Asset-Herausgeber

von Shlomo Avineri

Deutsche Erinnerung aus israelischer Perspektive

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Als der erste Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel, Rolf Pauls, 1965 ankam, gab es Demonstrationen – schon der Gedanke an diplomatische Beziehungen zwischen dem jüdischen Staat und Deutschland war vielen zuwider. Selbst die Bereitschaft Deutschlands, Reparationen an Israel zu leisten, konnte ein grundsätzliches Unbehagen über die Beziehungen zwischen den beiden Ländern und den beiden Völkern nicht überwinden. Jahrelang waren israelische Reisepässe mit dem Hinweis versehen, für Reisen nach Deutschland keine Gültigkeit zu besitzen; selbst als diese Einschränkung aufgehoben wurde, mieden viele Israelis noch immer Deutschland oder den Kauf deutscher Waren. Dass Pauls ein Offizier der Wehrmacht gewesen war, der an der Ostfront gedient hatte, verschärfte die Ambivalenz der Beziehung. Auch die Tatsache, dass Bonn viele Jahre lang aus Sorge um mögliche negative Reaktionen der arabischen Staaten gezögert hatte, formale Beziehungen zu Israel aufzunehmen, trug nicht dazu bei, die Schatten der persönlichen und kollektiven Erinnerung an den Holocaust zu vertreiben.

Heute gilt Deutschland neben den USA als der beste Freund Israels; Berlins Unterstützung für Israel in den komplexen Beziehungen zur Europäischen Union wird hoch geschätzt. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede vor der Knesset die Existenz und Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson bezeichnete, erhielten die ohnehin einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel eine besondere theoretische und moralische Dimension. Dass ein Begriff wie „Staatsräson“, der aus offensichtlichen Gründen in Deutschland nach 1945 tabu war, nun die gegenseitige Bindung der beiden Länder symbolisiert, ist eines der tiefgreifendsten und bedeutsamsten Anzeichen für eine Entwicklung, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wäre.

Es wäre nur natürlich, wenn auch oberflächlich, diese Veränderung dem Gang der Zeit zuzuschreiben – schließlich trennt uns heute mehr als ein halbes Jahrhundert von den verbrecherischen Schrecken des Holocaust. Doch paradoxerweise ist die Erinnerung an den Holocaust heute im Geschichtsbild Deutschlands wie Israels präsenter als in den Jahrzehnten direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die dialektische Folge dieser vertieften Erinnerung war, dass beide Länder näher zusammenrückten, anstatt sich weiter voneinander zu entfernen. Dieses überraschende Ergebnis verlangt nach einer Erklärung. Die folgende Beschreibung ist notwendigerweise allgemein gefasst, doch scheint sie dennoch einige bedeutsame Wahrheiten im kollektiven Bewusstsein beider Länder zu beinhalten.

Wichtigere Probleme?

Nach 1945 konzentrierten sich die Anstrengungen in Westdeutschland (und in etwas anderer Form auch in der zukünftigen DDR) auf den Wiederaufbau eines physisch und moralisch verwüsteten Landes. Die Nürnberger Prozesse bezeugten auf schreckliche Weise die Verbrechen der Nazis; vielen Deutschen erschienen sie gewissermaßen als ultimative Abrechnung mit den Verbrechen des „Dritten Reichs“ – nicht, indem sie einen Schlussstrich zogen, aber sie gaben der deutschen Öffentlichkeit die Chance, sich auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit zu konzentrieren. Die Aufteilung des besiegten Deutschlands in West und Ost, die Gründung der DDR als Satellitenstaat der Sowjetunion und die Blockade Westberlins schufen völlig neue Bedingungen, die es scheinbar erforderlich machten, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hinter sich zu lassen und sich auf die Zukunft zu konzentrieren.

Konrad Adenauers Entscheidung, Israel Reparationen anzubieten – eine historische Entscheidung, die moralische Überlegungen und Realpolitik miteinander verband und damit auf breiter Basis legitimierte – erschien ebenfalls als ein Schlussstrich unter die Verbrechen der Nazis: Es waren Hitler und der Nationalsozialismus, die sowohl die Schuld als auch die moralische Verantwortung für das Geschehene zu tragen hatten, nicht das deutsche Volk als solches, das schließlich auch ein Opfer des Naziregimes, seiner Ideologie und seiner Politik gewesen war.

Der Wiederaufbau eines funktionierenden Staates in Westdeutschland fußte auf zwei Grundlagen: Zum einen war der Staat in den Prinzipien des Grundgesetzes verankert; zum anderen wurde über die Vergangenheit Zehntausender früherer Beamter des „Dritten Reichs“ hinweggesehen, von denen einige sogar in hohe Positionen in der Bundesrepublik aufstiegen. Rechtliche Probleme, moralische Überlegungen und Zweckmäßigkeit ließen es als nicht ratsam erscheinen, Täter der Nazi-Verbrechen vor Gericht zu stellen. Der Mord an sechs Millionen Juden – der Begriff „Holocaust“ war damals noch nicht allgemein gebräuchlich – konnte als eines der vielen schrecklichen Dinge abgetan werden, die in einem Krieg passieren. Dass die Bundesrepublik ein Verbündeter des Westens im Kampf gegen den sowjetischen Totalitarismus im Allgemeinen und die DDR im Besonderen war, besiegelte die Abwendung von der Vergangenheit. Verständlicherweise erschien das Schicksal der Kriegsgefangenen, die immer noch von den Sowjets festgehalten wurden, als ein viel konkreteres Problem als das, was den Juden im Krieg widerfahren war.

