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Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer, Italien und Deutschland in Europa

von Thomas Jansen
Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer gelten zurecht als die Gründungsväter der neuen demokratischen Staaten, die aus den Ruinen hervorgingen, welche die Gewaltherrschaft der Faschisten und der Nationalsozialisten in ihren Ländern hinterlassen hatte: die italienische Republik und die Bundesrepublik Deutschland.

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Die beiden Staatsmänner, denen es zu verdanken ist, dass in ihren beiden Ländern die Grundentscheidungen zugunsten der pluralistischen Demokratie, der Sozialen Marktwirtschaft und der Einigung Europas gefasst und durchgehalten wurden, hatten manches gemeinsam: die Herkunft aus Grenzregionen, weit in die Vergangenheit reichende politische Erfahrungen unter grundverschiedenen Herrschaftsordnungen, insbesondere auch die Erfahrung der Ausgrenzung und der Verfolgung durch die totalitären Regime, die Orientierung an den Werten und Traditionen des Katholizismus, christlich-demokratische und föderalistische Überzeugungen, und schliesslich die aus alldem sich ergebende Gewissheit, dass ihre beiden Länder, in denen sie im fortgeschrittenen Alter die politische Führung und Verantwortung übernahmen, nur in der Einheit und Gemeinschaft mit allen anderen europäischen Nachbarländern eine gute Zukunft finden würden.

Diese Gemeinsamkeiten teilten Adenauer und De Gasperi weitgehend auch mit dem Lothringer Robert Schuman und dem Luxemburger Joseph Bech, die in einem Atemzug mit ihnen genannt werden müssen, wenn von den Gründungsvätern der Europäischen Gemeinschaft die Rede ist.

Als sie nach dem zweiten Weltkrieg, aus dem ihre beiden Länder als Besiegte hervorgegangen waren, und nach dem Zusammenbruch der totalitären Regierungssystems des Faschismus und des Nationalsozialismus gemeinsam mit Gleichgesinnten die Führung und damit die Verantwortung für die Überwindung der moralischen und der materiellen Niederlage ihrer Völker übernahmen, konnten Adenauer und De Gasperi auf lange Lehrzeiten zurückblicken.

Adenauer, 1876 in Köln geboren, war fünf Jahre älter als De Gasperi, der 1881 im damals österreichischen Trient das Licht der Welt erblickte. Vielleicht ergibt sich ein Element der Erklärung für ihr Pflicht- und Dienstbewusstsein, das sie ihr Leben lang auszeichnete, aus dem Beispiel ihrer Väter, die beide Beamte waren.

Während Adenauer nach seinem Abitur (1894) an den Universitäten Freiburg, München, Bonn und Köln Jura studierte, widmete sich De Gasperi seit 1900 in Wien dem Studium der Philosophie, Literatur und Geschichte, das er mit einer Promotion im Jahre 1905 abschloss. Zu dieser Zeit wurde Adenauer, nach Referendar- und Assessorexamen (1897 und 1901) und einer mehrjährigen Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft, in einer Anwaltskanzlei und als Hilfsrichter am Landgericht zum Beigeordneten der Stadt Köln gewählt (1906). Drei Jahre später folgte seine Wahl zum Ersten Beigeordneten und Stellvertreter des Oberbürgermeisters. Damit war Konrad Adenauer in die Sphäre der Politik eingetreten, die ihn nicht wieder loslassen sollte.

Früher schon als Adenauer war der jüngere Alcide De Gasperi politisch aktiv geworden. Nicht im Bereich der öffentlichen Verwaltung, sondern auf dem Felde der Zivilgesellschaft (wie wir heute sagen). Schon als Student übernahm er, gerade 21 Jahre alt, den Vorsitz im Trentiner Katholischen Akademikerverband. Es war die Zeit der Auseinandersetzung mit der Zentralverwaltung der k.u.k. Monarchie in Wien um mehr kulturelle und politische Autonomie der italienischen Provinzen. Die christlich-soziale Bewegung war im Zuge dieser Auseinandersetzung, in der sie sich - unter Verzicht auf die nationalistische Propaganda anderer Gruppen - besonders für die konkreten Belange der Bevölkerung engagierte, zur stärksten politischen Kraft der Region geworden. Als Direktor der Zeitung ‚Il Trentino’ (seit 1906), dem Organ der zur gleichen Zeit gegründeten Trentiner Volkspartei (Partito Popolare Trentino) stand De Gasperi in den folgenden Jahren im Zentrum der diesbezüglichen Debatten, an denen er seit 1911 auch als Mitglied des Abgeordnetenhauses des Österreichischen Reichstages und seit 1914 zudem als Abgeordneter im Landtag der Tiroler Provinz in Innsbruck beteiligt war. Worum es ihm ging, brachte er auf die Formel: „mehr Autonomie für die Provinz, mehr Demokratie für das Volk, gegen militärischen und absolutistischen Zentralismus“.

