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Interview: "Keine Feigenblattfunktion"

von Felix Klein
von Bernd Löhmann

Felix Klein über das neue Amt des Antisemitismus-Beauftragten

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Was sagt es über das Gelingen unserer Erinnerungskultur aus, wenn es rund siebzig Jahre nach dem Holocaust einen „Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und für den Kampf gegen Antisemitismus“ geben muss? Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner ist der Meinung, es sei eigentlich eine „Schande“.

Felix Klein: Den offenen und selbstkritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit werte ich als eine große Stärke der deutschen Gesellschaft. Diese lebendige Erinnerungskultur mahnt auch siebzig Jahre nach dem Holocaust zur Wachsamkeit und zur Entschlossenheit, gegen jedwede Form von Antisemitismus einzuschreiten. Ich erlebe – auch mit dem großen Interesse an meinem Amt – eine Öffentlichkeit, die auf diese Fragen hoch sensibel reagiert. Auf dieser Grundlage sehe ich vor allem die Chance, Positives bewirken zu können.

Manche, noch dazu Wohlmeinende, reagierten mit Skepsis oder gar Zynismus auf die Einführung Ihres Amtes. „So hilfreich wie ein Wetterbeauftragter“, erachtete es Henryk M. Broder angesichts der Größe der Aufgaben.

Felix Klein: Der Antisemitismus hat trotz aller Anstrengungen, ihn zu bekämpfen, nie aufgehört, zu existieren. Jetzt ist er wieder sichtbarer geworden – beispielsweise durch Hassbotschaften in den sozialen Medien. Die Bundesregierung hat festgestellt, dass sich neue Flanken öffnen, die – vielleicht koordinierter als zuvor – geschlossen werden müssen. Ich habe nicht vor, eine Feigenblattfunktion einzunehmen, sondern werde im Gegenteil Politiker, Journalisten, Multiplikatoren insgesamt auf die Probleme aufmerksam machen – überall, wo sich Antisemitismus äußert.

Antisemitismus wird aktuell sehr unterschiedlich wahrgenommen: Achtzig Prozent der in Deutschland lebenden Juden sind der Auffassung, er nehme zu und sei eine Bedrohung. Dagegen meinen achtzig Prozent der nichtjüdischen Deutschen, das Thema Antisemitismus sei nicht so relevant. Diese Diskrepanz muss man auflösen, und ein Schlüssel dafür ist die Herstellung von Öffentlichkeit. Mein Amt wird trotz seiner überschaubaren Ressourcen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.

Minderheiten, die unter Diskriminierungen zu leiden haben, können sich beispielsweise an die Antidiskriminierungsstelle beim Familienministerium wenden. Inwieweit hat es auch historische Gründe, dass es nun eigens einen sogenannten Antisemitismus-Beauftragten gibt?

Felix Klein: Deutschland ist verantwortlich für die grausamste gruppenspezifische Diskriminierung, die es in der Geschichte gegeben hat: die Verfolgung, Vertreibung und die systematische Ermordung von Millionen Juden. Keine andere Eskalation des Rassismus ist damit vergleichbar. Hinzu kommt, dass sich beim Antisemitismus rassistische mit verschiedenen ideologischen Motivationen auf gefährliche Weise vermischen. Juden haben nicht nur unter Herabsetzungen zu leiden, weil sie jüdisch sind, sondern werden unter Stichworten wie „jüdische Weltverschwörung“ oder „Kontrolle der Juden über das Kapital“ ökonomisch wie politisch als übermächtige anonyme Bedrohung hingestellt.

Angesichts von über eintausend registrierten Übergriffen auf Muslime und islamische Einrichtungen im vergangenen Jahr stellt mancher die Frage, ob ein „Anti-Islamophobie-Beauftragter“ nicht ebenso berechtigt wäre …

Felix Klein: Dass Muslime in Deutschland diskriminiert und sogar angegriffen werden, ist genauso wenig hinnehmbar wie jede antisemitische Handlung. Übergriffe dieser Art beanspruchen die gleiche juristische und politische Aufmerksamkeit. Aber die Hintergründe sind andere: Jüdisches Leben ist seit vielen Jahrhunderten ureigener Bestandteil der deutschen Kultur, es ist nicht neu hinzugekommen und muss nicht neu integriert werden. Auf diese historische und kulturelle Prägung durch das Judentum verstärkt aufmerksam zu machen, sehe ich als einen wesentlichen Aspekt meines Auftrags. Es geht vor allem auch darum, positive Signale zu setzen und jüdisches Leben für die Mehrheitsgesellschaft in seiner Geschichte und Gegenwart erlebbarer zu machen. Letztlich scheint mir das eine der besten Waffen zur Bekämpfung des Antisemitismus zu sein.

