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Alois Mertes am 3. Februar 1983 beim Friedenskongreß der CDU im Konrad-Adenauer-Haus, Bonn. Alois Mertes am 3. Februar 1983 beim Friedenskongreß der CDU im Konrad-Adenauer-Haus, Bonn. © Bundesarchiv, B 145 Bild-F065002-0006 / Reineke, Engelbert / CC-BY-SA 3.0.

Alois Mertes

Philologe, Staatsminister Dr. phil. 29. Oktober 1921 Gerolstein 16. Juni 1985 Bonn
von Georg Schneider
Als „Fachmann für Außen- und Eifelpolitik“ erlangte der am 29. Oktober 1921 in Gerolstein geborene Diplomat und CDU-Politiker Alois Mertes in der Bundespolitik und auf internationaler Ebene Bekanntheit.

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Seit 1972 zog der Christdemokrat Alois Mertes zunächst als rheinland-pfälzischer Landesbevollmächtigter im Bundesrat, dann – noch im selben Jahr – als Mitglied des Deutschen Bundestages und schließlich nach dem Regierungswechsel von 1982 als Staatsminister im Auswärtigen Amt über Parteigrenzen hinweg das Interesse von Fachleuten und von einer breiten Öffentlichkeit auf sich. Zu seinem Expertenwissen auf dem Feld der Außen- und Deutschlandpolitik trug seine lange Erfahrung im diplomatischen Dienst bei, welcher der erst spät beginnenden politischen Laufbahn vorausgegangen war. Insbesondere das unermüdliche Eintreten des „christlichen Humanisten“ (so der belgische Außen- und Premierminister Léo-Clement Tindemans) für das Recht auf freie Selbstbestimmung in ganz Europa, für die Überwindung der Teilung des Kontinentes sowie für eine Repolitisierung von Abrüstungsfragen kennzeichnete sein Wirken auf diplomatischer und auf politischer Ebene.

 

Interesse an Frankreich

Aus kulturellem und politischem Interesse suchte Alois Mertes schon im Schulalter die Begegnung mit dem benachbarten Ausland. Dabei interessierte er sich als „Grenzlandbewohner“ insbesondere für die französische Nation, selbst wenn die historischen Begleitumstände solche Kontakte erschwerten. Geprägt durch die frühen Erfahrungen von Gewaltherrschaft, Krieg und Besatzungszeit sowie durch das von seinem katholischen Glauben geformte Weltbild, stand für ihn zunächst vor allem der Wunsch im Vordergrund, eine „echte Versöhnung“ zwischen dem deutschen und dem französischen Volk herbeizuführen, die er als Grundlage für ein friedliches Zusammenleben ansah.

Wissenschaftliches Interesse an den deutsch-französischen Beziehungen führte Mertes für ein Studienjahr nach Paris, wobei er im Rahmen seiner Promotion über die Stellung Frankreichs zur deutschen Märzrevolution zum ersten Mal eingehend mit außenpolitischen Aspekten konfrontiert wurde. Es war der Kreis der Pariser Studentengemeinde, der während seiner Ausbildungszeit sein Interesse für politische und soziale Probleme weckte. Für eine kurze Zeit galt seine Aufmerksamkeit insbesondere der sozialen Bewegung im Umfeld des Arbeiterpriestertums.

 

Als Diplomat in Paris

Diese Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit mit jungen Franzosen und französischen Geistlichen machten den deutschen Studenten und Doktoranden zu einem überzeugten Europäer, der zunächst kaum Zweifel an einem automatischen Aufgehen der europäischen Nationalstaaten in einem gemeinsamen Europa hegte. Spätestens in den ersten Jahren seiner diplomatischen Tätigkeit wich seine Einstellung hinsichtlich der Existenz von Nationalstaaten einer Sichtweise, die eine fundamentale Bedeutung von nationalen Empfindungen für die Außenpolitik betonte. Die Achtung des freien Selbstbestimmungsrechtes der Völker wurde für Mertes zur Grundmaxime seines außenpolitischen Denkens.