Konrad Adenauers Karriere führte ihn über die Bewährung während der schwierigen Jahre des Ersten Weltkriegs 1917 folgerichtig ins Amt des Oberbürgermeisters von Köln. Seine Wahl erfolgte einstimmig.

Fast gleichzeitig betraten Adenauer und De Gasperi die Bühnen der nationalen Politik ihrer Länder.

Das Trentiner Land war durch den Friedensvertrag von St. Germain, mit dem der Krieg beendet wurde, dem Königreich Italien zugesprochen worden. Alcide De Gasperi folgte 1919 dem Aufruf von Don Luigi Sturzo zur Gründung der Italienischen Volkspartei (Partito Popolare Italiano). Als Tagungspräsident des Gründungskongresses in Bologna übernahm er sogleich eine sichtbare, herausgehobene Rolle. Nach den Wahlen von 1921 zog er als Abgeordneter ins italienische Parlament ein und wurde zum Vorsitzenden der Volkspartei-Fraktion gewählt, die 107 Mitglieder zählte und damit circa ein Fünftel der Abgeordneten stellte.

Im gleichen Jahr wurde Konrad Adenauer zum Präsidenten des Preußischen Staatsrates gewählt. Seine regelmäßige Wiederwahl in den folgenden Jahren (bis 1933) beweist die politische Autorität, die ihm in dieser Funktion und durch sein Wirken in Köln zugewachsen ist, und die auch dadurch unterstrichen wird, dass er – erstmals schon 1921 –von seiner Partei, dem katholischen Zentrum, mehrmals als Reichskanzler vorgeschlagen wurde.

In dieses für die zukünftige Rolle beider Politiker so entscheidende Jahr 1921 fiel auch ihre erste persönliche Begegnung, die im Rahmen einer Delegationsreise der Italienischen Volkspartei nach Deutschland stattfand. Unter der Leitung von Don Sturzo und De Gasperi kam es zu Begegnungen mit den führenden Repräsentanten der Regierung, des Parlaments, der Parteien und der Gewerkschaften. Bei dieser Gelegenheit wurden insbesondere auch engere Beziehungen geknüpft zwischen dem Zentrum und der Volkspartei, auf die Don Sturzo zurückgreifen konnte, als er einige Jahre später die Initiative zum ersten christlich-demokratischen Zusammenschluss auf europäischer Ebene ergriff und 1925 das ‚Internationale Sekretariat Demokratischer Parteien Christlicher Inspiration’ gründete. Bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges bemühte sich dieser Vorläufer der Europäischen Volkspartei gegen den nationalistischen Zeitgeist über die Grenzen hinweg eine gewisse Zusammenarbeit zu organisieren.

Für Alcide De Gasperi folgte eine Zeit des unablässigen politischen und publizistischen Kampfes gegen den Terror, mit dem Mussolini und seine Leute das Land überzogen, um nach und nach alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens in ihre Gewalt zu bringen. Don Sturzo musste das Land verlassen, um in London Exil zu suchen, und De Gasperi hatte neben der Fraktionsführung auch die Führung der Volkspartei übernommen. Seine Zeitung, die er nach der Vereinigung mit Italien ‚Il Nuovo Trentino’ nannte, und die sich bis ins Jahr 1926 halten konnte, zeugte von der Entschiedenheit seiner grundsätzlichen, kompromisslosen Gegnerschaft zur faschistisch-nationalistischen Ideologie und den menschenverachtenden Praktiken der neuen Herrschaft.

