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Hilde Domin - Literaturpreisträgerin 1995 - Laudatio

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Zunächst und vor allem: Ich beglückwünsche Sie, verehrte Hilde Domin, zu dem hohen Preis, der Ihnen heute hier verliehen wird. Aber ich beglückwünsche Sie auch zu der bedeutsamen Tatsache, daß Sie diesen Preis gerade in Goethes Haus erhalten. Denn für uns, die wir doch in und mit der Literatur leben, ist es Deutschlands wichtigstes Haus, wichtiger noch als der Reichstag oder der Kölner Dom. Und da wir eine ehemalige Emigrantin feiern, soll gleich daran erinnert werden, was Deutschland seinen Dichtern, Komponisten und Philosophen verdankt. Viele von ihnen sprachen für dieses Land auch in jenen schweren und traurigen Jahren, als ein großer Teil der zivili sierten Menschheit von ihm nichts wissen wollte. Kein deutscher Staatsmann, kein deutscher Politiker hat je für Deutschland und die Menschheit die Bedeutung erlangt, die Goethe zukommt.

Wir haben uns jetzt versammelt, um eine außerordentliche Person zu feiern. Aber mit einer Lobrede, wie sie sonst üblich ist, wäre es hier nicht getan. Eigenart und Mentalität, Format und Größe der Dichterin Hilde Domin erlauben und zwingen uns, von den freundlichen Gaben und höflichen Wendungen abzusehen, mit denen man nach einem Wort Theodor Fontanes die "matten Pilger" bedenkt. Deswegen kann man hier offen sagen: Hilde Domin hat es uns nie leicht gemacht.

Bisweilen war der Umgang mit ihr schwer. Redakteure und Verleger, Kritiker und Buchhändler wissen davon ein Lied zu singen. Ich werde zu erklären versuchen, warum dieser Umgang so schwer ist und so schwer sein mußte.

Seit vielen Jahren kenne ich Hilde Domin, aber wir haben uns nicht oft gesehen, weil wir in verschiedenen Städten lebten. Die vielen telefoni schen Kontakte, die wir hatten, sind freilich sehr charakteristisch für den schwierigen Umgang mit ihr und für ihre Mentalität. Sie pflegte mich besonders gern um acht Uhr morgens anzurufen, auch an Sonntagen. Gespräche über das persönliche Befinden und das Wetter hat es zwischen uns nie gegeben. Sie kam sofort zur Sache: "Grass unmöglich, Enzensberger gut." Ich verstand offen gesagt nichts und nicht nur, weil ich schläfrig war. Es stellte sich heraus, daß sie Artikel dieser Schriftsteller gelesen hatte und den einen gut und den anderen schlecht fand. Es ist charakteristisch, daß sie mit keinem Wort erläu terte, was sie meinte. Sie war so sehr im Banne dessen, womit sie sich gerade beschäftigte, daß sie nicht auf den Gedanken kam, der Gesprächspartner könne nichts davon wissen.

Fand sie aber eine Sache schlecht, wurde es bedenklich, denn sie meinte, etwas dagegen tun zu müssen. Hier meldete sich die mit Grund ängstliche Stimme der Rückkehrerin, die Zeichen von schrecklichen Phänomenen sah und meinte, man müsse den Anfängen wehren. Aber was kann ein Literat denn tun? Er kann eine Resolution unter schreiben, eine Rede oder einen Artikel verfassen oder das ist immer der letzte Ausweg einen Leserbrief schreiben. Ich habe bei vielen derartigen Initiativen von Hilde Domin etwas bremsend gewirkt und ihr abgeraten, immer gleich und in jedem Fall zu protestieren und die Welt erlösen zu wollen. Natürlich haben meine Proteste gar nichts bewirkt. Nur eines habe ich erreicht: Der Leserbrief wurde nicht in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gedruckt, sondern in der "Zeit" und wenn nicht dort, dann endlich doch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". So hat Hilde Domin ihren Willen durchgesetzt.

