Nell-Breuning, Oswald von
Nell-Breuning, Oswald von
geb. am 08.03.1890, gest. am 21.08.1991
Oswald von Nell-Breuning (NB) kommentierte sowohl den „Neoliberalismus“ als Theoriehorizont als auch die sich auf ihn berufende Praxis, die er gerne als „sogenannte ‚Soziale Marktwirtschaft‘“ (SM) bezeichnete, in ihrer Anfangsphase in den 50er Jahren sehr kritisch. Erst spät (Können Neoliberalismus und Katholische Soziallehre sich verständigen? 1975) signalisierte er unter Hinweis auf einen Beitrag von Franz Böhm eine bedingte Versöhnungsmöglichkeit.
Um diese Position verstehen zu können,
muss man bis in die Ursprünge
der Enzyklika „Quadragesimo anno“
(QA, 1931) zurückgehen, als einer
deren „Ghostwriter“ NB nach eigenen
Angaben anzusehen ist. Dort unterzieht
Papst Pius XI. die „kapitalistische
Wirtschaftsweise“, insbesondere
deren „Vermachtung als Ergebnis der
Wettbewerbsfreiheit“ einer massiven
Kritik und räumt
gleichzeitig ein, sie sei „als solche
nicht zu verdammen“. Die
„Wettbewerbsfreiheit“ sei zwar „innerhalb
der gehörigen Grenzen berechtigt
und von zweifellosem Nutzen“,
könne „aber unmöglich regulatives
Prinzip der Wirtschaft“ sein. Sie
könne keinesfalls eine „Selbststeuerung“
der Wirtschaft bewirken, denn:
„Macht ist blind – Gewalt ist stürmisch“.
Um „segenbringend für die
Menschheit zu sein, bedarf sie selbst
kraftvoller Zügelung und weiser Lenkung“.
Diese könne sie sich aber
selbst nicht geben. Dazu bedürfe es
„höherer und edlerer Kräfte ..., die
die wirtschaftliche Macht in Strenge
und weise Zucht nehmen: die soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe“.
Für Pius XI. wie für NB lautet also
die entscheidende Frage: „Wie kann
man die Wirtschaft wieder einem
echten und durchgreifend regulativen
Prinzip“ unterstellen, nachdem im
bisherigen Liberalkapitalismus „die
verderblichen individualistischen
Theorien umgesetzt wurden“ (QA
88). Genau darum ging es ja auch
den „Vätern“ der SM, diesen Anspruch
vertreten ihre Befürworter bis
heute.
Das „echte“ regulative Prinzip. Der
Streit zwischen NB und bestimmten
neoliberalen Vertretern der SM und
vor allem jener politischen Praxis in
Deutschland, die sich seit 1949 auf
die SM beruft, dreht sich im Kern um
dieses „echte“ regulative Prinzip. NB
äußert in seinen kritischen Einlassungen
immer wieder den Verdacht, der
Wettbewerb werde auch von den
„Neoliberalen“ trotz allen anderen
Beteuerungen als „regulatives“ Prinzip
schlechthin betrachtet, weil sie wegen ihrer „neukantianischen“ Erkenntnistheorie
gar nicht anders
könnten. Bei den „Neu-Kantianern“
werde das (wirtschaftliche) Gemeinwohl
nur als „regulative Idee“ ohne
apriorisch erkennbaren materialen
Gehalt angesehen. Insofern könnten
sie die Ergebnisse des Wettbewerbs
nur nachträglich korrigieren, dieser
selbst aber habe „freien Lauf“. Genau
das aber laufe auf die bekannte „altliberale“
Theorie hinaus, die man lediglich
durch die Etikette SM zu
„schönen“ versuche.
Die unter Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack in ihrer Wirtschafts-
und Gesellschaftspolitik politisch
praktizierten Inhalte einer SM
gingen für NB hinsichtlich ihres „sozialen“
Gehalts nicht weit genug. Als
Parameter seiner Kritik zeigen sich
insbesondere die Unternehmungsverfassung
(NB vertrat einen „Laborismus“,
wonach in den Aufsichtsräten
der Kapitalgesellschaften die Anteilseigner,
die Belegschaft und die Unternehmer
(Manager) drittelparitätisch
vertreten sein sollten) und die für ihn
unzureichende Streuung des Produktivkapitals.