Aber seine Wirkungsmöglichkeiten wurden mehr und mehr eingeschränkt. Nach dem Mord an dem sozialistischen Politiker Giacomo Mateotti (1925) wurde die Lage für alle demokratischen Politiker unerträglich. Unter ständiger Überwachung und Bedrohung war eine politische Arbeit fast unmöglich geworden. 1925 fand der letzte Kongress der Italienischen Volkspartei statt.

Die darauf folgenden Jahre waren gekennzeichnet von ständiger Flucht und materieller Unsicherheit. Schließlich wurde De Gasperi verhaftet (1927) und sechzehn Monate lang gefangen gehalten, bevor er aufgrund kirchlicher Interventionen wieder freikam. Bis zum Zusammenbruch des faschistischen Regimes blieb er von allen öffentlichen Aktivitäten ausgeschlossen. In der Bibliothek des Vatikans fand er Schutz und eine Arbeitsmöglichkeit, die es ihm erlaubte, seine Familie zu ernähren.

Konrad Adenauer hat nach 1933 unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ganz ähnliche Erfahrungen machen müssen. Auch er war, nach seiner Entlassung aus dem Amt des Oberbürgermeisters von Köln, in das er 1929 wiedergewählt worden war, aller politischer Wirkungsmöglichkeiten beraubt. Mehrere Monate lang musste er sich im Benediktinerkloster Maria Laach versteckt halten (1933/1934); im Zusammenhang mit dem ‚Röhm-Putsch’ wurde er kurzfristig verhaftet. Seit 1935 lebte er zurückgezogen in Rhöndorf. Nach dem Attentat auf Hitler (1944) wurde er noch einmal verhaftet und mehrere Monate gefangen gehalten.

Alle diese Erfahrungen, darin eingeschlossen die Früchte des Studiums, der Lektüre, des Nachdenkens und der Gespräche mit den verbliebenen Freunden während der Zeit des erzwungen Rückzugs standen Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer zur Verfügung, als sie nach dem nationalistischen Spuk gefordert waren, die Menschen in ihren Ländern moralisch wieder aufzurichten und ihren Völkern eine neue Orientierung zu geben.

Schon während des Krieges hatten De Gasperi und Adenauer im Hinblick auf die Zeit danach Kontakte mit Gesinnungsgenossen geknüpft, um gemeinsam Überlegungen anzustellen, wie es nach der Befreiung weiter gehen könne.

Am Tag des Sturzes von Mussolini, im Juli 1943, wurde unter führender Mitwirkung von De Gasperi die 'Democrazia Cristiana' (Christliche Demokratie) als Nachfolge-Organisation de Italienischen Volkspartei gegründet. Und nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen aus Rom, im Juni 1944, trat er als Minister ohne Portefeuille für seine Partei in eine Allparteienregierung ein. Wenig später wählte ihn der erste Kongress der Democrazia Cristiana zum Generalsekretär und damit zum Parteiführer. Im Dezember übernahm er die Leitung des Außenministeriums. Nach der Volksabstimmung, die eine Mehrheit für die Abschaffung der Monarchie erbrachte, und nach schweren Krisen, die das Land auf dem Wege zur Normalisierung seiner Verhältnisse durchlebte, übernahm Alcide De Gasperi im Dezember 1945 das Amt des Ministerpräsidenten. Über sieben Regierungsumbildungen hinweg blieb er bis in den Juli 1953 der unbestrittene Chef der Exekutive.

Auch Adenauer war unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes wieder zur Stelle. Die Amerikaner, die im März 1945 das Rheinland befreit hatten, setzen ihn im Mai wieder als Oberbürgermeister von Köln ein, aber die britische Besatzungsmacht setzte ihn im Oktober wieder ab. Nachdem im Juni die Christlich Demokratische Union gegründet worden war, wurde Konrad Adenauer im März 1946 zum Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone gewählt und im Oktober übernahm er die Führung der CDU-Fraktion im Landtag des neugebildeten Landes Nord-Rhein Westfalen. Im September 1948 wurde Adenauer zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates, der verfassungsgebenden Versammlung gewählt, und nach der ersten Bundestagswahl, die der Verabschiedung des Grundgesetzes folgte, wurde er der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, deren Geschicke er während der nächsten vierzehn Jahre leiten sollte.

