Asset-Herausgeber

von Marie-Luise Recker

Reflexion über die deutsche Parlamentsgeschichte

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Der Deutsche Bundestag scheint sich allgemeiner Beliebtheit zu erfreuen. Vor dem Reichstag am Platz der Republik in Berlin bilden sich jeden Tag lange Schlangen von Besuchern, die das Gebäude besichtigen, einen Blick in den Plenarsaal werfen und von der Dachterrasse aus die Aussicht auf die Stadt genießen wollen. Die von Sir Norman Foster entworfene Glaskuppel über dem Sitzungssaal gilt längst als Sinnbild für die „Berliner Republik“, das vereinte Deutschland.

Auf der anderen Seite hat das Parlament in der Mediendemokratie einen schweren Stand. Die Klage, dass das Aktualitäts- und Sensationsbedürfnis der modernen Massenmedien zu wenig Raum lasse für eine ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit politischen Themen, dass Fernsehen und Talkshows die politische Agenda in stärkerem Maße bestimmten als der Deutsche Bundestag, ja dass mittlerweile Facebook und Twitter die zentralen Kommunikationsräume auch für politische Themen seien und somit den politischen Diskurs prägten, ist weit verbreitet. Wo also ist der Bundestag in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart verortet, und was kann uns die Geschichte des deutschen Parlamentarismus bei dieser Frage lehren?

Klischee vom „Professorenparlament“

Ikonografisch ist die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland zunächst mit der Paulskirche in Frankfurt am Main verknüpft, dem Tagungsort der Deutschen Nationalversammlung 1848/49. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Modell einer auf individuelle Freiheit und Rechtsgleichheit gründenden „bürgerlichen“ Gesellschaft und eines freiheitlichen, auf politischer Mitsprache der Bürger aufgebauten Nationalstaats in einer Verfassung niederzulegen. Entgegen dem Klischee vom redseligen, aber tatenlosen „Professorenparlament“ entwickelte sich in dieser Versammlung ein pragmatischer, improvisierter Parlamentarismus, der über bisherige frühkonstitutionelle Parlamente hinauswies. Mit ihrem Verfassungsentwurf zugunsten einer konstitutionellen Monarchie unter preußischer Führung hatten die in der Paulskirche Versammelten einen Markstein für die weitere Entwicklung gesetzt.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 erfüllte sich für große Teile des liberal und national denkenden Bürgertums das wichtigste politische Ziel – die nationale Einheit. Doch der Herrschaftskompromiss, den sie dafür mit Bismarck und den konservativen Eliten Preußens eingegangen waren, setzte ihrem politischen Handeln enge Grenzen. Mit dem Neben- und Gegeneinander von monarchischer Machtwahrung und parlamentarischer Mitsprache entsprach die Reichsverfassung von 1871 dem für das 19. Jahrhundert charakteristischen Typus der konstitutionellen Monarchie und war doch von der Handschrift Bismarcks geprägt. Da letztlich alle Fäden in der Hand des Reichskanzlers zusammenliefen, fiel der monarchisch-bürokratischen Exekutive ein deutliches Übergewicht zu. Allerdings steckten in den Rechten des Parlaments auch Entwicklungsmöglichkeiten, konnte gegen dessen Willen doch kein Gesetz und kein Haushalt verabschiedet werden. Der Einfluss des Parlaments musste steigen, wenn Umfang und Bedeutung der Reichsgesetzgebung zunahmen und wenn es ihm gelang, in der Öffentlichkeit seine Präsenz als politisches Forum der Nation zu festigen.

Die Frage, in welchem Maß der Reichstag im institutionellen Gebilde des Kaiserreichs seine Machtstellung ausbauen und damit auf dem Weg zu Parlamentarisierung und Demokratisierung voranschreiten konnte, gehört zu den zentralen wissenschaftlichen Kontroversen. Angesichts der Fundamentalpolitisierung, die spätestens um 1900 die politische Kultur des Kaiserreiches mit großer Dynamik veränderte, und der Entwicklung eines politischen Massenmarktes wurde der wilhelminische Obrigkeitsstaat allmählich ausgehöhlt. Bei allem Aufgaben- und Machtzuwachs des Reichstags ließ sich dennoch keine Entwicklung erkennen, die schrittweise oder gar zwingend das konstitutionelle in ein parlamentarisches System überführt hätte.

Parlamentarismusskepsis und die Folgen

Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde der Parlamentarismus als Regierungsform festgeschrieben. Allerdings sollte dem Reichstag nicht die gesamte Macht anvertraut, vielmehr ein „Parlamentsabsolutismus“ verhindert werden. Dieses Misstrauen gegen den konsequenten Parlamentarismus als originäre Form der repräsentativen Demokratie bewog die Verfassungsschöpfer dazu, unterschiedliche Demokratiemodelle miteinander zu verknüpfen: das parlamentarisch-repräsentative Prinzip, das sich im Reichstag verkörperte, das präsidiale Element, personifiziert im Amt des direkt gewählten Reichspräsidenten, und schließlich das direkt-demokratische Modell, niedergelegt in der Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid auf Reichsebene.

