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Leo Tindemans während der Feierlichkeiten anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen im Jahr 2009. Leo Tindemans während der Feierlichkeiten anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen im Jahr 2009. © Wikicommons CC BY-SA 3.0 (c) א (Aleph)

Leo Tindemans

belgischer Premierminister, Vorsitzender der EVP-Fraktion 16. April 1922 Zwijndrecht/Belgien 26. Dezember 2014 Edegem
von Jürgen Nielsen-Sikora
Die Attribute sprechen für sich: zielstrebig, volksnah, charismatisch, offen und gradlinig sei Leo Tindemans, von einem rasch zupackenden Intellekt und über die Maßen beliebt. Der ehemalige belgische Premier- und langjährige Außenminister, 1922 in Zwijndrecht am Westufer der Schelde gegenüber der Stadt Antwerpen geboren, genießt nicht nur in seinem Heimatland, sondern in ganz Europa höchstes Ansehen.

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Biographisches

Tindemans entstammt einer flämisch-katholischen Familie. Er ist seit 1960 mit Rosa Naesens verheiratet. Gemeinsam haben sie vier Kinder. Nach seinem Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Gent arbeitete er kurze Zeit als Journalist. Von 1961 bis 1979 gehörte er als Abgeordneter der Christlichen Volkspartei (CVP) dem Belgischen Parlament an. Zwischen 1965 und 1973 war er Bürgermeister von Edegem. An der ersten Staatsreform Belgiens 1968-1971 war er, beauftragt durch Ministerpräsident Eyskens, maßgeblich beteiligt. Als Referent für verfassungsrechtliche Fragen zeichnete er verantwortlich für die Neugliederung des belgischen Einheitsstaates in verschiedene Regionen. Ab 1974 bis zur Auflösung der zweiten Regierungskoalition 1978 bekleidete er selbst das Amt des Premierministers. Nach einem kurzen Zwischenspiel in dem erstmals 1979 direkt gewählten Europäischen Parlament nahm er zwischen 1981 und 1989 das Amt des belgischen Außenministers wahr.

Europa ist eine Herzensangelegenheit von Tindemans. So gehörte er dem auf die Initiative von Jean Monnet zurückgehenden Aktionskomitee für Europa an und wurde 1976 erster Vorsitzender der neu gegründeten Europäischen Volkspartei (EVP), für die er für ein freies und antikommunistisches Europa eintrat. Für seine weitsichtige Politik wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil, unter anderem erhielt er 1976 den Karlspreis zu Aachen, die höchste Auszeichnung für Verdienste um die Einigung Europas. Am Himmelfahrtstag wurde sein unermüdlicher Einsatz für Europa und sein zukunftsweisender Bericht über die Europäische Union gewürdigt. Tindemans zeichne den Weg vor, der fern jedes nationalen Egoismus die freiheitliche Zukunft der Mitgliedstaaten sichern könne. Die Karlspreis-Urkunde bescheinigt ihm „Abendländische Klarheit und Verantwortung“.

 

Tindemans-Bericht

Ziele:

Leo Tindemans wurde Anfang 1974 vom Europäischen Rat damit beauftragt, eine Gesamtschau der Europäischen Gemeinschaft mit dem Ziel aufzustellen, gemeinsame Konzepte einer Europäischen Union auszuarbeiten. Der Europäische Rat legte für die Erstellung dieses Berichts das Jahr 1975 fest. Die Hauptziele waren die Schaffung einer Europäischen Union bis 1980, die Realisierung einer Währungs- und Wirtschaftsunion und das Zusammenwirken von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Politischer Zusammenarbeit. Weitere Aufgaben waren die Stärkung europäischer Strukturen der Deliberation, Rechtsprechungen und allgemeine politische Entscheidungen. Das Zusammenspiel von Ökonomie und Politik wurde als die zentrale Herausforderung einer globalisierten Welt gesehen. Tindemans wurde autorisiert, seinen Bericht auf der Basis der Berichte der Institutionen der Gemeinschaft abzuschließen. Darüber hinaus waren mehrere Konsultationen in den Mitgliedstaaten, ihren Regierungen und repräsentativen politischen Kreisen durchzuführen, um sich ein Bild des gegenwärtigen Europas zu machen. Tindemans plante einen zweiteiligen Bericht: eine Definition der Ziele einer so genannten Europäischen Union sowie Möglichkeiten der politischen Umsetzung dieser Ziele.

Inhalt:

Der Bericht enthält insgesamt sechs Abschnitte.

