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von Benjamin Bidder

Wie Europa vom gesellschaftlichen Austausch politisch profitieren würde

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Im weiteren Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 wurde in Deutschland die Frage thematisiert, wie in Zukunft mit Russland umgegangen werden sollte. Diese Debatte kam allerdings meist nicht über Ansätze hinaus, fand ohne Analyse der gesellschaftlichen Lage in Russland statt und mündete nicht in die Entwicklung einer langfristigen Strategie.

Ein Beispiel waren die regelmäßig aufflammenden Forderungen, man möge Russland die WM entziehen oder das Turnier boykottieren. Da es sich um ein Prestigeprojekt des Kremls handelt, erschien ein Entzug der WM etwa einem Kommentator in der Süddeutschen Zeitung als eine geeignete Möglichkeit, um Präsident Wladimir Putin zu treffen – Stichwort: „Putins Spiele“. Ähnliche Forderungen hatte es bereits vor dem anderen großen Sportturnier gegeben, mit dem sich Russlands Präsident 2014 geschmückt hatte: den Olympischen Winterspielen in Sotschi. Diese Forderungen hatten keinen Erfolg, beleuchten aber den in Europa und den USA verbreiteten Trugschluss, dass Putin mit einer internationalen Isolierung und Bestrafung beizukommen wäre.

Das Gegenteil ist richtig: Europa und insbesondere Deutschland haben selbst ein erhebliches Interesse an einem intensiveren Austausch mit der russischen Gesellschaft, an einer vertieften Vernetzung. Die WM 2018 in Russland ist deshalb eine Chance. Das Turnier kann eine Möglichkeit eröffnen, den zwischen Russland und dem Westen entstandenen Graben ein Stück weit zu überbrücken. Denn die Entfremdung der russischen Gesellschaft von Europa ist auch die Folge einer zielgerichteten Indoktrination durch staatlich kontrollierte Medien in Russland. Deren Zerrbilder von Europa fallen auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil die überwältigende Mehrheit der Russen die Europäische Union (EU) aus eigener Anschauung nicht kennt. Abseits der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gibt es nur wenige, die in ihrem Leben einen Deutschen oder einen Franzosen kennengelernt haben.

Bislang hat die Konfrontation mit dem Westen zu keinem Zeitpunkt zu einer Verminderung des Rückhalts geführt, den die russische Staatsführung und ihr Kurs in der Bevölkerung genießen. Er treibt die Umfragewerte sogar in die Höhe. „Defensiven Patriotismus“ nennt der russische Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Michail Dmitrijew dieses Phänomen.

Konfrontation verstärkt Wagenburgmentalität

Das erklärt auch, warum die langsam wachsende russische Mittelschicht schweigt, obwohl sie noch 2011/12 aus Ärger über Wahlmanipulationen massenhaft gegen den Kreml demonstriert hatte. Diese städtische Mittelschicht hat innenpolitisch andere Prioritäten als der Rest der Bevölkerung. Eigentlich treiben die bürgerliche Mitte Fragen der weiteren Entwicklung um: Warum lahmt das Wirtschaftswachstum? Wie kann die Korruption im Gesundheitswesen zurückgedrängt werden? Warum gibt es für ihre Kinder kaum Spitzenuniversitäten in Russland?

Seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 wird über Missstände wie diese wenig diskutiert. Die außenpolitische Konfliktlage überstrahlt alle innenpolitischen Probleme. Das betrifft auch die Mittelschicht: Außenpolitisch hat sie identische Prioritäten wie der Rest der Bevölkerung. Auch das neue, urbane Bürgertum in Moskau und Sankt Petersburg hat begonnen, den Westen zu beschuldigen, den Konflikt in der Ukraine angezettelt zu haben – und schart sich hinter dem Präsidenten.

Die Mehrheit der Russen sieht ihr Land und ihren Präsidenten als Ziel unfairer Attacken aus dem Ausland. Jede Intensivierung der Konfrontation – insbesondere, wenn sie aus dem Lager des alten Rivalen in Washington zu kommen scheint – verstärkt diese Wagenburgmentalität.