Es waren immer Aktionen und Reaktionen einer Person, die vor allem wachsam war und sein wollte, die es für richtig hielt, gegen dieses und jenes zu protestieren. Und wenn sie nicht viele Preise jedenfalls nicht die höchsten bekommen hat, liegt das, wie ein Kritiker einmal zu Recht geschrieben hat, an ihrer Energie, an diesem Durchsetzungs willen, an ihrer Weigerung wegzuschauen, durch die sie vielen Leuten naturgemäß lästig gewesen ist. Aber warum eigentlich? Preise werden nicht für gutes oder erträgliches Benehmen gegeben, sondern für literarische Leistungen.

Übrigens waren die Leserbriefe und öffentlichen Äußerungen Hilde Domins keineswegs nur Protestbriefe, nur Alarmsignale, sondern oft genug positive Briefe, die mahnten, nicht zu vergessen, was Menschen Gutes getan haben. Unvergeßlich ist mir ein Brief, in dem Hilde Domin aus aktuellem Anlaß schrieb, was damals wenige schrieben: Man sollte die Deutschen nicht vergessen, die Juden gerettet haben. Und sie hat sich mit dieser pauschalen Erklärung nicht zufrieden gegeben, sondern konkrete Namen und erschütternde und ermuti gende Fakten genannt. In dem, was Hilde Domin schreibt, ist immer zweierlei: ein Zeichen des Mutes und eine Ermutigung.

Sie ist eine deutsche Dichterin durch und durch. Sie ist tief und stark verwurzelt in der deutschen Kultur und der deutschen Tradition. Hilde Domin lebt seit eh und je mit der deutschen Literatur und für die deutsche Literatur. Aber ich will nicht verschweigen, daß ich es mit den deutschen Dichterinnen immer etwas schwer hatte. Natürlich gehört eine Frau zu den größten Lyrikern in der Geschichte der deut schen Literatur: Annette von Droste Hülshoff. Natürlich sind Frauen wie Else Lasker Schüler, wie Anna Seghers oder Ingeborg Bachmann bedeutende Repräsentantinnen der deutschen Literatur. Ich schätze Ricarda Huch und Marie Luise Kaschnitz.

Anders als viele deutsche Autorinnen standen Ricarda Huch und Marie Luise Kaschnitz mit beiden Beinen auf dieser Erde. Ist das so bemerkenswert? Bei Schriftstellerinnen aus England, Frankreich oder Polen braucht man dies nicht besonders zu betonen. Um deutsche Autorinnen indes ist es eben anders bestellt. Sie sind ein wenig "ver rückt" oder spielen "verrückt" wie beispielsweise Else Lasker- Schüler. Anna Seghers machte immer einen etwas verwirrten Eindruck, Ingeborg Bachmann war meist scheu und schüchtern, das war vermutlich eine Maske. Und Hilde Domin? Wenn man mit ihr sprach, dann wußte man gleich, daß sie eine tüchtige energische Frau ist.

Aber wo ist der Platz von Hilde Domin in der Geschichte der deut schen Literatur?

In der deutschen Dichtung gibt es zwei große Ströme den feierlichen, priesterlichen, sakralen von Hölderlin bis zu Stefan George und Paul Celan und den weltlichen und rationalen, der der Logik mehr als den dunklen Trieben verbunden ist, den Strom also, für den beispielsweise Schiller und Heine stehen und in unserem Jahrhundert Bertolt Brecht. Goethe übrigens gehört hierhin und dorthin, er vereint beide Ströme. Und Hilde Domin?

Zunächst sei gesagt: Hilde Domin hatte im Leben ein so ungewöhn liches Glück wie kaum ein Mensch, den ich je getroffen habe. Sie hat das Glück gehabt, in ganz jungen Jahren Erwin Walter Palm kennen zulernen und mit ihm nahezu das ganze Leben zu verbringen. Eine Ehe mit einer schreibenden Person ist keine leichte Sache. Arno Schmidt hat einmal gesagt, was er von der Ehefrau erwarte: "Stumme Anbetung mit Maschineschreiben." Heines Frau Mathilde pflegte deutsche Besucher zu fragen, ob es stimme, was man erzähle: daß ihr Mann Henri ein deutscher Poet sei. Sie konnte kein Wort Deutsch und hat nie ein Gedicht Heines gelesen. Viele Schriftsteller wollten schlich te und geistig anspruchslose Frauen, die ihnen ausschließlich dienen sollten.