Parallele Entwicklungen aus unterschiedlichen Gründen

Ein ähnlicher Vorgang ereignete sich in Israel, nachdem es vor siebzig Jahren seine Unabhängigkeit erlangt hatte – obwohl die Gründe natürlich diametral entgegengesetzt waren. Nachdem der neu gegründete jüdische Staat den Ansturm seitens der arabischen Nachbarstaaten im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 nur knapp überlebt hatte, richtete das Land seine Aufmerksamkeit nicht nur auf sein Überleben, sondern auch auf den Aufbau einer Nation. Nachdem die britischen Behörden des Mandatsgebietes Palästina jahrzehntelang den Zuzug von Juden beschränkt hatten, bestand die erste Einwanderungswelle nach 1948 hauptsächlich aus Holocaust-Überlebenden aus Europa.

Auf der nationalen Ebene stand der Staat vor der Herausforderung, für die Neuankömmlinge Wohnungen und Arbeitsplätze sowie soziale und psychologische Unterstützung bereitzustellen. Auf individueller Ebene benötigten diese Überlebenden eine Möglichkeit, ihr Leben wieder aufzubauen und zu einer Art Normalität zurückzukehren – es ging weniger darum, ihre Vergangenheit in Konzentrations- und Vernichtungslagern zu vergessen, sondern zu versuchen, diese zu überwinden, indem sie sich auf die Zukunft konzentrierten: die Familien, die sie gründeten, die Erziehung ihrer Kinder, der Lebensunterhalt, den sie sich verdienten. Paradoxerweise war ihr Fokus auf die Zukunft eine gewisse Parallele – aus entgegengesetzten Gründen – zu dem Widerwillen vieler Deutscher in der Nachkriegszeit, darüber nachzudenken oder zu reden, was „damals“ und „dort drüben“ geschehen war. Diese zukunftsorientierte Agenda zeigte sich in den Schulbüchern und in offiziellen Feiern, bei denen der neue Staat mit seinen realen Gefahren und Herausforderungen im Zentrum des nationalen Narrativs stand.

Diese paradox-parallelen Entwicklungen wurden von zwei Ereignissen über den Haufen geworfen – einem in Israel und dem anderen in Deutschland –, die zwar voneinander getrennt, aber miteinander verbunden waren: dem Eichmann-Prozess 1961 in Israel und der Studentenrevolte der 1960erJahre in Deutschland.

Kollektive Katharsis

Die Gefangennahme Adolf Eichmanns und das Verfahren gegen ihn waren nicht nur ein Drama, in dessen Mittelpunkt einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust stand. Im Zeitalter der Massenmedien und des Fernsehens konfrontierte der Prozess Millionen Menschen zum ersten Mal mit der Realität des Holocausts. In Israel fragten junge Menschen die Älteren nach Einzelheiten zu ihrem Überleben im Krieg, von dem sie nur eine schemenhafte Vorstellung hatten, und die Zeugenaussagen, die im Fernsehen übertragen wurden, ermutigten viele Überlebende dazu, sich selbst zu Wort zu melden. In Deutschland begannen junge Leute gleichermaßen damit, ihre Eltern – oder auch ihre Großeltern – danach zu fragen, was sie von 1939 bis 1945 gemacht hatten. Beide Gesellschaften durchlebten eine persönliche und kollektive Katharsis.

Der Eichmann-Prozess fand in Israel während einer Zeit relativ geringer Spannungen mit den arabischen Nachbarn sowie der wirtschaftlichen und sozialen Integration nach den Massenzuwanderungen statt, sodass der Holocaust einen wesentlich zentraleren Platz im nationalen Narrativ einnehmen konnte. Während vor dem Prozess der Aufstand im Warschauer Ghetto im Mittelpunkt stand, wurde jetzt der Politik viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet, die zu Auschwitz geführt hatte, und Yad Vashem, Israels bedeutendste Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts, nahm als Ort der Erinnerung eine wesentlich zentralere Stellung im nationalen Bewusstsein ein.

In Deutschland waren die Auswirkungen viel tiefgreifender: Es war unmöglich geworden, eine historische Abrechnung zu umgehen und sich nicht dem Holocaust als einem Völkermord zu stellen. Dem Einzelnen, den gesellschaftlichen Organisationen, Städten und Gemeinden wurde klar, dass es nicht nur um persönliche Wiedergutmachung für Überlebende oder ihre Nachfahren ging, sondern auch um das Eingeständnis, dass es sich um einen mörderischen Versuch gehandelt hatte, die Erinnerung an die Juden aus einem Jahrtausend deutscher Geschichte auszulöschen.

Mit anderen Worten: Die Erinnerung an die vertriebenen und ermordeten Juden war gleichbedeutend mit der Erinnerung an zentrale Kapitel der deutschen Geschichte, Gesellschaft und Kultur. Deutsche Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Industrialisierung, Wirtschaft, Kunst und Journalismus – all diese Bereiche konnten nicht angesprochen werden, ohne den Beitrag von Juden auf ihren jeweiligen Gebieten zu berücksichtigen. Damit sind Israel und seine Errungenschaften und Herausforderungen ein bedeutender Teil der deutschen Geschichte und auch ein Symbol dafür, was Deutschland aufgrund des Nationalsozialismus verloren hat.

Viel ist über eine deutsch-jüdische Symbiose geschrieben worden, und wie der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem zweifelten viele, ob es sie je in Wirklichkeit und nicht nur als Mythos gegeben habe. Bundeskanzlerin Merkels fundamentale Aussage über die deutsche Staatsräson geht jedoch über die Politik hinaus. Auf eine tragische und auch traurige Weise können zwei Nationen nicht tiefer miteinander verbunden sein als Deutschland und Israel – das ist etwas, was beide Nationen nunmehr anerkennen.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim

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Shlomo Avineri, geboren 1933 in Polen, Politologe, Historiker, Professor an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

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