Abschnitt I handelt von der gemeinsamen Vision Europas. Tindemans kam während seiner Besuche in den Mitgliedstaaten zu der Einschätzung, Europa sei verwundbar und kraftlos. Dies sei eine neue Erfahrung in der jüngsten Geschichte der europäischen Völker. Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums bedrohe gegenwärtig die Stabilität des Weltwirtschaftssystems. Sie gefährde die Demokratie. Aus diesem Grund kommt er zu dem Schluss, die Europäische Gemeinschaft benötige mehr denn je die Solidarität der Völker, um ihre Ziele erreichen zu können. Man benötige Institutionen mit entsprechender Macht, um weitere gemeinsame politische Schritte gehen zu können. Diese sollten effektiv arbeiten können, demokratisch legitimiert sein und permanent kontrolliert werden.

Abschnitt II behandelt „Europa in der Welt“ und schlägt einen Wechsel des politischen Engagements der Mitgliedstaaten vor. Es soll die Basis der politischen Kooperationen und Verpflichtungen bilden. Insbesondere die Stärkung des Europäischen Rats, verbunden mit der Klärung seiner Kompetenzen, sei hierbei angezeigt. Wichtig sei es, in Zukunft mit einer Stimme zu sprechen, vor allem mit Blick auf die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Für die Etablierung einer Politischen Union sei dies unerlässlich. Ein konstruktiver Dialog zwischen der zu schaffenden Europäischen Union und ihren einzelnen politischen, ökonomischen und militärischen Kräften über die europäische Identität sei dringend notwendig.

Abschnitt III fokussiert die europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Tindemans kommt zu dem Schluss, dass die Europäische Union auf dem richtigen Weg sei, wenn die gesamteuropäische Dimension dauerhaft im Bewusstsein aller europäischen Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten verankert werden könne. Zudem dürften europäische Entscheidungen nicht als nachgeordnet betrachtet werden. Gerade im Hinblick auf nationale Interessen sei diese Versuchung groß. Vielmehr gelte es, europäische Politik als den Normalfall zu betrachten, dem nationale Interessen nachgeordnet sein müssten. Nur so könne eine gemeinsame Zukunft Europas gesichert werden.

Abschnitt IV nimmt das Europa der Bürger in den Blick und schlägt die Schaffung einer Europäischen Stiftung vor. Aufgabe wird es sein, alles zu fördern, was zu mehr Verständnis zwischen den Völkern führe. Der Schwerpunkt solle auf zwischenmenschlichen Kontakten liegen, auf Jugendarbeit und Hochschulaustausch, wissenschaftlichen Debatten und Symposien sowie Treffen zwischen verschiedenen Berufsgruppen. Kultur-und Informationsaktivitäten sollen unterstützt werden.

Abschnitt V behandelt die Stärkung der Institutionen. Dies bedeute, so Tindemans, nicht einen Umsturz des existierenden institutionellen Rahmens, sondern rufe vielmehr Fragen von größerer Autorität, Effektivität, Kohärenz und Legitimität hervor, wobei unklar blieb, wie dies konkret umgesetzt werden sollte.

Abschnitt VI nimmt eine allgemeine Schlussfolgerung vor. Tindemans beschließt seinen Bericht mit der Forderung, jeder von uns müsse sich an den gemeinsamen Anstrengungen beteiligen: „Dann können wir zusammen Wirtschaft und Währung wieder in den Griff bekommen und zu einem geordneten Wachstum gelangen. Dann können wir zusammen eine gerechtere Gesellschaft aufbauen, in der unsere gemeinsamen Werte geachtet werden. Dann können wir unsere Stimme in der Welt mit der Kraft der Einheit hören lassen. Und davon wird letzten Endes unsere Lebensweise und die unserer Kinder abhängen.“

Bedeutung:

Die Umwandlung der Gemeinschaft in eine Union zielte insgesamt darauf, aus dem europäischen Konstrukt eine ständige politische, vornehmlich supranationale Gemeinschaft entstehen zu lassen. Für die europäischen Regierungen und das Design Europas war dabei entscheidend, nationaler und regionaler Vielfalt einen breiten Raum zur Verfügung zu stellen und jeweilige Besonderheiten der Regionen Europas gedeihen zu lassen; auf der anderen Seite war es ebenso von Bedeutung, den verschiedenen institutionellen und gesellschaftlichen Kräften innerhalb Europas politisch angemessen zu begegnen. Für Tindemans war es wichtig gewesen, das Design seines Berichts nicht an einen Verfassungstext erinnern zu lassen, auch habe, so betonte er selbst, sein Bericht nichts mit einem Idealeuropa zu tun. Europa könne seine eigentliche Bedeutung nur erlangen, wenn es den föderativen Weg einschlage.

Insgesamt ging es darum, Europa ein Gesicht zu geben und es in Abgrenzung von der nichteuropäischen Welt politisch neu zu positionieren. So war denn auch „a common vision of Europe“ die zentrale Komponente bei der Erstellung seines Berichts.