Beispielhaft zu beobachten war dies anhand des Sturzes von Sepp Blatter, dem langjährigen Präsidenten des Weltfußballverbands FIFA. Als US-Strafverfolgungsbehörden 2015 Ermittlungen gegen FIFA-Funktionäre einleiteten, gelang es russischen Politikern und Medien spielend, daraus für das eigene Publikum ein ausschließlich gegen Russland gerichtetes Komplott zu konstruieren. Bei der FIFA sei ein „Umsturz“ mit dem Ziel geplant, schrieb etwa die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta, Russland die Weltmeisterschaft wegzunehmen. Die Amerikaner griffen nun „an allen Fronten an“. Zur Anwendung komme das gleiche Vorgehen wie während der Revolutionen in

„Ägypten, Libyen oder der Ukraine“, behauptete das Blatt.

Räuberpistolen und ratlose Beobachter

Die dem Kreml nahestehende, sehr erfolgreiche Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda wiederum behauptete, radikale Islamisten hätten den Pariser Eiffelturm bislang nur deshalb noch nicht in die Luft gejagt, weil er bald ohnehin „das höchste Minarett der Welt wird“. Solche Räuberpistolen lassen ausländische Beobachter ratlos zurück, fallen in der russischen Öffentlichkeit jedoch auf fruchtbaren Boden. Selbst die urbane Mittelklasse hat im Zuge der Ukraine-Krise wieder begonnen, russischen Staatsmedien zu vertrauen – denen sie noch 2011 und 2012 vorgeworfen hatte, Wahlmanipulationen vertuschen zu wollen.

Was sind die Gründe für den neuen Erfolg der russischen Informationspolitik im Inland? Die Berichte in den staatlichen und staatsnahen Medien über das angeblich feindlich gesinnte Ausland entsprechen nun wieder dem schematischen Weltbild, das viele russische Bürger seit Jahrzehnten kennen und mit dem sie aufgewachsen sind – „Konsonanz“ nennt der Forscher Dmitrijew dieses Phänomen.

Dmitrijew leitet aus seinen soziologischen Beobachtungen eine Empfehlung für den Westen ab. Die Mehrheit der Russen sei überzeugt, Putin verteidige das von Feinden belagerte Russland gegen unfaire Attacken. Das Ausland dürfe diese Effekte seiner Politik auf die russische Gesellschaft nicht aus dem Blick verlieren. Wo es möglich ist, sollte der Westen deshalb den Druck vermindern und „Voraussetzungen für eine Normalisierung der Beziehungen schaffen“. Das ist kein Appell zur Abschaffung der Ukraine-Sanktionen, aber der Hinweis, den Konflikt mit Russland überlegt zu führen. Je schneller das Gefühl der Bedrohung von außen schwinde, „desto früher wird die Bevölkerung beginnen, über ihre eigenen Probleme nachzudenken“. Wer interessiert sich schon für marode Straßen und sinkende Löhne, wenn der Feind vor den Toren steht?

Der zweite Grund für den Erfolg der russischen Informationspolitik im Inland ist die weitgehende Unkenntnis der tatsächlichen Lage in den Staaten der EU, wie etwa in Deutschland, bei der russischen Bevölkerung. Das russische Fernsehen verbreitet Zerrbilder von einem Kontinent, der angeblich sittlich verkomme (der Kampfbegriff „Gayropa“ macht in Russland die Runde) und zugleich vom Islam überrannt werde. Zur Jahreswende 2015/16 schnitt ein Staatssender zwischen Aufnahmen von den Silvesterzwischenfällen in Köln auch ein Video aus der Zeit des „Arabischen Frühlings“, ohne zu erwähnen, dass die Bilder überhaupt nicht aus Deutschland stammten, sondern vom Tahrir-Platz in Kairo. Das schwer erträgliche Video zeigt, wie eine blonde Reporterin vor laufender Kamera bedrängt und vergewaltigt wird.

Die EU hat eine eigene Spezialeinheit gegen solche Desinformations-Kampagnen aufgebaut. „EU-Mythbusters“ nennt sich das Team. Auf Twitter und Facebook erreicht es zusammengenommen rund 60.000 Follower, ein winziger Wert angesichts von 500 Millionen EU-Bürgern und 142 Millionen Einwohnern Russlands.

Bedauerlicherweise wird über eine andere Maßnahme selten diskutiert, weil sie politisch schwer umzusetzen ist: Die EU könnte die russische Desinformation mit Offenheit kontern und beispielsweise die Visumpflicht bei Reisen in den Schengenraum aussetzen, entweder für Bürger der Russischen Föderation allgemein oder aber wenigstens für Russen unter dreißig Jahren.