Der Versöhnungsgedanke verband seine private Frankreich-Begegnung mit derjenigen im diplomatischen Dienst. 1955/56 war Mertes am Generalkonsulat in Marseille tätig. Ein längerer und für seine Arbeit wichtigerer Aufenthalt folgte von 1958 bis 1963 an der Botschaft in Paris: Intensives Bemühen um die Zusammenarbeit der Botschaft mit unterschiedlichen Interessengruppen kennzeichneten insbesondere seine ersten Jahre als deutscher Diplomat in der französischen Hauptstadt. Neben den persönlichen Zusammenkünften waren es vor allem die Analysen des politischen Lebens im Nachbarland, denen Mertes sich von 1958 an zu widmen hatte und die sein außenpolitisches Denken prägten, also in jenem Zeitraum der Begegnungen von Bundeskanzler Adenauer mit Staatspräsident de Gaulle.

 

Versetzung nach Moskau in Zeiten beginnender Détente-Politik

Die im Anschluss folgende Versetzung von der Mission in Paris an diejenige in Moskau bedeutete für Mertes lediglich in eingeschränktem Maße eine Zäsur. Einerseits rückte nun die sowjetische Außen- und Deutschlandpolitik in den Vordergrund; andererseits beschäftigte sich der Diplomat während dieser eher knappen Zeitspanne vom August 1963 bis zum Januar 1966 ebenfalls mit den deutsch-französischen Beziehungen, insbesondere mit der Auseinandersetzung zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“. Nicht eine kulturelle Abneigung gegenüber der angelsächsischen Welt oder eine ergebene Begeisterung gegenüber dem französischen Staatspräsidenten ließen ihn die Nähe zu den an Paris orientierten Kräften in der Bonner Diplomatie und Politik suchen. Ähnlich den Bedenken Adenauers fürchtete Mertes, Westeuropa könne ohne eigenes politisches Gewicht das Opfer einer bilateralen Détente zwischen Washington und Moskau werden. Es war die Sorge, die US-Administration verkenne, dass mit der Forderung nach freiem Selbstbestimmungsrecht in und für Europa die gemeinsame Freiheit der gesamten westlichen Welt verteidigt werde.

Der Eindruck einer sich wandelnden und zunehmend geschickter agierenden sowjetischen Strategie, welche auf die nunmehr langfristige Festigung ihres ideologischen und territorialen Besitzstandes in Europa hinwirke, war für Mertes’ weitere Beurteilung der Moskauer Politik wesentlich. Man habe es, so das Urteil des Diplomaten nach seiner Rückkehr nach Bonn, zu tun mit „einer nach außen keineswegs stur wirkenden Linientreue in der Verfolgung des sowjetischen Nahzieles im Umgang mit der Bundesrepublik Deutschland: Einschläferung des größten politischen Handicaps der Sowjets: in Europa nämlich der deutschen Forderung nach Wiedervereinigung durch Selbstbestimmung als Voraussetzung einer dauerhaften Entspannung.“ Geprägt durch seine Moskauer Erfahrung hielt Mertes eine „realistische Entspannung“ lediglich in einem präzise definierten sowie nüchtern kalkulierten Rahmen für möglich.

 

Gedanken zum Wechselverhältnis von Entspannung und Abrüstung

Nach seiner Ausweisung aus der sowjetischen Hauptstadt Anfang 1966 – offensichtlich eine Vergeltungsmaßnahme für die kurz zuvor erfolgte Ausweisung eines östlichen Diplomaten aus der Bundesrepublik – war Mertes bis zum Abschluss seiner diplomatischen Karriere im Referat Europäische Sicherheit mit abrüstungs- und entspannungspolitischen Themen beschäftigt. Klar zeichneten sich in den letzten Jahren der diplomatischen Tätigkeit seine abrüstungspolitischen Grundvorstellungen ab, die auch für die KSZE- und MBFR-Politik des späteren Politikers und Bundestagsmitgliedes eine Konstante bilden sollten: die prinzipielle Bereitschaft zu Abrüstungsschritten und die Möglichkeit eines Verzichtes auf eine direkte deutsche Verfügungsgewalt über Atomwaffen, sofern dies mit ebenso konkreten Gegenleistungen des Ostens einhergehen würde; sein Beharren auf dem Erhalt einer Europäischen Option in der Frage der nuklearen Teilhabe und seine stete Befürchtung, dass das westliche Bündnis über die Abrüstungsdebatten die fortbestehenden politischen Spannungen mit dem Ostblock als eigentliches Entspannungshindernis aus den Augen verlieren könne.