Für beide junge Staaten ging es zunächst einmal und gleichzeitig um die geistige Genesung und den materiellen Wiederaufbau. Die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse und die Entwicklung einer möglichst gerechten und partnerschaftlichen Wirtschafts- und Sozialordnung waren dafür wesentliche Voraussetzungen. Ebenso wie die Mitgliedschaft und die Mitwirkung in den Institutionen der europäischen Einigung, die jenseits ihrer materiellen und politischen Bedeutung vor allem auch der Versöhnung und der Friedensstiftung unter den ehemals verfeindeten Nationen des Kontinents dienten. Die internationale Lage verlangte schließlich sowohl von Italien wie von Deutschland dringend, ihre neugewonnene Freiheit durch Einordnung in das atlantische Bündnis zu sichern.

Als mittlere Macht in einer geografisch exponierten und damit gefährdeten Lage, belastet mit dem Erbe einer zwanzigjährigen faschistischen Herrschaft und mit den Folgen eines verlorenen Krieges, wegen der notorischen Arbeitslosigkeit in seinem unterentwickelten Süden auf die Notwendigkeit angewiesen, große Massen seiner Bevölkerung in die Emigration zu entlassen, angewiesen auch auf leichten Zugang zu den Märkten der Nachbarn, um die Produkte seines Handwerks und seiner Landwirtschaft absetzen zu können, abhängig vom Import der für seine entwickelte und dynamische Industrie benötigten Rohstoffe, hatte Italien, wie Alcide De Gasperi früh erkannte, keine Alternative zur Förderung eines immer engeren Zusammenschlusses der freien Staaten Europas.

Wenn auch zum Teil aus anderen Gründen war die Bundesrepublik Deutschland in der gleichen Lage, woraus sich der weitgehende Gleichklang der europapolitischen Absichten und Vorstellungen erklärt. In beiden Ländern hat man während der ersten Jahrzehnte des Integrationsprozesses mit der Einigung Europas immer positive Erwartungen verbunden. Italien hat nach der erfolgreichen Periode des von den Regierungen unter der Führung von Alcide De Gasperi eingeleiteten Wiederaufbaus in späteren Jahren schwere wirtschaftliche und soziale Krisen durchlebt, die verstärkt wurden durch eine notorische Schwäche seiner staatlichen Institutionen und Organe. „Europa“ wurde vor diesem Hintergrund vielfach als Heilmittel oder zumindest doch als Chance zur grundsätzlichen Behebung der als Leiden empfundenen Zustände betrachtet. Dabei spielte - ähnlich wie in Deutschland – die Erfahrung eine Rolle, dass die Verbindung mit den europäischen Nachbarn im Europarat, in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und in der Westeuropäischen Union während der fünfziger Jahren auch die Befreiung von der außenpolitischen Isolation bedeutete, in der sich das durch die Faschismus-Erfahrung kompromittierte Land nach Kriegsende befand; und in den sechziger Jahren, nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erlebte auch Italien - wie die Bundesrepublik ein Jahrzehnt früher - sein Wirtschaftswunder.

In der Tradition De Gasperis und Adenauers haben sich sowohl die italienischen wie die deutschen Politiker durchweg selbst als ‚europäische Föderalisten’ verstanden oder sind als solche erkennbar gewesen. Folgerichtig haben die Regierungen Italiens und Deutschlands durchgehend alle Initiativen unterstützt, die die europäische Einigung voranzubringen versprachen. Diese Haltung war auch immer verbunden mit der Bereitschaft, die Verfügung über eigene Souveränitätsrechte weitgehend an übernationale Einrichtungen abzutreten, eine Bereitschaft, die durch entsprechende Bestimmungen in den Verfassungen der beiden Länder gefördert wurde. In den großen politischen Kontroversen und konzeptionellen Debatten, die die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft begleitet haben, nahmen die Ita liener ebenso wie die Deutschen konsequent eine vermittelnde Haltung ein, stets darauf bedacht, dass das Erreichte nicht aufs Spiel gesetzt und dass die Chance zur weiteren Integration gewahrt bleiben würde.

