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Inklusion sei „eine schöne Sache (…), es ist nur nicht so schnell umsetzbar.“

Reportage zur Publikation "Jedes Kind ist anders"

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Bild: Robert Kneschke, shutterstock

„Ich sage mal so – Inklusion ist eine schöne Sache. Wir wollen alle miteinander leben und umgehen können. Ob gesund, krank, Handicap oder nicht Handicap, schwarz oder weiß – wie auch immer. Es ist nur nicht so schnell umsetzbar“, so die Meinung einer Betroffenen, deren neunjähriges Kind geistig behindert ist. Sie ist Mutter dreier Kinder. Die Zwillinge, beides Jungs, sind neun Jahre alt, die älteste Tochter ist elf. Ein Zwilling ist geistig behindert.

Der Junge selbst leidet unter einer geistigen Behinderung, die sich schon während der Schwangerschaft abzeichnete. Dabei spiegelt sich die geistige Behinderung im gesamten Alltag wider. In allem, was ihr Sohn macht und lernt, ist er langsamer als Gleichaltrige. Darüber hinaus ist seine Motorik unterentwickelt, so dass seine Behinderung schnell für Dritte sichtbar wird. Er befindet sich, so die Mutter, „auf einem Stand zwischen vier und sechs“ Jahren, ist also dem Entwicklungszustand neunjähriger Kinder ohne Behinderung deutlich hinterher.

Die Lebenswelt der Familie ist geprägt von einem tagtäglichen vollen Einsatz für den behinderten Sohn. Besonders der Umstand, allen drei Kindern gerecht zu werden, verlangt einiges von der Mutter ab, auch deshalb, weil alle Kinder zur Mittagszeit wieder nach Hause kommen. Die Selbstständigkeit der gesunden Kinder ist hoch, beispielsweise fahren sie alleine zu Freizeitaktivitäten, was daran liegt, dass sich die Mutter nachmittags um den behinderten Sohn kümmert, ihn zu Therapiestunden bringt und ihn nie allein und ohne Beobachtung lassen kann. „Man darf nie nachlässig werden, man muss immer auf 100 Prozent laufen.“ Der Umstand, dass der behinderte Sohn bereits mittags von der Schule zurückgebracht wird, liegt auch darin begründet, dass ein Betreuungsangebot über die Mittagszeit hinaus mit erheblichen Kosten für die Familie verbunden wäre, die sie sich einfach nicht leisten kann.

In der Familie und im Freundeskreis machen die Eltern unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit ihrem behinderten Kind. Im familiären Umfeld stoße man schon auf Ablehnung, wobei hervorgehoben wird, dass dies keine böswillige sei, sondern eher Unverständnis und mangelnde Empathie, mit der Verwandte auf die Behinderung ihres Sohnes reagierten, erzählt die Mutter. Im Freundeskreis ist das bisweilen anders, hier stößt die Familie auf Verständnis, auch, weil es dort andere Familien mit Kindern mit Förderbedarf gibt. Im Allgemeinen aber geht die Familie offen und transparent mit der Behinderung ihres Kindes um. Außerdem lerne man, mit dem Befremden Anderer umzugehen und es ihnen nicht übel zu nehmen, dass sie mitunter abweisend auf die Behinderung reagierten.

Mit der Förderschule, die ihr Sohn besucht, sind die Eltern äußerst zufrieden. Sie fühlten sich schon von Beginn an gut beraten, auch im Vorfeld der Schule, als bei ihrem Sohn eine Behinderung diagnostiziert wurde, er daraufhin einen sonderpädagogischen Kindergarten besuchte und sich abzeichnete, dass der Sohn zukünftig auf eine sonderpädagogische Schule gehen würde. Besonders erfreut ist die Mutter über ein Modell der sogenannten Familienklasse, einer Klasse, in der nicht etwa gleichaltrige zusammen lernen, sondern in der über Altersgrenzen hinausgehend gelernt wird. Es sei, verdeutlicht die Mutter, für die Entwicklung des Sohnes förderlich, von und mit älteren Kindern zu lernen. Dennoch hatte die Familie, als sie ihren Sohn einschulen wollte, keine andere Wahl, da dies die einzige sonderpädagogische Schule im Umkreis ist. Nichtsdestotrotz sind die Eltern mit der Schule zufrieden, auch dem Sohn gefällt es und er kommt „immer lachend nach Hause.“

Der Freundeskreis des Jungen ist durchmischt, er spielt sowohl mit anderen beeinträchtigten Kin-dern, kommt aber auch über den Freundeskreis seines gesunden Bruders regelmäßig mit anderen Gleichaltrigen in Kontakt. Dies hält seine Mutter für äußerst sinnvoll für die Entwicklung ihres Kindes. Gleichwohl lehnt sie den Besuch einer Regelschule ihres Kindes als nicht zweckmäßig ab, weil er an einer Regelschule „keine Vorteile“ hat, sondern „nur Nachteile“. Das Betreuungsangebot an Regelschulen, auch an solchen mit Integrationsklassen, sei einfach zu wenig ausgebaut und ihr Sohn benötigt eine intensive Betreuung.

Inklusion sei „eine schöne Sache (…), es ist nur nicht so schnell umsetzbar.“ Bevor man sich mit einer schulischen Inklusion beschäftige, müsse erst einmal die „alltägliche Inklusion“ funktionieren, doch „die funktioniert gar nicht“. Alltägliche Inklusion scheitere schon bei der Bereitstellung behindertengerechter Toiletten und barrierefreier Zugänge zu Bahnhöfen, hier seien noch zahlreiche Defizite vorhanden.

Insgesamt stellt sich die Gesamtsituation mit zwei gesunden und einem behinderten Kind als deutliche Belastung dar, zumal, wenn beide Gehälter nicht ausreichen, um das Betreuungsangebot des Kindes auszubauen. Während die Mutter vormittags als Haushaltshilfe auf Basis einer geringfügigen Beschäftigung arbeitet, ist der Vater Maler und Lackierer.

Die Mutter wünscht sich für ihren Sohn, dass er eines Tages in einem betreuten Wohnen unterkommt. Nicht nur, weil man als Eltern „irgendwann wieder ein Leben führen“ will, sondern weil ein selbstständigeres Leben auch zum Wohle des Sohnes ist. Der Verbleib auf der Förderschule wird von den Eltern weiterhin angestrebt. Nichtsdestotrotz ist regelmäßiger Kontakt zu gleichaltrigen Kindern ohne Behinderung sinnvoll.

Die Erziehung und Pflege eines behinderten Kindes ist eine große Anstrengung, dies spiegelt sich allerdings stärker in der Herausforderung des privaten Alltags, in der Meisterung der alltäglichen Routine, als in der Schule wider.

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