Stoltenberg, Gerhard
Stoltenberg, Gerhard
geb. am 29.09.1928, gest. am 23.11.2001
Stoltenbergs persönliche Erfahrungen des Elends der Kriegs- und Nachkriegsjahre – das Kriegsende erlebte der junge Flakhelfer in britischer Gefangenschaft –, sein Herkommen aus einem protestantischen Pfarrhaus, seine umfassende historische und geisteswissenschaftliche Bildung sowie feste christliche Wertvorstellungen verbanden sich mit einer tiefen Skepsis gegen Planungseuphorie und den Glauben an die Steuerbarkeit sozialer und wirtschaftlicher Prozesse, wie sie die „moderne Finanzpolitik“ der späten 60er und der 70er Jahre beherrschten. Stoltenberg forderte, förderte und praktizierte eine sozialethisch begründete, ordnungspolitisch orientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik als konzeptionelle Einheit von Haushalts-, Steuer-, monetärer und Privatisierungspolitik.
Sein Ziel war eine Wirtschaftsordnung,
die als Kernstück einer freiheitlichen
Verfassung begriffen wurde.
Notwendig schien ihm eine Rückbesinnung
auf die innovativen Kräfte
der Sozialen Marktwirtschaft. Eröffnungs-
und Schlussbilanz seiner
Amtszeit als Bundesminister der Finanzen
von 1982 bis 1989 zeigen die
Wirksamkeit dieser Politik Stoltenbergs,
die er aber gegen die weitverbreitete
Dürftigkeit und mangelhafte
Standfestigkeit ordnungspolitischer
Grundüberzeugungen in den Führungsgremien
der Koalition und in
der Öffentlichkeit, insbesondere ab
1986, nur mit z. T. erheblichen Abstrichen
durchsetzen konnte.
Konrad Adenauer und Ludwig Erhard waren die wichtigsten Bezugspunkte
für die praktische Politik
Stoltenbergs, Walter Eucken,
Wilhelm Röpke bestimmten den theoretischen
Hintergrund. Prägend für den
jungen Studenten der Geschichte, der
Sozialwissenschaften und der Philosophie,
der bereits 1947 der CDU
beitrat, war vor allem die Erfahrung, wie nach der Währungsreform die
befreiende Tat Erhards, Bezugsscheinsystem
und andere Bewirtschaftungsmaßnahmen
aufzuheben,
Optimismus, Vertrauen und wirtschaftliche
Dynamik schufen. Wirtschaftliche
Prosperität bewährte sich
als Grundvoraussetzung einer gesicherten
demokratischen Entwicklung.
Stoltenberg strebte eine entschlossene
Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft
an, das hieß nach der
Überforderung der Finanzpolitik in
den 70er Jahren die Rückführung des
Staatsanteils durch haushälterische
Ausgabendisziplin und durch Umbau
des Steuersystems zur Stärkung der
Wachstumskräfte und zur Anerkennung
beruflicher Leistung.
Für Stoltenberg galt es 1982, die
vorgebliche Gesetzmäßigkeit eines
ständig wachsenden Staatsanteils und
ständig wachsender Staatsausgaben
zu brechen. Konsolidierung wurde
zu einem zentralen Ziel seiner Finanz-,
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
Die Staatsquote ging von 51,9
Prozent in 1982 auf 45,8 Prozent in
1990 zurück. 1989 erzielten die Gebietskörperschaften
und die Sozialversicherungen
erstmals seit Beginn
der 70er Jahre wieder einen Finanzierungsüberschuss,
die Gebietskörperschaften
reduzierten ihr Defizit im
gleichen Zeitraum von 32,2 Mrd. Euro
auf 6,4 Mrd. Euro, der Bund senkte
die Nettokreditaufnahme von 19
Mrd. Euro in 1982 auf 19,2 Mrd. DM
in 1989. Harte Sparmaßnahmen trugen
diese Entwicklung ebenso wie
eine günstige Einnahmeentwicklung
dank einer prosperierenden Wirtschaft.
Dem ordnungspolitischen Denken
Stoltenbergs hätte es entsprochen,
nach den quantitativen Konsolidierungserfolgen
der ersten Jahre die
qualitative Verbesserung der öffentlichen
Haushalte hin zu mehr Investitionen
in Zukunftsaufgaben energisch
voranzutreiben, wie ihm dies
als Bundesminister für wissenschaftliche
Forschung unter Bundeskanzler
Erhard gelungen war. Die sichtbare
Entspannung der finanziellen Gesamtsituation
minderte in der Koalition
und in den Ländern und Gemeinden
aber den Reformdruck. Zu den
schon damals erforderlichen tiefgreifenden
Reformen in den sozialen Sicherungssystemen
fühlte sich niemand
mehr aufgerufen, im Gegenteil
es wurden dauerhaft ausgabenwirksame
Projekte beschlossen, der Subventionsabbau
stockte.
Erst die spürbaren Erfolge der
konsequenten Konsolidierungspolitik
schufen Spielräume für die dreistufige
Steuerreform 86/ 88/ 90 mit
einer Nettoentlastung von rund 25,6
Mrd. Euro. Die Steuerquote erreichte
1990 mit 22,5 Prozent gegenüber
23,8 Prozent in 1982 den niedrigsten
Stand seit 30 Jahren. Sonderbelastungen
der Länder und Gemeinden
wurden vermieden, ihre Investitionskraft
gestärkt. Ziel war der Umbau
des Steuersystems weit über Tarifentlastungen
hinaus. Die direkten
Steuern sollten dauerhaft gesenkt,
das Steuerrecht wachstumsfördernd
und familienfreundlich wirken,
Deutschland als Standort für Zukunftsinvestitionen
im härter werdenden
internationalen Wettbewerb
attraktiver werden.
