobe Näherung für das Kommende. Solange sich die Weltpolitik und die Weltwirtschaft in ruhigem Fahrwasser bewegen, können Richtung und Geschwindigkeit des Vorankommens und von Veränderungen gut prognostiziert werden. Zwar wiederholt sich Vergangenes nicht wirklich, aber solange wenigstens ein typischer Normalfall für eine Vielzahl von Entscheidungen in der Politik, der Gesellschaft und der Wirtschaft eine stabile Annäherung an die Wirklichkeit lieferte, war der Prognosefehler unbedeutend und oft vernachlässigbar gering.

„Schwarze Schwäne“

Was aber, wenn es keinen Normalfall mehr gibt, an dem sich die Zukunft verankern lässt? Wenn die Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit unwirksam werden, weil nichts mehr sein wird, wie es war? Wenn Stabilität und Verhaltenssicherheit ausgehebelt werden durch Terroristen, Putschisten und Fundamentalisten? Wenn sich alles verändert und wenig konstant bleibt, dann unterscheidet sich die Zukunft so vollständig von der Vergangenheit, dass die Ökonomik orientierungslos wird. Die Übertragbarkeit von Bekanntem und Verstandenem aus der Vergangenheit in die Zukunft ist damit nicht mehr gegeben, und eine nicht kalkulierbare Unsicherheit dominiert die künftigen Veränderungen. Der Prognosefehler potenziert sich, und die Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen entbehren empirisch gesicherter Verlässlichkeit.

In Zeiten hoher Unsicherheit ohne Normalfall besitzt statistisch berechnete Evidenz oder Signifikanz keine Gültigkeit mehr. Es gibt nur noch das von Nassim Nicholas Taleb als „schwarze Schwäne“ bezeichnete „unbekannte Unbekannte“, das sich weder frühzeitig erkennen noch im Voraus verstehen, vorhersehen oder abwenden lässt (Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2015). Wenn „Ausreißer“ nicht die Folge von Sondereffekten sind, sondern viel häufiger vorkommen als gemeinhin erwartet, ist die Normalverteilung nicht mehr repräsentativ für Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Dann existiert eine „Normalverteilung“ immer öfter nur noch in der statistischen Theorie und immer weniger im wirklichen Leben, und es droht die Gefahr, dass Prognosen, die auf der Glockenkurve des Mathematikers Gauß aufbauen – in den Worten Talebs – einen „großen intellektuellen Betrug“ darstellen.

Die Zeit seit der Wiedervereinigung war für Deutschland – bei allen Turbulenzen – im historischen Vergleich durch relative Stabilität und einen erst sehr langsam, dann aber schnell wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand gekennzeichnet. Es gab keinen großen Krieg, sondern nur lokale militärische Konflikte. Mit der Europäischen Union entwickelten sich Schritt für Schritt zahlreichere Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Bevölkerungen. Natürlich gab es auch immense Risiken. Prognosen konnten aber mit einer durch die vergangenen Ereignisse relativ gut abgesicherten Wahrscheinlichkeit getroffen werden.

„Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln“

Treten jedoch Ereignisse von völlig neuer Qualität ein, die somit weder frühzeitig erkennbar sind noch sich im Voraus verstehen, vorhersehen oder abwenden lassen, ist die Zukunft keine Wiederholung der Vergangenheit. An genau diesem Punkt befinden sich die Weltpolitik und Weltwirtschaft seit der Finanzmarktkrise 2007 und ihren dramatischen Folgen.

Brexit, Grexit, Gerxit (ein Euro-Austritt Deutschlands, wie er mancherorts empfohlen wird), eine mögliche Abspaltung Kataloniens vom Königreich Spanien und andere national(istisch)e Zentrifugalkräfte in Europa, machtpolitische Hasardeure in den USA, Antidemokraten in der Türkei und in Russland, ideologische Eiferer, religiöse Fundamentalisten und unberechenbare Terroristen sorgen für Unordnung und Ungleichgewicht. Eine radikale Unsicherheit ist die Folge. Niemand kann mit brauchbarer Präzision voraussagen, was, wann, wo als Nächstes passieren wird.