Die Politik der europäischen Einigung konnte sich in Italien auch immer auf einen breiten Konsens nahezu aller politischer Kräfte stützen und hat in der Bevölkerung eine fast ausnahmslos positive Resonanz gefunden. Alle Regierungen der Nachkriegszeit haben der Einbindung Italiens in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien einen hohen Stellenwert eingeräumt. Die Berufung auf das europapolitische Denken und Handeln Alcide De Gasperis ist für seine vielen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten eine Sache der Selbstverständlichkeit gewesen.

Man kann dasselbe auch von der Bundesrepublik Deutschland sagen. Auch hier haben die aufeinander folgenden Regierungen, unabhängig von den unterschiedlichen Parteienkoalitionen, auf die sie sich stützten, der Europapolitik hohe Priorität eingeräumt. Und Konrad Adenauer war in Fragen der Europapolitik – wie De Gasperi in Italien – die richtungsweisende Bezugsperson, an dem seine Nachfolger gemessen wurden.

Wie in Deutschland wurde auch in Italien die Kontinuität der Europapolitik vor allem durch die starke Stellung der christlich-demokratischen Partei gesichert. Die Democrazia Cristiana war bis Anfang der neunziger Jahre die führende und entscheidende Kraft in Parlament und Regierung. In der Europäischen Union Christlicher Demokraten und in der Europäischen Volkspartei stellten die Italiener zusammen mit den Deutschen die stärksten Delegationen und bestimmten gemeinsam Programmatik und Politik. Anders aber als die Christlich Demokratische Union Deutschlands, die Ende der sechziger Jahre in die Opposition verwiesen wurde, um erst 1983 unter der Führung Helmut Kohls für weitere sechzehn Jahre wieder in die Regierungsverantwortung zurückzukehren, blieb die Democrazia Cristiana ununterbrochen, bis zu ihrer Erschöpfung, an der Macht. Eine Auszeit in der Opposition war ihr aufgrund der besonderen italienischen Konstellation, in der sich die Kommunistische Partei als Gegenmacht etabliert hatte und die bedrohende Alternative darstellte, nicht vergönnt. Als nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums auch der Kommunismus am Ende war, fiel die Democrazia Cristiana, die als Volkspartei immer auch ein Bündnis mehrerer Gruppierungen mit unterschiedlichen Prioritäten, Interessen und Sensibilitäten gewesen war, in seine verschiedenen Bestandteile auseinander.

Das Verhältnis zwischen Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi war gekennzeichnet von gegenseitiger Wertschätzung, gegenseitigem Vertrauen und von einem auf gemeinsamen Überzeugungen beruhenden Einverständnis.

In seinen „Erinnerungen“ schreibt Adenauer dazu: „Unsere Verbindung mit Italien war sehr gut. Ich habe nie vergessen, dass sehr bald nach der Gründung der Bundesrepublik die italienische Regierung unter der Führung von Alcide De Gasperi für den Wiedereintritt Deutschlands in die Gemeinschaft der europäischen Nationen hervorragend eingetreten war ... Mit De Gasperi verband mich eine aufrichtige Freundschaft. Er war durchdrungen von der großen historischen Verpflichtung, die das gemeinsame christlich-abendländische Erbe den Völkern Europas auferlegt. Italien hatte als einer der ersten europäischen Staaten die Notwendigkeit des gemeinsamen Weges erkannt.“

Während der kurzen Zeitspanne ihrer Zusammenarbeit als Regierungschefs zwischen 1949, dem Jahr der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler, und 1953, dem Jahr des Rücktritts Alcide De Gasperis als Ministerpräsident, öffnete sich ihnen durch die Initiative von Robert Schuman ein ’window of opportunity’ (wie man heute sagt), das sie entschlossen und gegen alle Widerstände nutzten, um gemeinsam mit ihren Partnern in Frankreich und den Benelux-Staaten den Grund für eine Neuordnung der zwischenstaatlichen Verhältnisse im freien Europa zu legen. Durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952) sollte eine wirtschaftliche, soziale und politische Integrationsbewegung ausgelöst werden, deren Dynamik noch heute die Entwicklung der Europäischen Union trägt.

