Asset-Herausgeber

Michael Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film

Eine Rezension von Prof. Dr. Elena Agazzi, Universität Bergamo

Asset-Herausgeber

Die letzte in der Reihe der Konrad-Adenauer-Stiftung erschienene Veröffentlichung von Michael Braun, Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film (2010), erweist sich aufgrund ihres sehr handlichen Formats und einer in kurze Abschnitte unterteilten, gut durchdachten Struktur als ein wertvoller einleitender Text. Und als ein übersichtliches Handbuch zur Erinnerungskultur, wobei eine gründliche Untersuchung der literarischen Produktion der letzten zwanzig Jahren mit der der Filmproduktion einher geht. Der Anhang des Bändchens enthält eine ausgewählte und kommentierte Bibliographie zu den analysierten literarischen Texten, gefolgt von einer kommentierten Liste der Filme und einer Bibliographie zur Sekundärliteratur. Ausgezeichnet sind dabei die strenge Organisation der Begriffe, welche die Erinnerungskulturforschung der letzten zwanzig Jahre bestimmen, deren Funktionalisierung zur Analyse der Unterschiede in den Erzähl- und Filmgattungen sowie die eloquente Synthese, mit der die Präsentation der Werke erfolgt.

Braun beginnt seine Arbeit mit einer Bilanz über die von Deutschland unternommene Anstrengung nach dem Fall der Mauer, Überlegungen produktiver Art über die jüngere Vergangenheit anzustellen – und folglich auch über die nationalsozialistische Vergangenheit – und angemessene Ausdrucksformen zur Schilderung der Realität in der DDR sowie der Bundesrepublik Deutschland in den vielleicht etwas weniger traumatischen, indessen auch ruhigeren Jahren des 20. Jahrhunderts aufzufinden. Die einzelnen Schritte dieser Rekonstruierung der Vergangenheit und die geschilderten Modalitäten haben durchgehend einen engen Bezug zur Zeitgeschichte, mit genauem Augenmerk auf den sprachlichen Strategien und auf dem Verhältnis zwischen historischer Dokumentation, persönlicher Erinnerung und dem besonderen gesellschaftspolitischen Kontext, dem die Ansätze in Literatur und Film entspringen. Die Identifizierung von „Meilensteinen“ bei diesem Überblick lässt sich wiederum anhand von Werken ausmachen, die um sich herum eine Mediendebatte ausgelöst haben und auf die hauptsächlichen Wendepunkte in der Reflexion der deutschen Kultur zum Thema der Erinnerung in der nationalen und internationalen Auseinandersetzung nach der Wiedervereinigung hinweisen.

Das nach zeitlicher Abfolge letzte große Ereignis ist die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Herta Müller, auf deren Roman Atemschaukel (2009) wie folgt verwiesen wird: „Die Umwandlung der Erinnerungen ist ein Prozess exemplarischer Sprachgenauigkeit, der nicht verwechselt werden darf mit einer das Historische an der Erinnerung erhöhenden Metaphorisierung” (S. 11).

Indem Braun zugunsten einer Systematisierung der mit der Erinnerungskultur verbundenen Begriffe, dank der er Links zu den Werken selbst schafft, auf eine umfassendere Analyse der Plots der Werke aus Film und Literatur verzichtet, bevorzugt er die thematischen Schwerpunkte, um die die Diskussion der Literaturkritik und der Medien verläuft. Begriffspaare wie Erinnerung und Gedächtnis, historische Dokumentation und Fiktion, individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis, aber auch definitorische Konstellationen wie die von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen, ermöglichen die Konstruktion eines Diskurses über die Funktion der Literatur als eines Gegenstands der Erinnerung und eins Subjekts der Erinnerung, unter Hervorhebung der Funktion als Speichersystem auf der einen und Symbolsystem auf der anderen Seite. Die auf die diachronische Rekonstruierung des Begriffs des Gedächtnisses gerichtete Aufmerksamkeit vom Altertum bis zur Gegenwart gibt Aufschluss darüber, inwiefern die aktive Vorstellungskraft der Künstler auf der Grundlage der Tradition hat wirken können, um im Lichte der veränderten Voraussetzungen einer Beziehung zu Raum und Zeit den Wert des Aktes des Wieder-Erinnerns zu bestimmen und abermals zu funktionalisieren. Die Symptome für diesen komplizierten Vorgang sind beispielsweise in einem Gedicht von Katharina Hacker ersichtlich, die auf die destabilisierende Wirkung der Bombardierung mit Information durch die elektronischen Archive verweist: „dies vollständigste archiv macht / was ein mensch hinterließ und / die erinnerung zunichte / die unzähligen dinge / zerstören die erinnerung.”