Und umgekehrt: Die schreibenden Frauen waren als Ehefrauen uner träglich oder untauglich, unfähig zum Zusammenleben mit einem anderen Menschen. Die meisten Autorinnen deutscher Sprache haben niemals geheiratet weder Annette von Droste Hülshoff noch Ingeborg Bachmann, weder Nelly Sachs noch Gertrud Kolmar. Ob Hilde Domin eine Ehe gelungen wäre, wenn sie nicht Erwin Walter Palm kennengelernt hätte, das will ich nicht klären. Aber welch ein Glück, einen nicht nur lieben Menschen zu finden, sondern einen, der ein glänzender Kenner der Literatur war, einen hochgebildeten Archäologen und Kunsthistoriker, der auch ein glänzender Berater der Gattin war und der gelegentlich sanft bremsend zu wirken sich bemüht hat.

Zweitens: Hilde Domin hatte das Glück, die Zeit des "Dritten Reiches" geradezu in einem Paradies zu verbringen. Viele sind aus Deutschland nach Holland oder Frankreich emigriert, aber bald war die Wehrmacht da, und viele wurden auch aus Holland oder Frankreich nach Auschwitz oder Theresienstadt deportiert. Hilde Domin lebte weit entfernt in einer fremden Welt, in der sie immerhin dichten, schreiben und lehren konnte. Vergessen wir nicht, daß unter den deutschen Emigranten die Zahl jener, die Selbstmord verübten, sehr groß ist: Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Ernst Toller, Walter Benjamin, Walter Hasenclever und Ernst Weiss. Und vergessen wir nicht jene, die Verfolgung oder Konzentrationslager überlebt haben und nach der Befreiung Selbstmord begingen wie Paul Celan, Klaus Mann, Jean Amery oder der Philologe Peter Szondi. Die emigrierten deutschen Schriftsteller sind mehrheitlich, von Kommunisten abgese hen, nicht nach Deutschland zurückgekehrt, sondern im Ausland geblieben und dort gestorben also Thomas Mann, Heinrich Mann, Elias Canetti, Wolfgang Hildesheimer, Manes Sperber, Peter Weiss, Nelly Sachs, Erich Fried, Lion Feuchtwanger. Hilde Domin hatte das Glück eines friedlichen Lebens in der Emigration. Sie war Lektorin an der Universität.

Damit war das Thema ihres Werks gegeben: das Exil. Das Exil ist für deutsche Schriftsteller nichts Neues, es wurde nicht erst vom "Dritten Reich" erfunden. Exilanten waren Winckelmann, Jakob Michael Reinhold Lenz, der Jude Heine und der Homosexuelle Platen, Büchner, Herwegh und Freiligrath, in unserem Jahrhundert vor allem Thomas Mann und Brecht, Heinrich Mann und Döblin. Das Exil ist ein Thema der Weltliteratur von Anfang an. Die beiden Literaturen, aus denen wir alle kommen und in denen die Wurzeln der europäi schen Literatur stecken, behandeln unentwegt das Thema des Exils: die Schriften der alten Juden und die der alten Griechen, die Bibel und der griechische Mythos. Immer wieder ist die Rede von Vertreibung und Verbannung, von Emigration und Deportation.

Das Kernproblem des Exils hat kein geringerer formuliert als Goethe: Die Königstochter wird nach Tauris deportiert, und von diesem Luxusasyl her sucht sie das Land der Griechen mit der Seele. Sie stellt die große rhetorische Frage: "Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?" Ihr wird geantwortet: "Und dir ist fremd das Vaterland geworden." Das ist das Problem: Das Vaterland wird dem Emigranten zur Fremde, die Fremde wird nicht zum Vaterland, und er wird zum heimatlosen, vaterlandslosen Menschen. Es zeigt sich: einmal Emi grant, immer Emigrant, ob zurückgekehrt in die Heimat oder nicht. Alfred Döblin hat dies am einfachsten und am knappsten in einem Artikel ausgedrückt, den er für eine Badische Zeitung kurz nach seiner Rückkehr schrieb: "Und als ich wiederkam, da kam ich nicht wieder."