In den Verhandlungen zur Ausgestaltung dieser ersten Europäischen Gemeinschaft, der sogenannten ‚Montanunion’, sorgte De Gasperi, der in dieser Zeit - wie übrigens auch Adenauer - neben dem Amt des Regierungschefs auch die Funktion des Außenministers ausübte, für die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung mit der Perspektive einer Direktwahl ihrer Mitglieder. Diese Bestimmung sollte zu einer wichtigen Quelle der Integrationsdynamik werden, indem sie dem Einigungsunternehmen von Anfang an eine politische und demokratische Dimension gab.

Die Bestimmung über die Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, das nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (1958) aus der Montan-Versammlung hervorging, sollte erst 1979 realisiert werden. Seither hat das Europäische Parlament, dank seiner demokratischen Legitimation durch die Direktwahl, seine legislativen Mitentscheidungsrechte und seinen politischen Einfluss erheblich ausweiten können. Neben dem Ministerrat und der Europäischen Kommission ist es zum bestimmenden Akteur des Integrationsgeschehens geworden, von dem viele Impulse ausgehen und dessen Zustimmung im Gesetzgebungsverfahren der Union maßgeblich ist.

Als es nach dem erfolgreichen Start der Montanunion darum ging, über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu verhandeln, setzte De Gasperi durch, dass die parlamentarische Versammlung das Mandat erhielt, „die Grundlage für ein bundesstaatliches oder staatenbundliches Gemeinwesen (zu) untersuchen, um auf politischer Ebene die ersten Anfänge des Gemeinschaftslebens weiter zu entwickeln und zu verbreitern.“

Dieses Mandat führte unmittelbar, obwohl der EVG-Vertrag noch nicht ratifiziert war und auch nie ratifiziert werden sollte, zur Einberufung einer ‚Ad hoc-Versammlung’, die unter dem Vorsitz des CDU-Politikers Heinrich von Brentano den Entwurf eines Statuts zur Gründung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) erarbeitete - ein Projekt, das durch ein Junktim an das Inkrafttreten des EVG-Vertrages gebunden war und aufgrund der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung (1954) nicht verwirklicht werden konnte.

Bei der Ad hoc-Versammlung handelte es sich nach dem Verständnis ihrer Mitglieder und tatsächlich um eine verfassungsgebende Versammlung, und das Ergebnis ihrer Arbeit war nichts anderes als der Entwurf eines Verfassungsvertrages. Wir haben es also mit einem Vorläufer des Europäischen Konvents zu tun, der im Laufe der Jahre 2002/2003 den Text einer ‚Verfassung für Europa’ erarbeitet hat, der inzwischen von der Regierungskonferenz verabschiedet wurde.

Alcide De Gasperi starb schon am 19. August 1954, ein Jahr nachdem er aus dem Amt des Ministerpräsidenten ausgeschieden war - in der Folge einer Wahl, bei der die Koalition, die seine Regierung getragen hatte, ihre Mehrheit verlor. Konrad Adenauer war es dagegen vergönnt, an seinem innen- und europapolitischen Werk weiter zu arbeiten und dadurch zur Kontinuität und Stabilität der jungen Bundesrepublik Deutschland wie auch der entstehenden Europäischen Gemeinschaft beizutragen.

Das Werk dieser beiden bedeutenden Staatsmänner hat Bestand. Sie haben nach der ideologischen Verblendung, den Schrecken des Terrors und der Zerstörung durch den Krieg für die nationale Aussöhnung gesorgt und die Grundlagen geschaffen für demokratische, pluralistische und rechtsstaatliche Entwicklungen in ihren Ländern. Dem Projekt der Einigung Europas haben sie nicht nur eine konkrete Gestalt gegeben, sondern durch ihre Erfahrung, ihre Weitsicht und ihr Beispiel auch eine ethische Dimension verliehen. Es ging ihnen um Frieden und Gerechtigkeit, um Solidarität und Freiheit – innerhalb der Länder, für die sie verantwortlich waren, und zwischen ihren Völkern und deren Nachbarn.

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30. August 2004
Gebäude des Bundesrates, Leipziger Str. 3-4, 10117 Berlin
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Sankt Augustin Deutschland