Bestand bis jetzt mitunter der Eindruck, dass die didaktische Intention des Autors diese Reise in die Literatur und Filmkunst eventuell in ein zu enges methodologisches Raster gezwängt haben könnte, so liegt es nahe anzuführen, dass Braun gemäß einem auf Gedankenassoziation beruhenden Grundsatz der Collage gleichzeitig zwischen Bild und Schrift zu arbeiten vermag. Die einfachen Leitfragen zur Förderung der Schaffensprozesse eines Werkes (zum Beispiel: Wer erinnert sich? Warum wird erinnert? Wie wird sich erinnert? Wo wird erinnert?), die aber auch die allgemeinen Vorgänge bei der Reflexion über unsere Existenz „in der Zeit“ unterstützen, sind die Angelpunkte des Palimpsests einer Erzählung oder einer Inszenierung im Dialog mit der Geschichte. Daher fällt es mithilfe einer Erläuterung zum „Standpunkt“ und „Handlungsort“ leicht, die Intentionen und Situationen eines Romans – Ich, von Wolfgang Hilbig (1993) – mit denen aus einem Film wie Das Leben der Anderen (2005) von Floran Henckel von Donnersmarck miteinander in Verbindung zu bringen: beide bestehen auf der moralischen Zeugenschaft, während andere sich durch eine Strategie des Dialogs zwischen verschiedenen Generationen von Individuen an die Vergangenheit annähern. Dadurch werden sie befähigt, auf unterschiedliche Weise mit besonderen realen oder imaginären Ereignissen der Vergangenheit, die jedoch stets auf historische Dynamiken rückführbar sind, in Verbindung zu treten.

Die Erinnerungskultur im gegenwärtigen Deutschland impliziert komplexe Verdrängungsvorgänge, die, bedingt durch die Schuldfrage, ihrerseits wiederum mit der Problematik des geteilten Gedächtnisses verbunden sind, dem Verhältnis zwischen Opfern, Menschenschindern und Mitverantwortlichen als auch dem zwischen Siegern und Besiegten. Menschliche Intelligenz, ideologische Perspektive und künstlerische Notwendigkeit sind eifrig darum bemüht, problematische Punkte der Beziehung zur Vergangenheit nach ästhetischen Vorgehensweisen zu klären, die auch und vor allem den ethischen Wert der Wirkung auf die Öffentlichkeit in Betracht ziehen müssen. Mit einer Verantwortlichkeit, die nicht allein auf eine unmittelbare sondern auch auf eine langfristige Nutznießung des Werkes ausgerichtet ist, hat der Autor die Komprimierung oder Ausdehnung des einzelnen paradigmatischen Ereignisses, das mit der Handlung einhergehende Pathos wohl durchdacht. Daher liegt es besonders nahe, dass Braun die verschiedenen Kommunikationsstrategien berücksichtigt, die für einen Film wie Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat (2008) typisch waren, im Vergleich zu dem vorausgehenden Fernsehfilm Stauffenberg (2004) von Jo Baier, der ebenfalls dem Ereignis des gescheiterten Attentates auf Hitler 1944 gewidmet war, oder dem ersten Film aus der Nachkriegszeit, Die Mörder sind unter uns (1946) von Wolfgang Staudte, der deutsche Verbrechen zum Thema hat, die erneut das Gewissen des ehemaligen Soldaten quälen, der zurückgekehrt ist, um Zivilkleidung zu tragen.

Die drei großen Abschnitte, in die sich Brauns Arbeit unterteilt, leisten den unerlässlichen Kriterien Folge, nach denen es heute möglich ist, eine Brücke zwischen den großen Themen der zweiten Nachkriegszeit und denen der auf die Wende folgenden Phase zu schlagen: in erster Hinsicht geht es um das Kriterium der Unterscheidung zwischen den Entwicklungsmodellen der Erinnerungskultur in der ehemaligen DDR und in der BRD und in zweiter Hinsicht um das der unterschiedlichen Beziehung zum Vermächtnis der Vergangenheit seitens der Bürger aus den beiden Teilen Deutschlands. Der Titel von Brauns Werk ist ein Beitrag zum Gedenken an die konfliktgeladene Art des Verhältnisses der Einzelnen zu ihrer erlebten Geschichte.

''Michael Braun, Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film, Konrad Adenauer Stiftung, Sankt Augustin/ Berlin 2010, 135 S.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Prof. Dr. Michael Braun

Prof. Dr

Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544
Einzeltitel
18. November 2010
Jetzt lesen
Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film KAS