So ist der Emigrant ein Mensch ohne Heimat, einer, der eine Heimat sucht. Heine hat schon als Zwanzigjähriger erkannt, daß er nur eine Heimat haben kann: die deutsche Sprache. Das ist die Heimat dessen, "dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern". Für Hilde Domin ist die Sprache "das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hat. ... Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, daß wir die Identität mit uns selbst bewahren konnten. Der Sprache wegen bin ich auch zurückgekommen." Das ist ein unge heuerlicher, ein richtiger und treffender Satz.

Nur oder vor allem der Sprache wegen ist sie also nach Deutschland zurückgekommen. Bei keinem Emigranten habe ich gefunden, was Hilde Domin geschrieben hat: "Ich stand auf und ging heim ins Wort." Und: "Die Rückkehr aus dem Exil ist vielleicht noch aufregender als das Verstoßenwerden." Hilde Domin ist nicht bei Nacht und Nebel aus Deutschland geflohen, sondern schon vor dem entscheidenden Jahr weggegangen, 1932. Sie ist dankbar, daß sie zurückkehren und wieder zuhause sein durfte. Es gibt ein sonderbares Beispiel dafür. "Wenn ich mich an einen Grabstein anlehnen kann, dann kann ich bleiben." Schon zweifeln wir an der Formulierung, den Grabstein als Zeichen der Heimat zu begreifen. Sie kommentiert und erklärt zugleich, daß und warum der Satz zweifelhaft sei: "Eine paradoxe Idee den Friedhof zum Kriterium der Heimat zu machen." Auch hier gilt. einmal Emigrant, immer Emigrant. Hilde Domin beschreibt das in einem ihrer berühmtesten und vielzitierten Gedichte: "Gewöhn dich nicht. / Du darfst dich nicht gewöhnen. / Eine Rose ist eine Rose. / Aber ein Heim / ist kein Heim". Und sie schreibt in der Emigration in der Dominikanischen Republik: "Ich befreite mich durch Sprache. ... Veröffentlichen war damals keine Frage. Schreiben war Rettung."

Was schrieb Hilde Domin im Exil, wo sie zu dichten anfing? "In den finsteren Zeiten / Da wird auch gesungen werden / von den finsteren Zeiten", heißt es bei Brecht. So wird auch im Exil vom Exil gedichtet. Ihre früheste Poesie, in der Fremde entstanden, ist Widerspruch und Widerstand, Prüfung und Protest, Revision und Rebellion: Wider spruch gegen Verbannung, Widerstand gegen Vertreibung, Rebellion gegen das Exil und gegen den Lauf der Welt. Und das gilt nicht nur für die Emigration. Ihre Dichtung bleibt immer Widerspruch und Widerstand, Revision und Rebellion, aber in Deutschland nicht mehr gegen das Exil, sondern gegen Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit, gegen den Opportunismus und den Konformismus. Sie läßt sich nicht beirren. Sie hat die Kraft zum Optimismus. Zustimmend zitiert sie die überraschenden Worte des in der Emigration gestorbenen Schick salsgenossen Manès Sperber: "Der fünfte Akt findet nicht statt. Das Stück beginnt von neuem."

Wenn man Hilde Domin in Interviews gefragt hat, ob sie eine engagierte Dichterin sei, war ihre Antwort sehr charakteristisch. Sie hat dies bestätigt, doch immer etwas verwundert. Das Engagement ihrer Poesie ist nicht das Ergebnis eines Beschlusses, sondern geradezu selbstverständlich. Die Dichtung ist für sie nicht ein Mittel, vielmehr Selbstzweck und natürlich Selbstdarstellung. Sie schreibt eines der kühnsten, originellsten deutschen Heimatgedichte, ein Gedicht über den Geburtsort Köln. Sie beginnt das Gedicht mit der ihr eigenen lapidaren Klarheit, mit klarer Lakonie: "Köln // Die versunkene Stadt / für mich / allein / versunken."

Wiederum zeigt sich: Eine Rückkehr ist nicht möglich, alles andere ist Illusion. Die Heimatstadt, in die sie wiederkommt, ist nicht mehr vorhanden, aber nur für sie allein; für die anderen ist die Stadt halb zerstört, längst wiederaufgebaut, alles geht weiter. Nur für sie ist es eine versunkene Stadt. Sehr schön sagt die einstige Kölnerin: "In mir ist immer / Abschied: / Wie ein Ertrinkender / dessen Kleider von Meerwasser schwer sind / seine letzte Liebe / einer kleinen Wolke schenkt". Mit anderen Worten: Eine Heimat kann sie nicht mehr finden, es sei denn in der Sprache, in der Literatur.