Bislang kennen die meisten Russen Europa fast ausschließlich aus dem Fernsehen. Gerade einmal 24 Prozent aller Russen sind laut Umfragen schon einmal in der EU gewesen. Die Visa sind ein Hindernis: Die Gebühr liegt bei 35 Euro, viel Geld in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei knapp 500 Euro im Monat liegt. Die Antragsteller müssen zu einem Konsulat oder einem privaten Visazentrum fahren und Fingerabdrücke nehmen lassen. Gerade in der weitläufigen russischen Provinz bedeutet das weite Wege.

Gegner der Aufhebung einer Visumpflicht argumentieren, der Schritt wäre eine Belohnung für Putin. Das Gegenteil ist richtig: Sie würde ihm Probleme bereiten. Eine Isolierung Russlands durch das Ausland schreckt die russische Führung ohnehin nicht ab, zumal der Kreml die Abkehr vom Westen selbst eingeleitet hatte, und zwar bereits vor Ausbruch der Ukraine-Krise.

Feindbildern entgegenwirken

Die Reaktivierung alter Feindbilder war die Reaktion auf die 2011/12 offenbar werdenden Probleme des Regimes. Damals wertete der Kreml jene Teile der russischen Elite auf, die keine Angst vor einem Konflikt mit dem Westen hatten, sondern ihn im Gegenteil kaum erwarten konnten. Der 2011 neu ernannte Präsidentenberater Sergej Glasew fordert etwa seit Langem, alle Wirtschaftsbeziehungen zum Westen zu kappen. Nur in Isolation könne Russland seine wahre Stärke erreichen. Wenn es nach Glasew geht, soll Moskau seine Devisenreserven nicht länger in Dollar oder Euro halten.

Der Kreml begann zudem bereits 2012 mit einem Prozess der sogenannten „Nationalisierung der Elite“. Seit 2013 dürfen russische Beamte und Politiker keine Konten, Firmen oder Häuser mehr im Ausland besitzen, der Westen soll kein Druckmittel gegen sie in die Hand bekommen. Seit dem Frühjahr dürfen vier Millionen Polizisten, Militärs und Geheimdienstler nicht mehr im Westen Urlaub machen, Beamte in Zukunft nur noch in Russland gebaute Dienstwagen fahren.

Die Aufhebung der Visumpflicht wäre auch die Einlösung eines lange überfälligen Versprechens. „In fünf Jahren haben wir keine Visa mehr“, hatte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi den Russen versprochen. Das war im Jahr 2003.

Die WM als Chance

Natürlich hilft eine Reise nicht in jedem Einzelfall gegen dumpfe Stereotype. Es mag Studenten in Moskau geben, die nach einem Studienaufenthalt in Deutschland verkünden, jeder Deutsche habe ein Exemplar von Mein Kampf auf dem Nachttisch liegen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Propagandamythen über Europa entlarvt werden, ist ungleich größer, wenn man Berlin, Paris oder auch Köln mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn man dort Bekannte hat, mit denen man telefonieren oder auf Facebook chatten kann.

Es gibt Programme für den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern. Diese Programme sind gut. Sie zielen jedoch auf die russische Bildungsoberschicht, die sich ohnehin am Westen orientiert, politisch aber nur geringen Einfluss hat. Europa führt mit Russland einen Elitendialog. Es müsste aber auch das Gespräch mit der breiten Bevölkerung suchen.

Ganz in diesem Sinne könnte auch die Fußballweltmeisterschaft einen Prozess des gesellschaftlichen Austausches anstoßen und dazu führen, dass zumindest Teile der russischen Gesellschaft ihr Bild von Europa und der Welt relativieren. Touristen und Fangruppen aus dem Ausland, aber auch das Auftreten der Mannschaften selbst kann einen Kontrapunkt setzen und der unter Russen weitverbreiteten Lesart vom Russland vermeintlich feindlich gesinnten Ausland in Ansätzen entkräften.

Zweifelsfrei wird die WM nicht gleich Ausgangspunkt eines Tauwetters werden. Dafür ist die Lage zu verfahren. Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit. Europa sollte sich auf ein Rennen über lange Distanz einrichten – und dabei klug abwägen, welche Wechselwirkungen in Russland zwischen Außen- und Innenpolitik bestehen.

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Benjamin Bidder, geboren 1981 in Bad Honnef am Rhein, sieben Jahre Moskau-Korrespondent von „SPIEGEL ONLINE“, seit 2016 Mitglied der Wirtschaftsredaktion von „SPIEGEL ONLINE“, Autor des Buches „Generation Putin“ (München, 2016).

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