Millionen von Juden sind in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet worden. Vor diesem Hintergrund warne ich vor leichtfertigen Gleichsetzungen, wie sie in diesem Kontext leider vorkommen, wenn etwa von Muslimen als den neuen Juden die Rede ist und so die Maßstäbe zwischen dem Geschehen im Nationalsozialismus und der Aktualität heute in eine totale Schieflage geraten.

Daher muss gegen Übergriffe auf Muslime und islamische Einrichtungen ebenso energisch vorgegangen werden. Aber wegen der unterschiedlichen Hintergründe müssen die Antworten nicht zwangsläufig dieselben sein. Eine Beauftragte für Integration gibt es ja seit geraumer Zeit.

Manche Beobachter halten den heutigen Antisemitismus in Westeuropa fast ausschließlich für ein muslimisches Phänomen. Wenn dem so wäre, ginge es doch vor allem um Fragen der Integration, wofür es – wie Sie feststellen – bereits eine Beauftragte gibt.

Felix Klein: Wie gesagt, hat der positive Teil meiner Aufgabenbeschreibung, „Beauftragter für jüdisches Leben“ zu sein, großen Stellenwert. Hier geht es schon deshalb nicht um Integration, weil jüdisches Leben – anders, als es die Nazis wahrhaben wollten – seit jeher integraler Bestandteil deutscher Kultur gewesen ist. Dass der heutige Antisemitismus ausschließlich ein „muslimisches Phänomen“ sei, greift meines Erachtens zu kurz, zumal diese Problembeschreibung die Gefahr falscher Umkehrschlüsse birgt – nämlich dass Muslime automatisch Antisemiten seien, was selbstverständlich zurückzuweisen ist. Zur Beschreibung des heutigen Antisemitismus bedarf es eines

weit umfassenderen Szenarios …

Das sagt Josef Schuster zwar auch, fügt aber hinzu, dass sich die Juden in Deutschland momentan vor allem wegen des islamistisch motivierten Antisemitismus große Sorgen machen.

Felix Klein: Einen Anhaltspunkt gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik: Rein zahlenmäßig wäre der Antisemitismus von Rechtsextremen nach wie vor die größte Gefahr. Wenn man sich aber die antisemitischen Vorfälle ansieht, die die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) für Berlin ermittelt hat, ergibt sich zumindest dort ein anderes Bild. Es kommt dem weitaus näher, was viele Juden in Deutschland wahrnehmen, wenn sie aktuell die größere Bedrohung im Antisemitismus unter Muslimen ausmachen. Dennoch möchte ich mich nicht auf eine Hierarchisierung der Formen von Antisemitismus einlassen, schließlich ist jeder Fall ein Fall zu viel. Auch im linksextremen Spektrum werden rote Linien überschritten.

Wie passt Rockmusiker Roger Waters, der Sie von einer Bühne herab auch persönlich kritisiert hat, in Ihr Lagebild?

Felix Klein: Roger Waters würde ich als Vertreter eines linken, israelbezogenen Antisemitismus einordnen, der zwar zahlenmäßig kein besonders großes Gewicht hat, aber deswegen nicht minder gefährlich ist. Er geht primär aus Künstlerkreisen oder einem intellektuellen Milieu hervor und übt auf gewisse Eliten eine meinungsbildende Wirkung aus.

Sie fangen erst an, ein detailliertes Lagebild für Ihre Arbeit zu entwickeln. Wo würden Sie zu diesem Zeitpunkt intuitiv ansetzen?

