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Die Auflösung der Sowjetunion in der Erinnerung der europäischen Staaten

Bericht von der gemeinsamen Konferenz KAS-ECS in Danzig, 15. bis 16.11.2016

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Welche Rolle spielen der Putsch in Moskau im August 1991 und die Auflösung der Sowjetunion im Dezember in der Erinnerung der europäischen Staaten? Gibt es Ansätze für gemeinsame europäische Sichtweisen und Erinnerungskulturen oder differieren sie voneinander? Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer gemeinsamen Konferenz der AG Zeitgeschichte der KAS mit dem Europäischen Solidarność -Zentrum Danzig (ECS) am 15. und 16. November. Bereits der Veranstaltungsort setzte einen symbolträchtigen Akzent: Das 2014 eröffnete ECS liegt auf dem Gelände der Danziger Werft, auf der 1980 mit der Streikbewegung und der Gewerkschaft Solidarność der Prozess der Auflösung des Ostblocks seinen Anfang nahm. Die Gestalt des Gebäudes imitiert einen Schiffskörper, was durch die rostfarbene Optik der Außenhaut unterstrichen wird. Beeindruckend ist auch das Innere: Um ein rund 20 Meter hohes Atrium Wintergartenstil gruppieren sich Seminar- und Verwaltungsräume, eine Bibliothek und auf einer Fläche von gut 3.000 Quadratmetern die Ausstellung zur Solidarność.

Nach der Begrüßung und Einführung in die Thematik durch Basil Kerski, Direktor des ECS, und Alexander Brakel, Leiter der AG Zeitgeschichte der KAS, schilderten neun Referenten aus verschiedenen europäischen Ländern die Erinnerung an 1991 aus der Perspektive ihres Landes. Im ersten Panel standen dabei Russland, die Ukraine und Litauen als Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihre Erinnerung an die Ereignisse im Mittelpunkt. In den Vorträgen und der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass sich die Erinnerung an 1991 bereits hier auseinanderentwickelt: Während im russischen kollektiven Gedächtnis der Zerfall der Sowjetunion mehrheitlich als vermeidbar gesehen und ihr Untergang bedauert wird, bewerten ihn die Balten überwiegend positiv und orientieren sich stärker am (Neu-)Gründungsmythos des „Baltischen Weges“ vom August 1989. Ähnliches gilt für die Ukraine, wobei hier der Anteil derer, die den Untergang der Sowjetunion bedauern, nach den Ereignissen des Jahres 2014 weiter zurückgegangen ist.

Im anschließenden Panel zur Perspektive der mitteleuropäischen Staaten unterstrichen die Referenten aus Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn, dass den Ereignissen in der Sowjetunion im Jahr 1991 aus der Sicht ihrer Länder damals wie in der heutigen Erinnerung nur geringe Bedeutung beigemessen wird. Schließlich waren die entscheidenden politischen Umbrüche bereits 1989/90 erfolgt und die sowjetischen Truppen außer im Falle Polens abgezogen. Im Falle der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik drängten die innenpolitischen Ereignisse, die in ihrem Zerfall mündeten, die äußeren Entwicklungen in den Hintergrund. Einen gewissen Einfluss auf die heutige Wahrnehmung haben die Ereignisse noch am ehesten in Polen: Aus dortiger Sicht hätte die Fortexistenz der Sowjetunion zwar das Bedrohungsszenario für den Westen aufrechterhalten und die in Polen stets kritisch beäugte Verständigung Deutschlands und Russlands erschwert, andererseits hätte ihre Fortexistenz einen Beitritt zur NATO und zur EU wahrscheinlich verzögert.

Das dritte und letzte Panel befasste sich mit der Perspektive der westeuropäischen Staaten. Aus ihrer Sicht war und ist der Zusammenbruch der Sowjetunion hauptsächlich ein außenpolitisches Ereignis. Frankreich und Deutschland waren wie die Vereinigten Staaten an einer Stabilisierung der Sowjetunion interessiert und unterstützten Präsident Gorbatschow. Italien, dessen kommunistische Partei bis zum Ende der 1980er die größte der westlichen Welt war und das eine zentrale Rolle für die NATO spielte, nahm die Entwicklungen in der Sowjetunion hingegen kaum wahr, da sich die PCI im Frühjahr 1991 aufgelöst hatte und sich das politische System grundlegend zu wandeln begann.

Insgesamt kam die Konferenz zu dem Ergebnis, dass das Ende der Sowjetunion stärker im Gesamtkontext des gesamteuropäischen Umbruchs der Jahre 1989 bis 1991 verortet werden muss, denn dies war zweifellos die größte geopolitische Umwälzung seit dem Ersten Weltkrieg. Der gescheiterte Augustputsch und die Auflösung der Sowjetunion selbst spielen zwar eine wichtige Rolle im Gedächtnis der früheren Staaten der Sowjetunion, die übrigen Staaten Europas nahmen die Auflösung jedoch nur noch am Rande wahr. In den folgenden Jahren schwand das Interesse an Russland. Der Untergang der Sowjetunion wird deshalb hauptsächlich als außenpolitisches Ereignis ohne Wirkung auf die kollektive Erinnerung gesehen. Verbindendes Element einer künftigen gemeinsamen Europäischen Erinnerung wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach weniger die Auflösung der Sowjetunion als vielmehr die Überwindung des Kommunismus in Ostmitteleuropa sein.

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