Tindemans präsentierte seinen Bericht in einer Zeit der sozialen und ökonomischen Krise Europas. Angesichts der gesellschaftspolitischen Lage schlug er deshalb eine pragmatische und stufenweise Neuformulierung Europas vor – ohne die Finalität des Einigungsprozesses ernsthaft diskutieren zu wollen. In Tindemans´ Augen sollten die Prozeduren der Entscheidungsfindungen innerhalb der Gemeinschaft mehr und mehr demokratisiert werden, was angesichts des raschen Machtzuwachses des neu geschaffenen Europäischen Rats keine gering zu schätzende Aufgabe zu sein schien. Zudem legte er seinen Bericht dem Rat selbst vor und betrachtete schon aus diesem Adressatenbezug heraus den Rat als die europäische Institution für die Umsetzung seiner Vorschläge.

Doch der Rat war nicht wirklich willens, Tindemans´ Ideen umzusetzen. Er selbst aber bestand auf dem Erhalt des Gesamtrahmens. So zeigte er sich besorgt, dass einige Mitgliedstaaten den Bericht dilatorisch behandelten oder darin eher ein Aktionsprogramm für 1977 sähen, anstatt eines mittelfristig angelegten Plans zur Erschaffung einer EU.

 

Egmont-Pakt

Schon seit etwa 1850 gab es in Belgien einen bis heute anhaltenden Konflikt um Sprache, Kultur und Wohlstand zwischen Flamen und Wallonen. Der so genannte Egmont-Pakt von 1977 versuchte, den Konflikt beizulegen. Einer der Unterzeichner war Leo Tindemans. Der Pakt zwischen Flamen, Wallonen und Brüsselern wurde jedoch nicht umgesetzt. Denn die Regierungsparteien lehnten ihn strikt ab. Auch die Stellungnahmen des Staatsrates, der sich gegen einige Eckpunkte des Abkommens aussprach, verhinderte den Erfolg des Paktes. Flamen und Wallonen interpretierten ihn unterschiedlich. Im Oktober 1978 erklärte Premierminister Tindemans, die Verfassung sei für ihn nicht bloß ein „Fetzen Papier“. Schließlich bot er seinen Rücktritt an. Damit war der Gemeinschaftspakt vom Tisch. Einige Aspekte des Abkommens wurden jedoch in späteren Verfassungsrevisionen aufgegriffen.

Das Abkommen sah eine umfassende Staatsreform vor, mit mehr Autonomie für die drei Gemeinschaften. Die Gründung von drei Regionen war darin vorgesehen. Sie sollten über eigene Räte und Regierungen mit dem Recht, Ordonnanzen zu erlassen, verfügen. Das Abkommen bildete insofern die Grundlage für die heutige föderale Struktur Belgiens. Tatsächlich wurden im Januar 1977 viele belgische Gemeinden zu neuen, größeren Gemeinden zusammengeschlossen. Die Gesamtzahl der belgischen Gemeinden verringerte sich durch diese Gemeindegebietsreform radikal von über 2300 auf weniger als 600.

Lebenslauf

  • 1961–1979 Abgeordneter der CVP im belgischen Parlament
  • 1965–1973 Bürgermeister von Edegem, einem Vorort von Antwerpen
  • 1965–1974 Generalsekretär der EUCD
  • 1968 Minister für Gemeinschaftsangelegenheiten
  • 1972–1973 Landwirtschafts- und 1973–1974 Haushaltsminister
  • 1974–1978 belgischer Premierminister
  • 1975 Autor des berühmten Tindemans-Berichts
  • 1976–1985 erster Präsident der EVP
  • 1979–1981 CVP-Vorsitzender
  • 1981–1989 belgischer Außenminister
  • 1979–1981 und 1989–1999 Mitglied des EP
  • 1992–1994 EVP-Fraktionsvorsitzender.

 

Literatur

  • Jürgen Nielsen-Sikora: The Ideas of a European Union and a Citizen´s Europe: the 1975 Tindemans Report and its impact on today’s Europe. In: Beyond the Costums Union: The European Community´s Quest for deepening, widening and competition, 1969-1975, ed. by Jan van der Harst, Brussels 2007.
  • Jürgen Nielsen-Sikora: Europa im Umbruch. Der Tindemans-Bericht von 1975. In: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Band 19/2006, hg. von Jürgen Elvert und Michael Salewski, Stuttgart 2007.
  • Jürgen Nielsen-Sikora: Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung – Eine Spurensuche, Stuttgart 2011.

 

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Kontakt

PD Dr. Jürgen Nielsen-Sikora

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18. April 2013
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