 

Als Diplomat in der Politik – Verhandlungen über die Ostverträge

Als Seiteneinsteiger fand Alois Mertes den Weg in die Politik, zunächst als Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund unter dem Ministerpräsidenten Helmut Kohl (von Januar bis Oktober 1972), daran anschließend als Mitglied des Deutschen Bundestages. Schon zuvor hatte er Beziehungen zu Unionspolitikern durch seine beratende Tätigkeit insbesondere für Rainer Barzel und Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg unterhalten. Dabei ging es ab 1970 um grundsätzliche Aspekte der umstrittenen Ostverträge. Der Diplomat hatte den Beginn der Moskauer Verhandlungen Ende 1969 auf Basis der aus der Großen Koalition stammenden Vertragsentwürfe selbst begleitet, war jedoch von diesen Aufgaben entbunden worden, als das Bundeskanzleramt unter Brandt und Bahr die Gesprächsführung in nahezu exklusiver Form an sich gezogen hatte.

Aus den ausführlichen Aufzeichnungen und Vermerken im Nachlass Mertes von Januar bis Mai 1972 lässt sich sein wesentlicher Einfluss auf die sich zu diesem Zeitpunkt in ihrer entscheidenden Phase befindenden Verhandlungen um die Ratifizierung der Ostverträge erkennen. Insbesondere die wichtigen Passagen der Gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972 entsprechen seinen expliziten Forderungen, so zum Beispiel der Begriff Modus vivendi, mit dem der offene Charakter der Deutschen Frage und die Nicht-Präjudizierung eines Friedensvertrages dokumentiert werden sollten.

Wachsendes Misstrauen in die Regierung Brandt ließ Mertes unmittelbar vor der Ratifizierung verstärkt Abstand zu den Ostverträgen nehmen. Es überrascht nicht, dass die zweite Jahreshälfte 1972 und das Jahr 1973 durch eine (auch bisweilen im Deutschen Bundestag deutlich zu erkennen gegebene) Unterstützung für Franz Josef Strauß und dessen außenpolitische Positionen gekennzeichnet waren. Die galt aber auch für das Pacta sunt servanda, das der CSU-Vorsitzende propagierte: Auch für die einmal ratifizierten Ostverträge musste Vertragstreue gelten.

 

Sachliche Wiederannäherung von Union und FDP

Der Oppositionspolitiker Mertes erkannte gleichwohl die Notwendigkeit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung, wenn die Vorstellungen der Union Gehör finden sollten. Hier bildete das Jahr 1974 eine wichtige Wegmarke: Einerseits entfiel nach Ratifizierung der Ostverträge wichtiger Konfliktstoff. Andererseits bot der personelle Wechsel an der Spitze von Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt neue Perspektiven der Zusammenarbeit von Opposition und Regierung. Dies galt insbesondere für den Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, dessen deutschlandpolitische Prinzipienfestigkeit und Dialogbereitschaft Alois Mertes früh kennen und schätzen lernte. Ab 1974 entwickelte sich eine inhaltliche Zusammenarbeit zwischen beiden Politikern, die sich gleichsam von der „Détente“ über die „Entente“ entwickelte und schließlich nicht nur in der „Coopération“, sondern auch in der Koalition endete.

Der CDU-Politiker bemühte sich, gleichsam als Ergänzung zur defensiven militärischen Absicherung des Westens, um eine offensive Ausrichtung der Ost- und Deutschlandpolitik durch Anmahnung des für ihn zentralen Aspektes des Rechtes auf Selbstbestimmung. Als außenpolitischer Experte seiner Fraktion in Bonn bald anerkannt, trat er für einen offenen Dialog im nationalen und internationalen Rahmen ein. Andererseits lehnte er aber gleichzeitig jegliche politisch-rethorische Beliebigkeit gerade im Umgang mit dem Ostblock ab, was ihm im gegnerischen wie im eigenen politischen Lager teilweise Achtung und Respekt, teilweise aber auch den Ruf einbrachte, in juristischen Fragen geradezu pedantisch zu sein. Mertes sah mit Sorge die seiner Meinung nach fehlende Kontinuität und Beharrlichkeit in den außenpolitischen Vorstellungen selbst bei seinen Parteifreunden. Davon zeugt ein Hinweis an seinen Parteivorsitzenden Helmut Kohl: „Wären die Ziele und Maßstäbe Herbert Wehners nicht so falsch, er könnte in seiner Selbstlosigkeit, Zähigkeit und Zielstrebigkeit für jeden Unionspolitiker ein Vorbild sein.“