Felix Klein: Von der Intuition: Hass im Netz ist eines der großen Probleme. Inzwischen gibt es mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ein Instrument, mit dem Antisemitismus systematisch aufgedeckt und gemeldet werden kann. Aber es muss jetzt auch konsequent angewendet werden. Ein anderer Schwerpunkt liegt gewiss im Bildungs- und Erziehungsbereich. Wir müssen beispielsweise entschlossen dagegen vorgehen, dass „Jude“ wieder ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist. Ich werde auf die Kultusministerkonferenz zugehen – mit dem Ziel, eine Bund-Länder-Kommission einzurichten, die über diese Fragen spricht und Konzepte anbietet. Wichtig ist mir auch, dass Lehrerinnen und Lehrer besser in die Lage versetzt werden, schnell, entschlossen und adäquat gegen Antisemitismus vorzugehen.

Vor uns liegt die Aufgabe, Formen der Erinnerung zu finden, die jüngere Menschen stärker anspricht und sensibilisiert – und das selbst dann, wenn ihre Eltern nicht aus Deutschland stammen. Die Nachwirkungen der NS-Diktatur sind bis heute spürbar und prägen unsere Realität. Alle, die in Deutschland leben, tragen eine Verantwortung für die Erinnerung daran und sind durch die Geschichte gefordert.

Wie angedeutet, setze ich aber auch auf eine größere Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens im Alltag und hoffe darauf, dass sich jüdische Gemeinden stärker öffnen – etwa mit Tagen der offenen Synagoge oder attraktiven Kulturfestivals. Es sollen Menschen in die Synagogen kommen, die wenig vertraut mit jüdischer Kultur sind. Die Präsenz und Lebendigkeit des Judentums muss verstärkt dargestellt werden – etwa auf öffentlichen Plätzen mit Hanukkah-Leuchtern. Wo es keine jüdischen Gemeinden mehr gibt, sollte die nichtjüdische Bevölkerung auf die vorhandenen Zeugnisse der jüdischen Kultur aufmerksam gemacht werden – mithilfe der jüdischen Gemeinden, aber auch etwa der Kultus- und Schulbehörden.

Wie steht es um den jüdisch-muslimischen Dialog?

Felix Klein: Ich weiß von einigen Vorsitzenden jüdischer Gemeinden, die nach dem Freitagsgebet in Moscheen eingeladen werden. Insofern gibt es diesen Dialog bereits, aber es wäre wünschenswert, ihn auszubauen. Wenn jüdische Gemeindevertreter und Organisationen gemeinsam gegen Hass und Gewalt auftreten und so die Solidarität zwischen allen Bürgern unterstreichen, setzt das starke Zeichen. Allerdings gibt es die Schwierigkeit, Ansprechpartner zu finden, denn nur etwa zwanzig Prozent der Muslime in Deutschland sind organisiert. Trotzdem müssen wir es versuchen und vor allem über die Moschee-Gemeinden oder landsmannschaftlich geführte Vereinigungen auf Muslime zugehen.

Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass sich die politische Situation in der Türkei verändert hat. Jahrzehntelang gab es keine Probleme zwischen türkischstämmigen Muslimen und Juden in Deutschland. Nun wirft die Verbundenheit vieler Moschee-Gemeinden mit dem türkischen Staat Probleme auf.

Wenn Sie jüdisches Leben in Deutschland fördern möchten – welche Rolle spielt dabei die Erinnerungskultur auch angesichts vermehrter Tabuverletzungen wie die „Vogelschiss“-Äußerung von Alexander Gauland?

Felix Klein: Erinnerungskultur ist eine Grundlage meiner Arbeit. Ohne sie lässt sich jüdisches Leben in Deutschland nicht richtig verstehen. Wenn der Nationalsozialismus verharmlost und relativiert wird, reicht das weit über die jüdische Gemeinde hinaus. Ganz Deutschland nimmt dabei Schaden! Eine Gesellschaft, die eine schonungslose Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zulässt, ist stark. Dagegen ist es ein Zeichen von tiefer Schwäche, diese Diskussionen zurückdrängen oder abschneiden zu wollen.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 21. Juni 2018.

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Felix Klein, geboren 1968 in Darmstadt, seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.

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