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Einschätzung zu neuen Fluchtbewegungen aus dem Libanon

von Gregor Jaecke, Dr. Malte Gaier, David Labude

Die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrisen im Libanon sowie die sich vertiefende soziale Krise im Zedernstaat verstetigen die Fluchtbestrebungen der Menschen in der Region.

Die sich verschärfende wirtschaftliche und politische Krise im Libanon führt zu verstärkten Fluchtbestrebungen der Menschen im Land. Seit Ende August scheint insbesondere der EU-Mitgliedstaat Zypern ein Ziel syrischer und palästinensischer Flüchtlinge sowie neuerdings auch von Libanesen zu sein. Außerdem verlassen immer mehr syrische Staatsbürger den Libanon und kehren trotz der ebenfalls prekären Bedingungen in ihrem Heimatland nach Syrien zurück. Das Auslandsbüro Libanon und das Auslandsbüro Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung haben die derzeitigen Entwicklungen analysiert und in einem Bericht zusammengefasst.

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Die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrisen im Libanon sowie die sich vertiefende soziale Krise im Zedernstaat verstetigen und intensivieren die Fluchtbestrebungen der Menschen in der Region. Die ohnehin fortschreitende Destabilisierung sowie die negativen Auswirkungen auf die Lebenssituation der Menschen wurden durch die Monate der Corona-Epidemie, durch Lockdowns und obendrein durch die Folgen der Explosion in Beirut am 04.08.2020 massiv beschleunigt.

In der Folge machen sich neue – bislang noch schwer in Zahlen bezifferbare – Fluchtbewegungen bemerkbar: Während 2019 nach VN-Angaben rd. 270 Personen – mehrheitlich Syrer – in 17 Booten versuchten, vom libanesischen Festland aus Zypern (Entfernung: rd. 160KM) zu erreichen, so zählen die VN in diesem Jahr bereits 22 Boote, davon 18 im August/September, die sich auf die gefährliche Überfahrt begeben haben. Acht Booten gelang es, die zypriotischen Küstengewässer zu erreichen, zwei Fälle wurden bislang nicht bestätigt. Laut UNHCR seien seit Jahresbeginn auf Grundlage eines Abkommens zwischen Zypern und dem Libanon über den gemeinsamen koordinierten Kampf gegen illegale Migration insgesamt 266 Personen zurück in den Libanon überführt worden. Geschätzt die Hälfte der Flüchtlinge sollen Libanesen und Palästinenser gewesen sein, darunter auch Kinder. Am 14.09. wurde ein von Schleppern auf hoher See im Stich gelassenes Fischerboot von einem UNIFIL-Schiff entdeckt; von den ursprünglich 37 Flüchtlingen an Bord konnten sechs nur noch tot geborgen werden, weitere sechs Personen werden noch vermisst.

Diese jüngeren Fälle stellen nach dem sog. „Brain-Drain“, in dem z.T. gut ausgebildete Libanesen den Libanon im Verlauf des letzten Jahres in steigender Zahl ins Ausland verlassen haben, möglicherweise den Beginn einer zweiten Migrationswelle dar, auch wenn die bekannten Zahlen weit hinter den rd. 52.000 in diesem Jahr über das Mittelmeer (von der Türkei, Tunesien, Libyen aus) Geflohenen zurückstehen. Diese Fliehenden weisen i.d.R. weder einen hohen Bildungsgrad noch die für den Erwerb einer Reise oder die Erlangung eines europäischen Visums erforderlichen finanziellen Rücklagen auf. Im Libanon machen Massenarbeitslosigkeit, Armut und politische Instabilität jegliche Hoffnung auf eine Zukunft zunichte.

Fluchtversuche syrischer Staatsbürger im Libanon finden derzeit überwiegend bis ausnahmslos aus dem Nordlibanon statt, insbesondere aus Tripoli und aus der Region Akkar. Bereits in den Jahren seit Ausbruch der Krise in Syrien haben Syrer immer wieder versucht nach Griechisch-Zypern zu gelangen um von dort Asyl in Europa oder in Kanada zu erlangen. Dass es nun einigen Flüchtlingen (genaue Zahlen unbekannt, ca. 100) gelungen ist, Zypern zu erreichen, könnte jedoch weitere Syrer ermutigen, die Flucht nach Zypern zu wagen: „Alle Syrer, die ich kenne, denken momentan darüber nach, den Libanon zu verlassen“, so eine syrische Quelle.

Auch wenn bislang nur Syrer, die im Nordlibanon Zuflucht gefunden haben, nach Zypern geflohen sind, ist zu erwarten, dass sich auch Syrer aus Beirut auf die Flucht begeben könnten. Dies liegt vor allem an der prekären wirtschaftlichen Lage und dem Chaos im Libanon. Ihnen fehlten bislang aber häufig die notwendigen Kontakte, d.h. Verbindungen zu Schleppern, was sich aber schnell ändern könnte. Beobachter der Szene gehen davon aus, dass die schlechte wirtschaftliche Lage zur Entwicklung eines neuen „Businessmodells“ auch für Libanesen führen wird und diese u.a. syrische Flüchtlinge mit Booten nach Zypern übersetzen könnten. Im Vergleich zur Fluchtroute über die Türkei, nach TÜR-ZYP und weiter nach GRI-ZYP, für die Schlepper 3.500 US-Dollar (USD) verlangen, ist eine direkte Überfahrt aus dem Libanon nach Zypern mit ca. 1.000 USD wesentlich günstiger.