Wenn aber zunehmend der Mittelwert die Ausnahme und das Extrem die Regel wird, verlieren die gängigen Prognosemodelle bei Noten- und Geschäftsbanken, Ministerien, Ratingagenturen, Finanzanalysten, Anlageberatern und Börsenhändlern ihre wissenschaftliche Basis und damit ihre praxisrelevante Voraussagekraft. Geldpolitik oder Finanzprognosen werden dann zu einem Stochern im Nebel des Unvorhersehbaren. Oder, wie es Mervyn King ausdrückt, wird „Alchemie das Fundament des Geld- und Bankensystems“ – womit er auf den St. Galler Professor Hans Binswanger anspielt, der „die moderne Ökonomik als Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln“ brandmarkte (Mervyn King: The End of Alchemy. Money, Banking, and the Future of the Global Economy, New York 2016; Hans Christoph Binswanger: Money and Magic. A Critique of the Modern Economy in the Light of Goethe’s Faust, Chicago 1994).

Wenn ökonomische Vorhersagen das Undenkbare und Unerwartete ausschließen, ist es möglich, dass eine geldpolitische Lockerung mit Zinssenkungen, Offenmarktgeschäften und riesigen Kaufprogrammen von Anleihen die gewünschten Wirkungen entfalten. Genauso gut aber ist möglich, dass Notenbanken das Gegenteil bewirken, weil sie selbst über keinen verlässlichen Kompass verfügen, Informationen über realwirtschaftliche Gegebenheiten verzerren, verfälschen und missachten. Eine expansive Geldpolitik vergrößert dann die Unsicherheit, die sie eigentlich verringern wollte.

Für die wirtschaftspolitische Praxis folgt aus dem Ende der Normalität, dass Regierungen und Notenbanken passiver und nicht aktiver werden sollten. Sie müssten sich auf eine langfristige Rahmengesetzgebung beschränken und auf eine kurzfristige Symptomtherapie verzichten. Denn einfache Kausalitäten erweisen sich mehr denn je als Illusionen. Sie werden den komplexen, nicht linearen Veränderungen und den daraus folgenden Risiken nicht gerecht. Immer öfter werden deshalb scheinbar einfache Lösungen Probleme nicht beheben, sondern verschärfen.

Es gibt eine einfache Erfahrungsregel für den Umgang mit „schwarzen Schwänen“ und mit dem „unbekannten Unbekannten“, für das es keine Erfahrung, keine Erwartung und keine Erklärung gibt: Man verwendet zu viel Zeit für die kleinen und zu wenig Zeit für die großen Veränderungen. Unternehmen sorgen sich über einen Umsatzrückgang, vernachlässigen jedoch die Veränderungen, die beispielsweise mit der Digitalisierung einhergehen und die völlig neue Geschäftsmodelle ermöglichen, aber auch bedingen. Oder: Firmen strengen sich immens an, um ihre Marktanteile auf „alten“ Märkten auszuweiten, und kümmern sich viel zu wenig um die Chancen, die neue Geschäftsideen eröffnen.

Anpassungsfähigkeit gewinnt

In turbulenten Zeiten überlebt erfolgreich, wer sich nicht von einzelnen Personen, Produkten, Märkten und schon gar nicht von politischen, steuerlichen oder wettbewerbsrechtlichen Sonderregelungen abhängig macht. Um durch unerwartet eintretende Schocks nicht zerstört, sondern gestärkt zu werden, sind eingeübte, allgemein bekannte Automatismen notwendig. Fixe (Verhaltens-)Regeln und flexible Anpassungsmechanismen sind kein Widerspruch. Sie sind die unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass Unternehmen oder Volkswirtschaften nach einer Phase der Veränderung wieder zu einer neuen, unbekannten Normalität zurückfinden.

Für die wirtschaftspolitische Praxis folgt daraus, dass sie weniger auf Prognosen und mehr auf Szenarien setzen sollte, die allerlei Brüche und radikale Umwälzungen durchspielen müssten. So lassen sich grundsätzliche Erkenntnisse gewinnen, welche Schocks ebenso große Risiken wie immense Chancen verursachen. Entsprechend können Vorkehrungen getroffen werden, damit unwahrscheinliche Ereignisse kein unkontrollierbares Chaos verursachen. Beim Scheitern von Plan A in der Realität sollte nicht nur Plan B, sondern auch ein aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich eintretender Plan C oder D rasch Orientierung bieten.

Wirtschaftspolitik muss mehr noch als zu Zeiten Helmut Kohls auf eine immer wieder herausgeforderte, rasche Fähigkeit zur Anpassung an völlig neue Gegebenheiten setzen. Wenn die Zukunft weniger denn je vorhersehbar ist, sollten wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht ein für allemal perfekt für die Ewigkeit geplant werden, sondern brauchbar, rasch umsetzbar und flexibel veränderbar sein.

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Thomas Straubhaar, geboren 1957 in Unterseen (Schweiz), Ökonom und Migrationsforscher, Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg, Direktor des Europa-Kollegs Hamburg.

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