Die deutsche Teilung fasste Mertes immer auch gleichzeitig als europäische Teilung auf. Freiheitsbestrebungen gerade in Polen, zu dessen Opposition er seit der Mitte der siebziger Jahre wichtige Kontakte unterhielt, nahm der Politiker daher als wichtigen Ansatzhebel für eine aktive Ost- und Deutschlandpolitik wahr. Seine Formulierung, dass die Grenzen Deutschlands von 1937 zwar den Ausgangspunkt für Friedensvertragsverhandlungen bilden müssten, um den Friedensvertragsvorbehalt nicht ad absurdum zu führen, nicht jedoch dessen Ergebnis darstellen sollten, findet ihre Grundlage in seinen Überlegungen aus dem Ende der fünfziger Jahre, dass das freie Selbstbestimmungsrecht natürlich auch für die seit 1945 in den Ostgebieten lebenden Polen gelten müsse.

 

Vatikanische Ostpolitik

Der am ausführlichsten dokumentierte Arbeitsbereich des Politikers Alois Mertes ist derjenige der „Vatikanischen Ostpolitik“ und der sich daran anschließende Aspekt der kirchlichen Position zu Fragen der Nachrüstung. Insbesondere die in den Nachlässen Mertes und Osterheld befindlichen Akten zeigen, dass Mertes im Bereich der Deutschland- und Sicherheitspolitik als die zentrale Persönlichkeit des politischen Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland von der Mitte der siebziger bis zur Mitte der achtziger Jahre zu bezeichnen ist. In zahllosen Gesprächen wirkte er als Berater der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, als Verbindungsmann zwischen katholischer Kirche und Auswärtigem Amt, als gegenüber dem Apostolischen Nuntius und den entsprechenden Stellen der Kurie auftretender Vertreter der CDU, als Verfasser von Zeitungsartikeln und Leserbriefen sowie als unermüdlicher Diskussionspartner auf evangelischen wie katholischen Kirchentagen. So wenig Mertes die Autorität des kirchlichen Lehramtes in den theologischen Belangen anzweifelte, so deutlich kritisierte er manche von ihm als problematisch erachtete Äußerungen von Theologen zu politischen Fragen, nicht zuletzt während der Nachrüstungsdebatte.

Das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. half, die deutschland- und sicherheitspolitischen Vorstellungen von Mertes (welche die Deutsche Bischofskonferenz weitgehend teilte) zur Geltung zu bringen, nachdem sein mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Auswärtigen Amt abgestimmtes Einwirken auf Apostolische Nuntiatur und Kurie zuvor nur einen eingeschränkten Erfolg verzeichnet hatte.

Für ihn, den „Politiker aus christlicher Verantwortung“ (so sein langjähriger Freund und Wegbegleiter Konrad Repgen) bestimmte das „christliche ... Ethos“ die Grundlagen der Politik. Während der Nachrüstungsdebatte antwortete Mertes auf die Bürgerzuschrift eines Kritikers des NATO-Doppelbeschlusses: „In meinem Abgeordneten-Ausweis habe ich das Friedensgebet des Hl. Franziskus von Assisi, das sozusagen mein Programm ist.“ Dessen ungeachtet musste seiner Ansicht nach die konkrete Einzelhandlung des Politikers jeweils vor dem persönlichen Gewissen verantwortet werden. Der jüdische Gelehrte Ernst Ludwig Ehrlich stellte daher in Anlehnung an den Titel von Willy Brandts Memoiren („Links und frei“) fest, die ungeschriebenen Erinnerungen von Alois Mertes hätten unter dem Leitsatz „Katholisch und frei“ stehen können.

 

Erfolg und Ernüchterung: Der Regierungswechsel von 1982

Ein weiterer großer Themenkomplex seines politischen Denkens und Handelns wird durch die Begriffe Abrüstung und Rüstungsbegrenzung (MBFR, Neutronenwaffe, SALT, NATO-Doppelbeschluss) umschrieben. Ausgewogenheit, Verifizierbarkeit und Eindeutigkeit von Verhandlungsergebnissen lauteten zentrale Forderungen, mit denen der Außenpolitiker an nationalen und internationalen Debatten zu diesen Themen teilnahm. Als wichtiges Bindeglied zwischen den abrüstungspolitischen Erörterungen der sechziger, der siebziger und denen der achtziger Jahre ist in diesem Zusammenhang sein grundsätzliches Argument zu sehen, dass Waffen an sich nicht die Ursachen der Spannungen zwischen Ost und West seien, sondern vielmehr das Symptom eines tieferen politischen Gegensatzes, der letztlich im Wesen des kommunistischen Systems begründet sei. Nur politischer Wandel könne daher zur wirklichen Entspannung führen.