In der Praxis erwies sich dieses Nebeneinander als dysfunktional. Da der Zwang zur politischen Willensbildung durch das Parlament nicht stringent ausgestaltet war, erlagen die Parteien immer wieder der Versuchung, sich angesichts der überwältigenden politischen Sachprobleme den entscheidenden parlamentarischen Funktionen zu verweigern, insbesondere der Aufgabe, die Regierung zu bilden und zu tragen. Hierbei erwies sich die starke Stellung des Reichspräsidenten als Einfallstor für antiparlamentarische und antirepublikanische Kräfte, die darauf hinwirkten, die Weimarer Republik in ein autoritäres Regime umzuformen. Je weniger der Reichstag zu einer konstruktiven Mehrheitsbildung fähig war, desto mehr konnten antiparlamentarische Kräfte in das dadurch entstandene Vakuum vordringen.

Adenauer füllte das Grundgesetz mit Leben

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes versuchten, diese Defizite zu beheben und den neuen westdeutschen Staat zu einer strikt parlamentarischen Demokratie zu formen. In der Tat wurde der Bundestag nun in die politische Verantwortung hineingezwungen, indem er sich nicht selbst auflösen konnte, eine Regierung nur über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen vermochte und seine legislative Willensbildung durch kein Instrument der direkten Demokratie ausgeschaltet werden konnte. Mit Adenauer fand die neue politische Ordnung einen ersten Kanzler, dem es gelang, eine stabile Koalition auf seine Politik einzuschwören und so die im Grundgesetz kodifizierte Verfassungsordnung mit Leben zu füllen. Die Gewichte innerhalb dieser „Kanzlerdemokratie“ sollten sich im Laufe der Zeit zwar verändern, doch blieben auch unter Adenauers Nachfolgern ihre Strukturen bestimmend.

In seiner Binnenorganisation und seinen Verfahrensweisen orientierte sich der Deutsche Bundestag in hohem Maße an der seit 1848 ausgebildeten Tradition seiner Vorgängerparlamente. In seinem Selbstverständnis jedoch war er ein Beispiel des westlichen, demokratischen Verfassungsstaats, in dem es die Aufgabe des Parlaments ist, die Regierung aus sich heraus zu bilden und zu tragen, und sich die Opposition als Regierungsalternative anbietet und bereithält. Vor diesem Hintergrund konnte sich in der Bundesrepublik Deutschland ein stabiles Regierungssystem entwickeln, dessen kennzeichnendes Merkmal im Vergleich zur Weimarer Republik, aber auch zur Realität vieler westlicher Demokratien, die Länge und die Kontinuität der Kanzlerschaften waren. Diese Stabilität und die Erfahrung, dass Parlamentarismus und erfolgreiches Regieren durchaus zusammenpassen, haben die Verwurzelung der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland in hohem Maße unterstützt.

Einfluss der Massenmedien

Kritik und Protest begleiteten die Parlamentarisierung der europäischen Nationalstaaten von Beginn an. Wo immer sich Gegner formierten, stellten sie die Legitimation der Abgeordneten in Abrede, den Volkswillen zu repräsentieren, oder zogen deren Fähigkeit in Zweifel, die anstehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Angesichts der Schwerfälligkeit parlamentarischer Entscheidungen und der Schwierigkeit, politische Kompromisse zu finden, schien manchem Kritiker der Übergang zu autoritären Systemen als der beste Weg, diese Situation zu überwinden. Oder aber der Vorwurf von Bürgerferne, Ineffizienz und Parteilichkeit stärkte populistische Strömungen.

Zudem schwindet in der Mediendemokratie die Bedeutung der Parlamente, indem politische Debatten aus den Plenarsälen in medial inszenierte Arenen politischer Diskussion auszuwandern drohen. Dies ist ebenfalls nicht neu, wird jedoch durch die Allgegenwart der neuen Massenmedien in hohem Maße befördert. Dennoch wird bei kritischem Blick deutlich, dass auch sie das Bedürfnis nach Wahrheit, Klarheit und Authentizität nicht zu erfüllen vermögen. Auch sie werden in dieser Sicht als inszenierte Debatten und „Politiktheater“ abgetan, in denen eine ernsthafte und gründliche Auseinandersetzung mit politischen Themen nicht stattfinde und der politische Schlagabtausch ausschließlich der Profilierung und Geltungssucht der Teilnehmer diene. Zudem führen Kritiker ins Feld, dass die Politik ihren diskursiven Kern verliere, wenn sie sich auf diese Weise dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums anpasst und eher auf Schlagworte setzt als auf fundierte Argumente, die der Komplexität politischer Gegenstände entsprechen.

Durchsetzungsfähiges Modell

Insofern bleibt – bei aller Kritik am Detail – die Rolle der Parlamente in der modernen Massendemokratie unverzichtbar. Gerade der Blick auf die Geschichte des Parlamentarismus lässt deutlich werden, dass die Parlamente ihrer Funktion, die politischen Interessen der Wähler aufzunehmen und in politische Entscheidungen umzusetzen, durchaus gerecht wurden. Wie die wechselvolle Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland zeigt, waren sie „lernende Systeme“, die sich bei allen Hindernissen und Umwegen gegenüber anderen Politikmodellen durchsetzen konnten. In ihrer Funktion als Repräsentant der Wählerschaft, als Raum für den kontroversen politischen Diskurs, als fleißiger Gesetzgeber, als Stütze wie als Kontrolleur der Regierung und nicht zuletzt als Rekrutierungsfeld für den politischen Nachwuchs sind sie ein unabdingbarer Teil unseres politischen Systems.

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Marie-Luise Recker, geboren 1945 in Osnabrück, emeritierte Professorin für Neueste Geschichte, Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2012 bis 2018 Vorsitzende der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien.

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