Vor diesem Hintergrund wird damit gerechnet, dass die Versuche von Syrern, die zypriotische Küste zu erreichen, ansteigen werden. Würde Zypern zu einem Anlandepunkt für syrische Flüchtlinge, dürfte auch der Schmuggel von Personen aus Syrien, die über Baalbek und Chtura in den Libanon kommen, zukünftig zunehmen. Die libanesische Hisbollah kontrolliert diese Schmuggelrouten in aller Regel und verdient daran, indem sie syrischen und libanesischen Schmugglern ein „Weggeld“ abnimmt. Weiterhin wird vermutet, dass libanesische Politiker die Flüchtlinge zukünftig auch als Druckmittel gegenüber der Europäischen Union nutzen könnten, wie es der türkische Präsident Erdogan bereits tut. In den vergangenen Jahren kam es bereits vereinzelt zu entsprechenden Äußerungen, so zuletzt durch den ehemaligen Außenminister und Präsidenten der größten christlichen Partei Free Patriotic Movement Gibran Bassil, der den französischen Präsidenten Emmanuel Macron während dessen Besuch im Libanon nur wenige Tage nach der Explosion in Beirut vor einer „Welle von Millionen Flüchtlingen“ warnte, sollte der Libanon kollabieren.

Rückkehr von syrischen Flüchtlingen nach Syrien über die syrisch-libanesische Grenze

Parallel zur Flucht nach Zypern verlassen stetig mehr syrische Flüchtlinge den Libanon Richtung Syrien. Auch hier ist eine genaue Anzahl schwer zu beziffern, da die libanesischen Behörden hierzu keine Statistik zu führen scheinen oder aber diese nicht veröffentlichen. Informationen von syrischen Behörden sind ebenfalls nicht erhältlich. Eine syrische Quelle schätzt, dass in den vergangenen zwei Wochen etwa 2.000 Syrer die Rückkehr in ihr Heimatland angetreten hätten. Seit dem 01.08. verlangt die syrische Regierung eine Gebühr von syrischen Staatsbürgern, die in ihr Heimatland einreisen möchten. Einreisende Syrer müssen seither (pro Person) 100 USD an der Grenze zum derzeit offiziellen Wechselkurs (1 USD = 1.250 Syrische Pfund (SYP)) tauschen. Dabei verlieren sie etwa 50 Prozent der Summe, da das SYP stark an Wert verloren hat und ein USD auf dem Schwarzmarkt mittlerweile etwa 2.600 SYP kostet. Die syrische Regierung versucht damit wahrscheinlich, an dringend benötigte ausländische Devisen zu kommen. Die fehlenden Geldmittel führen dazu, das dutzende, wenn nicht hunderte, Syrer im Niemandsland zwischen der syrischen und libanesischen Grenze festsitzen. Nachdem Human Rights Watch diese Praxis am 23.09. öffentlich kritisiert hatte, erklärte Syriens Ministerpräsident Hussein Arnous am Folgetag, die Gebühr für Syrer, die diese nicht zahlen könnten, auszusetzen. Ein „Rückstau“ an der Grenze bilde sich vor allem, da Syrien derzeit nur zwei Mal pro Woche die Grenze öffnet, was die syrische Regierung mit den Covid-19-Maßnahmen begründet.

Die libanesischen Behörden scheinen keine genaue Kenntnis darüber zu haben, wie viele Personen derzeit an der Grenze festsitzen, da sich diese i.d.R. auf der syrischen Seite, etwa fünf Kilometer entfernt vom libanesischen Grenzposten, befinden. Eine Rückkehr in den Libanon ist nach Überquerung der libanesischen Grenze i.d.R. nicht mehr möglich. Nur in Ausnahmefällen lassen die libanesischen Grenzer Syrer wieder einreisen. Einige festsitzende Syrer versuchen deshalb illegal die bergige Grenze zu überqueren. Am 05.09.bargen libanesische Sicherheitskräfte ein syrisches Mädchen, das beim Versuch, die Grenze Richtung Syrien illegal zu überqueren, gestorben war. Ihr Vater berichtete libanesischen Medien anschließend, dass die libanesischen Grenzbehörden sie trotz gültiger Papiere nicht zurück in den Libanon gelassen hätten. Während er und seine Tochter festsaßen, habenseine Frau und sein zweites Kind die Grenze passieren dürfen und seien nun in Syrien.

Angesicht der sich im Libanon derzeit überlagernden Krisen (Wirtschafts-, Finanz-, Regierungs- und Gesundheitskrise) ist damit zu rechnen, dass die Fluchtbewegungen sowohl von Libanesen als auch Syrern aus dem Libanon nach Zypern anhalten und ggf. ansteigen werden. Zwar ist momentan nicht davon auszugehen, dass sich diese Fluchtroute zu einem weiteren Hotspot der illegalen Migration über das Mittelmeer entwickelt, aber die Situation sollte weiter beobachtet werden. Um den Libanesen und den dort lebenden syrischen Geflüchteten eine Perspektive zu bieten, ist der libanesische Staat noch stärker als bisher auf internationale Unterstützungsleistungen angewiesen. Diese sollten aber, wie die Diskussionen um das Erfordernis zweckgebundener und direkter internationaler Nothilfe nach dem Explosionsunglück im Beiruter Hafen oder gar die Forderungen zivilgesellschaftlicher Organisationen nach einer Umgehung staatlicher Stellen deutlich machten, noch enger an Konditionen geknüpft sein und einem kontinuierlichen Monitoring unterliegen.

Dieser Bericht entstand unter Mitwirkung von David Labude, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Auslandsbüro Syrien/Irak.

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