Asset-Herausgeber

Amalgam aus liberal und konservativ

von Matthias Oppermann

Die „Konservatismusdebatte“ in der Union der frühen Bundesrepublik

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Martina Steber: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1980 Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 78, De Gruyter, Berlin/Boston 2017, 64,95 Euro.






Das Lachen ihrer Kollegen dürfte Else Brökelschen lange in den Ohren geklungen haben. In einer Sitzung der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hatte sie sich einen peinlichen sprachlichen Lapsus geleistet, den der Spiegel am 1. Juli 1959 vergnüglich aufspießte. Dem Bundeskanzler sei hinterbracht worden, konnte man dort lesen, dass sich die „Erhard-Anhänger“ in der CDU als „nationalliberal“ bezeichnet hätten. Das hatte auch Brökelschen getan, dabei aber schneller gesprochen, als gut für sie war: „Ich komme doch selbst aus dem nationalsozialistischen Lager – ich meine: nationalliberal.“ Das war durchaus kein Freud‘scher Versprecher, denn Brökelschen war in der Weimarer Republik Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP) gewesen und hatte stets Distanz zum Nationalsozialismus gewahrt. Politisch und moralisch war ihr nichts vorzuwerfen. Diese Episode macht aber zweierlei deutlich: zum einen, dass die Unionsmitglieder keine unangefochtene gemeinsame Identität hatten; zum anderen, dass das „Dritte Reich“ die Kategorien und Begriffe des Kaiserreichs und der Weimarer Republik mit in den Abgrund gerissen hatte. CDU und CSU waren deshalb gezwungen, ihren eigenen Standort zu bestimmen und nach Worten zu suchen, mit denen er sich angemessen beschreiben ließ.



Selbstfindung in Anlehnung an britischen Konservatismus


Das verlief nicht immer harmonisch, wie Martina Steber in der vorliegenden Studie am Beispiel des Konservatismus zeigt. Natürlich war der Konservatismus nicht der einzige Begriff, um dessen Bedeutung man sich schon in den 1950er-Jahren stritt. Aber die Frage, was konservativ bedeutete und ob man sich selbst so nennen wollte, dominierte seit der Gründung der Unionsparteien ihre, wie Martina Steber es nennt, „sprachpolitischen“ Debatten. Und nicht nur das: Die Diskussion über die „politischen Sprachen des Konservativen“ waren in einen weiteren intellektuellen Diskurs eingebettet, der allerdings aufgrund der besonderen bundesdeutschen Umstände auf merkwürdige Weise von der Debatte innerhalb der Union getrennt blieb. Um deutlich zu machen, worauf das zurückzuführen war, geht die Autorin verschiedene Wege; zentral ist dabei der Vergleich der Bundesrepublik Deutschland mit Großbritannien.


Man kann sich darüber streiten, ob dieser Vergleich überhaupt sinnvoll und gelungen ist. Zweifellos hinkt er, weil dem britischen Beispiel nicht einmal die Hälfte des Raumes gegeben wird, den die Verhältnisse in der Bundesrepublik einnehmen. Martina Steber begründet das damit, dass in Großbritannien aufgrund der gefestigten konservativen Parteitradition einfach weniger über den Begriff gesprochen worden sei. Das mag stimmen, aber es ändert nichts an der Asymmetrie eines Vergleichs, den manche nicht als solchen ansehen werden. Und doch ist er sinnvoll, dann jedenfalls, wenn man den Teil der Arbeit, der Großbritannien gewidmet ist, als Folie betrachtet, auf der die Autorin die deutschen „Sprachpolitiker“ zu Wort kommen lässt. Denn ohne diesen Hintergrund wäre manches, was in der Bundesrepublik erörtert wurde, deutlich schwerer zu verstehen. Vieles, was diskutiert wurde, wäre ohne das britische Beispiel nicht zur Sprache gekommen.


Tatsächlich fand die Selbstfindung der bundesdeutschen Konservativen durchgehend entweder in Anlehnung an den britischen Konservatismus statt oder, ganz im Gegenteil, in Abgrenzung von ihm. Insofern ist es wichtig, zu wissen, worum es dabei ging. Das zeigt Martina Steber ebenso kompakt wie kenntnisreich im zweiten, den Begriffen Conservatism und Toryism gewidmeten Kapitel. Wenn man daran etwas kritisieren wollte, dann höchstens, dass sich am Rande der Darstellung einige kleinere Fehler eingeschlichen haben: So hat sich zum Beispiel Edmund Burke 1796 nicht den Tories zugeordnet, sondern bis zu seinem Tod im darauffolgenden Jahr als Old Whig betrachtet. Und der amerikanische Historiker Russell Kirk, dessen Buch The Conservative Mind zumindest in den Vereinigten Staaten keinen besonders großen Einfluss hatte, war keineswegs ein Vordenker des „amerikanischen Neokonservatismus“, sondern der New Conservatives der 1950er-Jahre, deren traditionalistischer, oft wenig reflektierter Konservatismus in scharfem Gegensatz zum Denken der erst in den 1970er-Jahren auftretenden Neoconservatives stand.