Obwohl im ersten Schritt vor allem
die Bezieher kleinerer Einkommen
entlastet und starke familienfreundliche
Elemente eingebaut wurden,
brachte der neue linear-progressive
Tarif dauerhafte Entlastungen für alle.
Dennoch bestimmten verteilungspolitische
Argumente, aber auch die
Steuerbefreiung für Flugbenzin, Rabatte
auf Jahreswagen, Zuschläge für
Sonntagsarbeit und die Quellensteuer
zunehmend das Bild. Auch bei der
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage,
also dem Abbau steuerlicher
Subventionen, gab es Rückschläge.
Stoltenberg überschätzte die ordnungspolitische
Grundorientierung
der für eine dauerhafte Reformpolitik
wichtigsten Mitspieler in Politik und
Wirtschaft ebenso wie den wirtschaftlichen
Sachverstand der öffentlichen
Diskussion. Dennoch wird seine
Steuerpolitik von Wissenschaft, Wirtschaft
und Politik vor allem auch angesichts
der Erfahrungen aus den seiner
Amtszeit vorangegangenen und
ihr folgenden Jahren außerordentlich
positiv beurteilt.
In enger Zusammenarbeit mit der
Bundesbank erreichte Stoltenberg eine
stabilitätsorientierte Verzahnung
von monetärer und Fiskalpolitik.
Ebenso wie die Märkte fassten die
Währungshüter Vertrauen in die Verlässlichkeit
seiner Politik. Der Diskontsatz,
der 1983 noch bei 7 % lag,
sank 1987 auf 3 %, die Kapitalmarktzinsen
zogen nach. Dieser für jeden
erkennbare Schulterschluss zwischen
Zentralbank und Finanzministerium
in der Ausgestaltung des monetären
Ordnungsrahmens beeindruckte In- und
Ausland.
Die Zusammenarbeit mit der Bundesbank
bewährte sich in den turbulenten
Zeiten der Währungskrisen,
der Paritätendiskussion im Europäischen
Währungssystem (EWS) und in
der aufbrechenden Schuldenkrise
wichtiger Schwellenländer sowie
beim Börsencrash im Herbst 1987.
Stoltenbergs hohe Kompetenz und
seine Verlässlichkeit ließen ihn zum
informellen Führer der G-7 Finanzminister
werden. Mit seinem Grundsatzpapier
vom 15. März 1988 zur Zukunft
des Europäischen Währungsraumes
unterstrich er den deutschen
Standpunkt zur stabilitätsgerechten
Weiterentwicklung des EWS in klarer
Abgrenzung zu verschwommenen
außenpolitischen Wunschvorstellungen.
Den grundsätzlichen Vorrang von
Privateigentum und privater Initiative
im marktwirtschaftlichen Denken
und Wirken Stoltenbergs spiegelt sein
Gesamtkonzept für die Privatisierungs-
und Beteiligungspolitik des
Bundes wider, das am 26. März 1985
vom Bundeskabinett beschlossen
wurde. Der Bund privatisierte in den
folgenden Jahren erhebliche Teile
seines industriellen Besitzes.
Die nahezu sieben Jahre, in denen
Stoltenberg Verantwortung für die Finanzpolitik
trug, erbrachten den Beweis,
dass mit einer Erneuerung der
Sozialen Marktwirtschaft wirtschaftlicher
Erfolg, Mehrung des Wohlstandes,
soziale Gerechtigkeit und Vertrauen
in die Demokratie einhergehen.
Die Bundesrepublik befand sich
1990 dank dieser Politik in der Lage,
die ökonomischen Lasten der deutschen
Einheit zu tragen.
Beruflicher Werdegang
1944-1945 Wehrdienst, 1949 Abitur, Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und Philosophie in Kiel, 1954 Promotion, wissenschaftlicher Assistent an der Universität Kiel, 1956 Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Kiel, Dozent. 1965 und 1969-1970 Direktor der Friedrich Krupp GmbH. 1947 Mitglied der CDU, 1955-1961 Bundesvorsitzender der Jungen Union, 1955-1971 stellvertretender Landesvorsitzender der CDU in Schleswig-Holstein, seit November 1971 Landesvorsitzender, 1969 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Mitglied des Landtages Schleswig-Holstein 1954-1957 und 1971-1982. Mitglied des Bundestages von 1957-1971. 1965-
1969 Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, danach stellvertretender Vorsitzender der CDU/ CSUBundestagsfraktion; 1971-1982 Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein. 1982-1989 Bundesminister der Finanzen, danach bis 1992 Bundesminister der Verteidigung; vom 20. Januar 1993 bis 30. März 2001 stellvertretender Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Literaturhinweise:
- STOLTENBERG, G. (1954), Der Deutsche Reichstag 1871 bis 1873, Düsseldorf;
- DERS. (1962), Die politischen Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1919-1933. Ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung in der Weimarer Republik, Düsseldorf;
- DERS. (1968), Hochschule – Wissenschaft – Politik. Zwölf Beiträge, Frankfurt;
- DERS. (1969), Staat und Wissenschaft. Zukunftsaufgaben der Wissenschafts- und Bildungspolitik, Stuttgart;
- DERS. (1978), Schleswig-Holstein – heute und morgen, Rendsburg;
- DERS. (1986), Unsere Verantwortung für eine gute Zukunft, München;
- DERS. (1997), Wendepunkte. Stationen deutscher Politik 1947-1990, Berlin;
- KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG (Hrsg.) (1999), Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Grundsätze, Erfahrungen und neue Aufgaben, (mit einem Vorwort von Gerhard Stoltenberg), Sankt Augustin;
- SCHLECHT, O./ STOLTENBERG, G. (Hrsg.) (2001), Soziale Marktwirtschaft. Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, Frieburg i.Br..