Während es Alois Mertes als Mitglied der Oppositionsfraktion möglich gewesen war, durch seine umfangreiche publizistische Tätigkeit und seine guten Beziehungen zur Bundesregierung und zu anderen Verantwortungsträgern ungewöhnlich vielfältig auf die außenpolitischen Debatten Einfluss zu nehmen, ist festzustellen, dass er diese Position nach dem Regierungswechsel von 1982 nicht weiter ausbauen konnte. Bald fand er sich zwischen nach vorne drängenden jungen Außenpolitikern in der Union, den Vertriebenenverbänden, dem Koalitionspartner FDP und einer ambitionierten CSU-Führung wieder, ohne jemals Politiker mit eigener Hausmacht gewesen zu sein. Sein Handlungsspielraum als Staatsminister im Auswärtigen Amt war schon allein deshalb beschränkt, weil er nicht in die Hierarchie des Hauses eingebunden war und nicht über die Weisungsvollmacht der beamteten Staatssekretäre verfügte.

Dessen ungeachtet versuchte Mertes, bis über die Grenzen seiner körperlichen Kräfte hinaus, den Anforderungen seiner Tätigkeit gerecht zu werden. Am 16. Juni 1985 verstarb er an den Folgen eines schweren Schlaganfalles, der ihn vier Tage zuvor während einer Podiumsdiskussion ereilt hatte. Sein früher Tod löste nicht nur im eigenen Lager, sondern auch beim politischen Gegner große Betroffenheit aus.

 

Leitlinien seines Handelns

Rückblickend fällt auf, dass Alois Mertes trotz seiner wichtigen Rolle als außenpolitischer Experte in den Reihen von CDU und CSU eher ein „großer Solist“ blieb als ein Parteipolitiker. Gleichwohl (oder gerade deswegen) gelang es ihm durch seine guten Beziehungen sowohl zu führenden Vertretern der CDU, der er seit 1961 angehörte, als auch zu solchen der CSU und FDP sowie zu einzelnen Persönlichkeiten der SPD in außenpolitischen Diskussionen vermittelnd zu wirken. Ähnliches gilt für seine Kontakte, die er mit polnischen Politikern und Vertriebenenverbänden unterhielt sowie für sein Interesse an einer intensiven Zusammenarbeit mit Vertretern des Judentums.

Fasst man die Ergebnisse seines außenpolitischen Denkens und Handelns zusammen, so treten mehrere Gesichtspunkte hervor. Zunächst ist es die Deutung der Teilung Deutschlands und Europas als primär menschenrechtliches, ja moralisches Problem. Auf einer solchen gedanklichen Basis sowie in Verbindung mit seinem spezifischen Fachwissen und diplomatischen Erfahrungen vermochte es Mertes, bereits Anfang der siebziger Jahre Barzels durchaus konstruktive Oppositionspolitik eines „So nicht!“ in Bezug auf die Ostverträge inhaltlich in entscheidender Weise zu stützen. Die innenpolitische Konfrontation über die Außenpolitik wurde im Frühjahr 1972 eben nicht auf die Spitze getrieben. Mehr noch: Der völkerrechtlich-politische Rückhalt für die Bonner Position des Offenhaltens der deutschen Frage fand in der Gemeinsamen Entschließung eine objektive und zukunftsweisende Stärkung. Bundeskanzler Helmut Kohl knüpfte im Spätherbst 1989 mit seinem Zehn-Punkte-Programm direkt an die Gedanken von Mertes an.

„Er glaubte an Deutschland, an Europa und an den Westen“, hielt der britische Historiker Timothy Garton Ash fest und hob damit hervor, dass Mertes eine auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Freiheitsinteressen basierende Westbindung als maßgebliche Grundlage seiner Außenpolitik vertrat. Dies zog sich konsequent durch alle Bereiche seines außenpolitischen Denkens. Es betraf auch solche Bereiche wie die unteilbare Sicherheit innerhalb des nordatlantischen Bündnisses: eine gemeinsam abgestimmte Bündnishaltung in der strategischen, in der eurostrategischen und in der konventionellen Verteidigung. Mertes stellte die auf gemeinsamen geistesgeschichtlichen Grundlagen stehende euro-atlantische Bündnispolitik dem Mitteleuropakonzept mancher Anhänger der „Neuen Ostpolitik“ scharf entgegen. Er vertrat dies ebenfalls in der CDU mit aller Entschlossenheit und sah dort vermutlich mehr als jeder andere die politischen Dimensionen hinter den abrüstungspolitischen Verhandlungsschritten. Letztlich handelte es sich um eine Richtungsentscheidung, die auch mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes kaum an Relevanz verloren hat.