Solche Quisquilien beeinträchtigen aber den Wert dieses Kapitels nicht, das, kurz gesagt, vor Augen führt, dass der Konservatismus in Großbritannien in all seinen Varianten niemals außerhalb des liberalen Systems gedacht wurde und auch nicht gedacht werden konnte. Das gilt nicht nur für den auf George Canning und Sir Robert Peel zurückgehenden und letztlich in Burkes Whiggismus wurzelnden britischen Liberalkonservatismus, sondern auch für staatsnähere Formen des Konservatismus, wie sie sich mit Namen wie Benjamin Disraeli oder Harold Macmillan verbinden.



Ein Glück, ein Engländer zu sein?


Das wichtigste Stichwort ist freilich der Liberalkonservatismus, denn die Vorstellung eines konservativ ausbuchstabierten Liberalismus prägte auch die Gedankenwelt derjenigen, die im Umfeld von CDU und CSU konservativ sein wollten und nachzuweisen versuchten, dass der Begriff ohne Weiteres auf ihre Parteien angewandt werden könne. Angesichts des schlechten Leumunds, den der Konservatismusbegriff nach 1945 hatte – Weimar war keineswegs vergessen –, war das ein kühnes Unterfangen. Noch mehr als für den Konservatismus galt das für den Liberalismus. Denn nicht nur die Vertreter des fast ausschließlich katholisch geprägten Arbeitnehmerflügels, sondern auch die anderen entschiedenen Christen beider Konfessionen in der Union betrachteten den Liberalismus als einen der großen weltanschaulichen Gegner ihrer „Partei der Mitte“. Zwischen der Scylla des Sozialismus und der Charybdis des Liberalismus vertrat die Union das einzig haltbare, nämlich christliche Gesellschaftsverständnis.


Schon am Ende der 1950er-Jahre wurde diese Sichtweise allerdings infrage gestellt – und zwar bemerkenswerterweise von einem besonders entschiedenen Christen. Auf dem Kieler Parteitag von 1958 versuchte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, die CDU mit dem Liberalismus in begriffspolitischer Hinsicht zu versöhnen – faktisch war er durch den Einfluss der Ordoliberalen ohnehin schon in der Union zu Hause. Der konservative Protestant erklärte den Delegierten, dass Christentum und Liberalismus in keinem Gegensatz zueinander stünden, sondern in einem gemeinsamen Freiheitsbegriff vereint seien. Der heftige Widerspruch der Arbeitnehmervertreter, den er damit auslöste, wurde noch dadurch befeuert, dass er seine Rede mit den Worten „Vorwärts, Freunde, vorwärts in Freiheit!“ beendete. Denn damit nahm er, wie Martina Steber zeigt, den Titel der kleinen Programmschrift Onward in Freedom auf, die die britische Conservative Party im selben Jahr herausgegeben und die der britische Konservative Peter Smithers als Gast in Kiel unter die Delegierten gebracht hatte. Die Vertreter des christlich-sozialen Flügels, allen voran der Hauptgeschäftsführer der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Hans Katzer, waren empört: Gerstenmaier wolle nicht nur den Liberalismus in die CDU einführen, sondern verstehe die Partei offenkundig auch noch als konservativ. Andere, wie Bundesinnenminister Gerhard Schröder, waren dagegen von Onward in Freedom ebenso elektrisiert wie Gerstenmaier. Auch in dieser Hinsicht stand dem glühenden Anglophilen Schröder vor Augen, was für ein Glück es sein müsste, Engländer zu sein. Und nicht nur ihm.


In den folgenden zwei Jahrzehnten machte die liberale Grundierung des britischen Konservatismus in der Union Schule. So gut wie alle CDU-Politiker, die künftig dafür warben, den Konservatismus für die Partei in Anspruch zu nehmen, sahen sich gleichzeitig als Konservative und Liberale.


Dass Gerstenmaier und Schröder Protestanten waren und Katzer und die meisten Vertreter der Sozialausschüsse Katholiken, darf nicht zu der Annahme verleiten, man habe es mit einem konfessionellen Gegensatz zu tun. Im Gegenteil: Unter denjenigen, die nach den Ereignissen des Mai 1968 zu dem Schluss kamen, man müsse den Konservatismusbegriff für die Union besetzen und mit Leben füllen, fanden sich Vertreter beider Konfessionen. Die herausragenden „Advokaten des Konservativen“ in den 1970er-Jahren waren für Martina Steber der Katholik Bruno Heck und der Protestant Richard von Weizsäcker. Beide plädierten für einen Liberalkonservatismus, der Bewahrung und Fortschritt miteinander verband und in der praktischen Politik an den Tugenden der Klugheit und der Mäßigung ausgerichtet war.