Insoweit stand er auch
den DGB-Gewerkschaften und der
SPD näher als der CDU und wirkte
bei der Formulierung des Godesberger
Programms der SPD ebenso mit
wie in der SPD-nahen Zeitschrift „Die
neue Gesellschaft“.
Die bedingte Versöhnung. Was aber
wäre für NB eine „wahre“ SM, die
von ihm sogar „freudige Zustimmung“
erfahren würde? Dieser Terminus
findet sich in seinem wichtigsten
und zugleich abschließenden Aufsatz
zu dieser Frage in der Festschrift für
Franz Böhm zu dessen 80. Geburtstag
(1975). NB kommt hier in einer
„persönlichen Erinnerung“ auf
ein „Argument“ zu sprechen, bei dem
es 1948 unter dem Vorsitz von Franz
Böhm im „Wissenschaftlichen Beirat
der damaligen Verwaltung für Wirtschaft“
um die Frage ging, „welche
Ordnung der Wirtschaft an die Stelle
der inzwischen völlig zusammengebrochenen
Kriegswirtschaft treten
solle“. Eine Zentralverwaltungswirtschaft
(ZVW) „mute dem einzelnen
zu, fast pausenlos dem eigenem Interesse
mit Rücksicht auf das Wohl des
Ganzen zuwiderzuhandeln“. Dem gegenüber
gelte, „daß in der Marktwirtschaft
Eigeninteresse und Erfordernisse
des Gemeinwohls im weiten Umfang
übereinstimmen“. Da „Moral ...
von allen Mangelwaren die knappste“
sei, und die ZVW „die Moral
überfordere“, müsse man zur „Marktwirtschaft
übergehen, die auch bei
weniger hohem Stand der Moral
noch funktionsfähig sei“. Böhm habe
diesem Argument mit der Bemerkung
zugestimmt: „Die Marktwirtschaft führe
den Menschen weniger in Versuchung“.
Damit akzeptierte NB grundsätzlich
jenen von Adam Smith vorgenommenen
„Paradigmenwechel“ (Karl Homann),
wonach es in der Wirtschaftsordnung
um die „eingebaute Moral“
der Institution Markt geht, die ihre
ethischen Ziele eben als Institution
und nicht aufgrund der persönlichen
(hohen) moralischen Qualität der
Marktteilnehmer (Konkurrenten) erreiche.
Allerdings sei damit eine zwar
notwendige, aber keineswegs hinreichende
Bedingung einer SM formuliert. Denn der Wettbewerb ist für NB
„nicht das Ordnungsprinzip der
Marktwirtschaft“, sondern (nur) das
ihr „eigentümliche Ordnungsinstrument“.
Anthropologisch ergibt sich die
Marktwirtschaft als Konsequenz der
„Privatautonomie“ und der damit einhergehenden
„Beseitigung“ der ihrer
Entfaltung entgegenstehenden „Hindernisse“. Da Privatautonomie
„entarten“ könne bis hin „zur völligen
Zerstörung der Markwirtschaft“,
bedarf es einer „marktwirtschaftlichen
Ordnungspolitik“, um die „Kulturpflanze“
(Böhm) Markt überhaupt am
Leben zu erhalten. Der Markt als solcher
kennt nur „eine Kategorie von
Werten“, aus denen sich gemäß dem
wirtschaftlichen Rationalprinzip die
Maxime ergibt: „Kosten minimieren,
Gewinn maximieren“. Darum
sei die Entscheidung für eine Marktwirtschaft
nichts mehr als „ein Intelligenztest“. Der Markt habe insofern
eine werthafte „Steuerungsfunktion“,
als die Marktteilnehmer auf die
„durch die Preise signalisierten
Knappheitsverhältnisse“ sachgerecht
reagieren müssen. Die „Privatautonomie“
mit dem Markt als notwendigem
Ordnungsinstrument führt jedoch
„nicht ohne weiteres ... zu einer Ordnung
der Wirtschaft“. Um zu
einer solchen zu gelangen, braucht
man eine „ihrem Vollzug und ihrer Sicherung
dienende Ordnungspolitik“.