Die außenpolitische Wiederannäherung von Union und FDP von 1974 bis 1982 nahm sicherlich durch die Arbeit von Mertes allein keinen zwingenden Verlauf, einen entscheidenden Beitrag zur inhaltlichen Vorbereitung der christlich-liberalen Koalition hat der Politiker gleichwohl geleistet. Man wird ihn als Innenarchitekten dieser außenpolitischen Wiederannährung bezeichnen können. Mit der These von „Kontinuität und Wandel“ fand er nicht nur für die „Wende“ von 1982 eine verbindende Formulierung. Mertes wirkte damit ebenfalls innerhalb der Union mit ihren teilweise auseinanderstrebenden Flügeln als wichtiger, vielleicht in manchen Fragen sogar entscheidender integrativer Faktor. Dabei sei in Erinnerung gerufen, dass sich nicht zuletzt in Mertes’ Arbeit die überragende Bedeutung widerspiegelt, welche die Außenpolitik während der ersten vier Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland sowohl in den Parteien als auch in den Medien und der breiten Öffentlichkeit einnahm.

Seine integrative Wirkung entfaltete Mertes ebenfalls im innerkirchlichen Bereich, wo er nicht nur mit seinem Stellungnahmen gegenüber als schädlich erachtete außen- und deutschlandpolitische Strömungen einen „mündigen Laien“ im Sinne der Pastoralkonstitution Gaudium et spes verkörperte (und sich auch darin mit Papst Johannes-Paul II. und Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli einig fühlte). Sowohl innerhalb der katholischen Kirche wirkte er in politischen Fragen vermittelnd zwischen dem Heiligen Stuhl, Bischöfen und Laien als auch in der Wechselbeziehung zwischen katholischer Kirche und staatlichen Institutionen. Mit Persönlichkeiten wie den Kardinälen Döpfner und Höffner, den Bischöfen Homeyer und Spital, den ZdK-Präsidenten Maier und Vogel, seinen Mitstreitern vom Bund Neudeutschland oder auch seinen Bonner Kollegen wie Horst Osterheld war er einer Meinung, dass die römisch-katholische Kirche nicht isoliert von der deutschen Nation stehen solle. Gerade auf dem Gebiet der Außen- und Deutschlandpolitik versinnbildlichte er durch seine Integrationsleistung das Kooperationsmodell der Bundesrepublik Deutschland.

Rückblickend darf man die beharrlich auf eine Verwirklichung des freien Selbstbestimmungsrechtes für Deutschland und ganz Europa drängende Außenpolitik des Diplomaten und Politikers als ein Dokument ungebrochener und letztlich erfüllter Hoffnung auffassen. Garton Ash urteilte, die außenpolitische Konzeption von Alois Mertes habe mit den Ereignissen der Jahre 1989/90 eine „triumphale Bestätigung“ erfahren. Mertes selbst formulierte 1983 gegenüber dem Mainzer Staatsrechtslehrer Eckart Klein: „Der Vorbehalt der politischen Erreichbarkeit lastet natürlich auch auf dem verbindlichen politischen Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt. Ich will dieses Ziel aber erreichen, das gebietet mir nicht nur die Verfassungstreue, sondern mein Gewissen als Deutscher, als Demokrat, als Christ.“

Lebenslauf

  • 1940–1945 Kriegsdienst, Leutnant d. R., Studium der Romanistik und Geschichte in Bonn
  • 1948 1. Staatsexamen
  • 1951 Promotion
  • 1951 Heirat mit Hiltrud Becker, 5 Kinder
  • 1952 Eintritt in das Auswärtige Amt
  • 1972 Staatssekretär und Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund
  • 1972–1985 MdB (CDU)
  • 1982–1985 Staatsminister im Auswärtigen Amt.

 

Veröffentlichungen

  • Alois Mertes: Der Primat des Politischen. Reden und Aufsätze. Hrsg. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1994

 

Literatur

 

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Kontakt

Dr. Georg Schneider

Georg Schneider

Referent Wirtschaftspolitik, Büro Bundesstadt Bonn

Georg.Schneider@kas.de +49 2241 246-2372 +49 2241 246 5 2372
Einzeltitel
KAS
26. Februar 2021
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