Adepten der „Konservativen Revolution“


Flankiert wurde die Entwicklung dieses unionsinternen Liberalkonservatismus seit den 1950er-Jahren von Politikwissenschaftlern und Historikern wie Golo Mann, Dolf Sternberger und Christian Graf von Krockow. Anders als in Großbritannien stand dieser Professorendiskurs relativ unverbunden neben den innerparteilichen Debatten. Aber auch die liberalkonservativen Historiker und Intellektuellen kamen an Großbritannien nicht vorbei. Einen Konservatismus in der liberalen Demokratie oder besser einen Konservatismus, dessen Aufgabe die Verteidigung der liberalen Demokratie sein sollte, ließ sich nur schlecht mit deutschen Traditionen begründen. So wurde Burke in der jungen Bundesrepublik zum wichtigsten Gewährsmann eines intellektuellen Liberalkonservatismus.


Natürlich sahen das nicht alle so. Parallel zu diesen Versuchen liberalkonservativer Identitätskonstruktion machten sich nach 1945 die Adepten der „Konservativen Revolution“ ans Werk, um den Konservatismusbegriff zu besetzen, vor allem der aus der Schweiz stammende Historiker Armin Mohler, aber auch die Vertreter des sogenannten „technokratischen Konservatismus“, wie der Staatsrechtler Ernst Forsthoff oder die Soziologen Hans Freyer und Arnold Gehlen.


Mohler bezog sich auf das britische Modell, aber nur, um sich von einem angeblich für Deutschland untauglichen „Gärtner-Konservatismus“ in der Tradition Burkes abzugrenzen. Weder genügte es ihm, Konservatismus im Sinne Michael Oakeshotts als eine Disposition zu definieren, als eine den unvermeidlichen Wandel aller Gesellschaften begleitende und verlangsamende Haltung, noch wollte er akzeptieren, dass ein Konservativer auch ein Liberaler sein konnte oder sogar musste. Konservatismus war für ihn „ein Leben aus dem, was immer gilt“. Was er darunter verstand, blieb sein Geheimnis. Zusammen mit anderen Rechtsintellektuellen bereitete Mohler die Entstehung einer neuen Rechten in der Bundesrepublik vor. Ihr geistiger Bezugspunkt blieb die Weimarer Republik. Den Konservatismusbegriff eigneten sie sich an, um ihren Radikalismus respektabel erscheinen zu lassen.



Verlust der Begriffe, Verlust der Sprache


Es ist ein besonderes Verdienst der Autorin, die Parallelität dieser beiden Debatten vor Augen zu führen, denn beide Konservatismusdiskurse – der liberale und der „neurechte“ – lassen sich bis in die Gegenwart verlängern. Martina Steber schreibt nicht von einem konservativen Standpunkt aus, und sie schreibt nicht, um die Unionsparteien zu beraten. Aber es ist unübersehbar, dass ihr Buch eine Lehre für die Union enthält.


In der Einleitung zitiert die Autorin Franz Josef Strauß mit den Worten, dass „der Verlust der Begriffe den Verlust der Sprache“ und damit die Niederlage „im politischen Ringen um die Mehrheit“ nach sich ziehe. Angesichts der Konkurrenz, die der Union mit der Alternative für Deutschland (AfD) von rechts entstanden ist, gilt diese Einsicht heute mehr denn je. In Martina Stebers Buch steckt jedenfalls der implizite Rat an die CDU/CSU, den Konservatismusbegriff nicht den Falschen zu überlassen. Dafür muss die Union jedoch bereit sein, ihn offensiv in ihrem Sinne zu definieren.


Ideen, Prinzipien, Tugenden und Werte werden durch Begriffe transportiert, und der Streit darüber, ob CDU und CSU konservativ sind oder nicht, ließe sich schon durch den Hinweis entschärfen, dass sie immer nur einen Konservatismus zur Verteidigung des Liberalismus vertreten können, kurz gesagt: einen Liberalkonservatismus. Das glaubten nicht nur Gerstenmaier, Heck und Weizsäcker, sondern auch Karl Carstens, der für die CDU auf der „Amalgamierung der Begriffe liberal und konservativ“ bestand.


Heutige Politiker haben den Vorteil, auf solche „sprachpolitischen“ Vorarbeiten zurückgreifen zu können. Wäre das schon im Jahr 1959 der Fall gewesen, dann hätten die „Erhard-Anhänger“ nicht auf das Adjektiv „nationalliberal“ verfallen müssen, das ihnen nicht entsprach. Denn in Wirklichkeit war die Nation nicht ihr wichtigster Bezugspunkt, sondern der Westen, die atlantische Allianz, die Gemeinschaft der liberalen Demokratien. Und Else Brökelschen? Sie hätte sich wohl nicht versprochen und wäre dem Spott ihrer Kollegen entgangen.


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Matthias Oppermann, geboren 1974 in Auetal-Rehren, seit 1. Oktober 2018 Leiter der Abteilung Zeitgeschichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, lehrt als Privatdozent Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

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