Die anthropologische Basis dafür
ist der „Sinn“ der Wirtschaft. Er besteht
darin, nicht nur die Marktteilnehmer
„mit Kaufkraft zu versehen
..., sondern alle lebenden Menschen,
und zwar aus keinem anderen
Grund, als weil sie leben“, wie NB
zustimmend F. Böhm zitiert.
Daraus folgt für NB, dass eine „echte“
SM sich nicht auf eine bloße staatliche
Sicherung des Wettbewerbs reduzieren
darf, sondern die Wirtschaft
insgesamt im Sinne der „mehrdimensionalen Wertewelt“ des Menschen
ordnungspolitisch gestalten
muss. Der „Schwarzarbeiter“ (Böhm)
Markt darf die Wirtschaft nicht „ausschließlich“
steuern, vielmehr muss
man „die Möglichkeit korrigierender Staatsinterventionen“ einbeziehen.
Sie besteht, neben der Gewährleistung
der Privatautonomie vor allem
in Gestalt des „Privateigentums“ und
der „Vertragsfreiheit“, in der Beschaffung
der finanziellen Mittel (Steuern,
Abgaben), mit denen der Saat in die
„marktwirtschaftliche Einkommensverteilung“
eingreift, in der keineswegs
„automatisch gesteuerten Geldordnung“,
in der Konjunktur- sowie
Strukturpolitik. Gerade durch letztere,
so NB, werde „die Wirtschaft auf einen
anderen Weg“ gelenkt als demjenigen,
„auf dem die Marktkräfte sich
steuern“.
Ein Resümee der Einstellung NBs
zur SM muss vor allem drei Aspekte
hervorheben: (1) NB reagiert geradezu
allergisch gegen eine angebliche
„Selbststeuerung“ der Wirtschaft
durch eine „Hypostasierung“ des
Marktes, der nicht mehr (aber auch
nicht weniger) sei als ein Ordnungsinstrument,
das sich freilich zwingend
aus der Autonomie des Menschen
ergibt. (2) NB warnt vor allem
vor dem „Aufbau privater (Über-)
Macht“, die „einem Mindestmaß an Marktgleichgewicht funktionsfähiger
Privatautonomie den Boden“ entzieht
und so zu einer „Verwahrlosung“ der
Marktwirtschaft führen muss.
(3) Für NB gehört zu SM notwendigerweise
ein Sozialstaat mit einer
Umverteilungs- und Strukturpolitik,
durch die das Wertziel der Wirtschaft,
nämlich die Versorgung aller Menschen
mit dem „zum Lebensunterhalt
Nötigem“ möglichst gut erreicht
wird. Wenn eine solche Sicht von SM
„authentischer Neoliberalismus“ sei,
so das letzte Wort NBs in der Sache,
„dann, allerdings auch nur dann,
sind Neoliberalismus und Katholische Soziallehre miteinander versöhnt“. Zu fragen bleibt allerdings, ob
eine solche Versöhnung nicht nur mit
Ideen von Franz Böhm, sondern
auch (schon früher als 1975) mit Alfred Müller-Armack u. a. möglich
gewesen wäre, die über die Kritik
NBs an der von ihnen vertretenen
Theorie und Praxis der SM enttäuscht
waren.
Wissenschaftlicher und beruflicher Werdegang
Dr. theol., Dr. rer. h. c. Nell-Breuning war ab 1928 Professor für Moraltheologie und Sozialwissenschaften an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt und 17 Jahre lang Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft sowie Ehrenbürger der Städte Trier und Frankfurt/ M.
Literaturhinweise:
- NELL-BREUNING, O. v. (1955), Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute III Zeitfragen 1955-1959, Freiburg 1960, S. 81-98;
- DERS. (1956), Die soziale Marktwirtschaft im Urteil der katholischen Soziallehre, S. 99-102;
- DERS. (1975), Können Neoliberalismus und katholische Soziallehre sich verständigen?, in: Sauermann, H./ Mestmäcker, E.-J. (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (Festschrift Franz Böhm zum 80. Geburtstag) , Tübingen, S. 459-470.