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Sein Jahrhundert

Nachruf auf Günter Grass

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„Ich bin, ausgetauscht gegen mich, Jahr für Jahr dabeigewesen“. So beginnt die autobiographische Chronik „Mein Jahrhundert“ von Günter Grass. 1999 ist sie erschienen, im Jahr, als Grass den Nobelpreis erhielt, die Krönung seines Werkes, das stets durch ein unbändiges, fast barockes Erzähltalent auffiel, ebenso wie durch Mut und Wut zum Polarisieren, durch „Zunge zeigen“, wie er selbst sagte. Am Morgen des 13. April 2015 ist Günter Grass mit 87 Jahren in einer Lübecker Klinik gestorben, wie sein Verlag Steidl bekannt gab.

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren, in einer deutsch-polnischen Handwerkerfamilie, ein „unstet und ortlos gebliebenes“ Flüchtlingskind. Aufgewachsen „zwischen / dem Heilgen Geist und Hitlers Bild“, kam er als neunzehnjähriger Soldat in Kriegsgefangenschaft. Was er aber lange Zeit unter Verschluss gehalten hatte: Zuvor hatte er sich zum Dienst bei der Waffen-SS gemeldet und war angenommen worden. Das „Geständnis“, das er im Sommer 2006 ablegte, auch in einem Kapitel seines autobiographischen Buchs „Beim Häuten der Zwiebel“, entrüstete, vor allem weil er zuvor nicht gerade sanft mit Trägern von NS-Vergangenheiten umgesprungen war.

Von Tabubrüchen war sein literarisches Schaffen – und auch sein Selbstverständnis – oft begleitet. Sein Debütroman „Die Blechtrommel“, 1959 erschienen, nach Steinmetzlehre, Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie und an der Berliner Hochschule für Bildende Künste, sorgte für großes Aufsehen. Einen „Brocken“ in der Nachkriegsliteratur, so nannte Hans Magnus Enzensberger den Roman, der einen gnadenlosen Blick auf die Entstehung des Totalitarismus aus dem Geiste des Kleinbürgertums wirft. Oskar Matzerath, der die späten 1930er und die 1940er Jahre von unten betrachtet, aus der Perspektive eines störrischen Zwergs, ist eine unvergessbare Figur von weltliterarischem Rang. Mit dieser Romanfigur brach Grass das Schweigen über die Hitlerzeit und machte aus dem deutschen Irr- und Sonderweg eine Groteske. Damit hat er internationale Maßstäbe gesetzt. Viele bedeutende Autoren haben sich zu dem Vorbild seines Romans bekannt. Dass es ihm mit der „Blechtrommel“ so folgenreich gelang, in „munter-schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte“ zu zeichnen, brachte ihm 1999 den Nobelpreis ein.

In Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Blechtrommel“ von 1979 wurde das Buch endgültig kanonisch. Es prägte seither die Marke, für die Grass stand: ein fabulierlustiger Erzähler des 20. Jahrhunderts und eine lautstarke, kritische Autorität, die öffentliche Meinungskämpfe nicht scheute und gerne das erste, manchmal auch das letzte Wort hatte. Politisch war das oft umstritten, und literarisch ging das nicht immer gut. Etwa in der Lyrik (den Deutschlandsonetten „Novemberland“, 2001, und in dem „Israel“-Gedicht vom April 2012). „Schraubt ein Autor Gedicht und Leitartikel zusammen, muss der Leser folgerichtig herausfinden, ob er richtig oder falsch findet, was der Dichter verheimlicht“ (Frank Schirrmacher).

Mit seinen Romanen, Novellen und Essays griff Grass, der auch Graphiken publizierte, gerne ins Zeitgeschehen ein. Er forderte Engagement als „Pflichtfach für Schriftsteller“. Er nörgelte als selbsternannter „Schwarzseher der Nation“ an der Politik herum, schrieb einen umstrittenen Deutschlandroman („Ein weites Feld“, 1995), machte auf wunde Punkte in der Erinnerungskultur aufmerksam (wie 2002 mit seiner Vertreibungsgeschichte „Im Krebsgang“). Aus all dem sprach das Bewusstsein, zur Gründungsgeneration der westdeutschen Nachkriegsliteratur zu gehören, schon als Mitglied der Gruppe 47, deren Preis er 1958 erhielt. Grass wurde zum Sprachrohr einer Generation, die die versäumte Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit nachzuholen hatte.

Grass‘ literarisches Leitbild, sein „einziger Heiliger“, wie er 1999 in Hamburg sagte, war Sisyphos, der „heitere Steinewerfer“ bei Albert Camus, der die Mythen neu erfindet, die Götter lästert und nicht davon ablässt, „gegen Gipfel“ zu kämpfen. Und das mit durchaus globalem Ethos: „Und da die Existenz des Menschengeschlechts auf dem blauen Planeten jüngeren Datums ist und deren Dauer von unserem Tun und Lassen abhängt, sind wir für dessen Zustand verantwortlich. Wir haben ihn weitgehend verunstaltet, treiben Raubbau und hinterlassen unseren Nachkommen eine nicht abzuweisende Erblast. Also gilt es, diese und andere Wahrheiten zu erkennen und zu benennen. Es gilt, Steine zu wälzen.“

Dr. Michael Braun

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