Sie ist nie auf den Gedanken gekommen, für Kritiker oder für Kollegen zu dichten: "Man schreibt nicht für die Welt od er Nachwelt, sondern für sich selber." Hat sie also von vornherein auf die Leser verzichtet? Keineswegs. Doch sind ihre Gedichte nicht Begegnungen mit Adressaten, sondern Selbstbegegnungen, Versuche, die eigene Persönlichkeit zu artikulieren und zu intensivieren. Sie möchte Gedichte als "Gesprächspartner" verstanden wissen; besser und genauer: als "Selbstgesprächspartner".

Wenn ihre Gedichte etwas aktivieren sollen, dann im Leser den Menschen. Sie glaubt an die Erlösung durch das Wort, durch die Sprache. Ihre schönsten Gedichte verbinden eine schmucklose und weitgehend auf Metaphern verzichtende Diktion mit vorbildlicher gedanklicher Klarheit, jener Klarheit, die nicht immer der deutschen Lyrik stärkste Seite war. Hilde Domins Poesie ist kühl und ruhig und auf wunderbare Weise souverän, was nicht immer für ihre Prosa gilt. Auch diese ist hochherzig, doch neigt sie bisweilen zu jener Euphorie, die nicht jedermanns Sache ist. Hier und da mag etwas Exaltiertes diese Lyrik bedrohen, doch niemals Sentimentalität.

Weil ich es für falsch und bedauerlich halte, daß man Hilde Domin auf Protestgedichte, auf politische Gedichte und Exilgedichte festzulegen pflegt, mache ich auf ihre herrlichen Liebesgedichte aufmerksam, kühne, schon die Grenze erreichende erotische Gedichte, geschrieben vor vierzig oder fünfundvierzig Jahren, die auch mit der Vertreibung, der Fremde zu tun haben. Und natürlich ist ihre Poesie ein Preislied auf das Wort, die Sprache und die Poesie selber.

Was ist eigentlich ein Gedicht? Ich habe bei Hilde Domin eine erstaun liche Definition gefunden: "Ein Gedicht ist ein gefrorener Augenblick, den jeder Leser für sich wieder ins Fließen, in sein Hier und Jetzt bringt." Derselbe Gedanke in ähnlicher Formulierung lautet an ande rer Stelle: "Einfrieren der Zeit durch die Kunst des Wortes", also das Wieder fließend Machen von Zeit durch die Kunst des Lesens.

Hilde Domins Dichtung ist eine Dichtung, die außerhalb jeder Regel steht. Sie ist anders als Lyrik in deutscher Sprache in unserem Jahrhundert, anders als die Lyrik von Frauen, vollkommen frei von Dekorativem und Hysterischem, das wir in Frauenlyrik nicht immer, aber bisweilen sehen und spüren. Es ist eine Lyrik, die sich durch enorme Klarheit, enorme Entschiedenheit und enorme Unabhängig keit bewährt. Und wenn ich zuvor von den Telefongesprächen sprach, wo ich entsetzt war und auf sie einredete, da hat sie mich oft mit einer unerwarteten, einer plötzlichen Antwort verblüfft: "Ja, Sie haben mich überzeugt, ich werde das nicht tun." Diese Logik in den Gesprächen, die wir geführt haben, ist zugleich die Logik und Klarheit ihrer Poesie.

Auf ihre Art ist Hilde Domins Poesie in deutscher Sprache einmalig. Niemand hat so gedichtet wie Hilde Domin. Und so ist es gut und richtig, daß sie mit einem hohen Preis ausgezeichnet wird und daß sie den Preis in dem Haus jenes Dichters erhält, von dem das große Wort stammt: "Alle menschlichen Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit."

  • Diese Laudatio wurde in freier Rede gehalten. Der gedruckte Text folgt der Tonband Mitschrift, die der Autor gekürzt und redigiert hat. Der mündliche Duktus wurde jedoch beibehalten

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Prof. Dr. Michael Braun

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