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"Schwedische" Reformkoalition in Belgien

Erste Regierung ohne Sozialisten seit 26 Jahren - liberaler Charles Michel wird Premierminister

Rund viereinhalb Monate nach den Parlamentswahlen vom 25. Mai haben sich die flämischen Christdemokraten (CD&V), Regionalisten (N-VA) und Liberalen (OpenVld) mit den frankophonen Liberalen (MR) auf eine gemeinsame Regierung geeinigt. Premierminister wird der 38-jährige Charles Michel (MR). Für belgische Verhältnisse verliefen die Verhandlungen damit vergleichsweise schnell. In vielerlei Hinsicht ist diese neue Regierung ein Paukenschlag: Erstmals seit 26 Jahren hat Belgien eine föderale Regierung ohne Beteiligung der Sozialisten.

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Erstmals regiert die regionalistische N-VA, die auf lange Sicht für ein unabhängiges Flandern eintritt, auf föderaler Ebene mit. Erstmals seit 1938 wird ein frankophoner Liberaler Premierminister. Erstmals umfasst die Regierung drei flämische Parteien, aber nur eine frankophone Kraft.

Das Regierungsprogramm sieht umfassende Reformen im Bereich der Rente, des Arbeitsmarkts und des Gesundheitssektors vor. Bis 2018 soll Belgien einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren. Der Sparbedarf: 17 Milliarden Euro. Gleichzeitig will die Regierung den Mittelstand entlasten und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärken. Insbesondere der Mittelstand verbindet mit der Regierung Michel die Hoffnung auf die Durchführung überfälliger Reformen, die mit den wallonischen Sozialisten nicht möglich waren. Gleichwohl steht die Stabilität der neuen Regierung aus mehreren Gründen vor nicht unerheblichen Herausforderungen.

Hintergrund

Die Parlamentswahlen vom 25. Mai hatten ein doppeldeutiges Ergebnis: Die flämischen Regionalisten der N-VA erzielten mit rund 32% die meisten Stimmen in Flandern und waren damit erneut Wahlgewinner im Land. Doch auch die damaligen sechs Regierungsparteien bestehend aus Sozialisten (PS, sp.a), Liberalen (MR, OpenVLd) und Christdemokraten (CD&V, CDH) beider Sprachfamilien, erhielten genügend Stimmen für die Fortführung ihrer Regierung auf föderaler Ebene. Viele Beobachter gingen davon aus, dass nun sowohl auf regionaler (in Flandern, Brüssel, Wallonie) und föderaler Ebene parallele Koalitionen aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen (so genannte „tripartite“) geformt würden. Grund: Die Umsetzung der unter der Vorgängerregierung Di Rupo beschlossenen sechsten Staatsreform, die umfassende Kompetenztransfers an die Regionen vorsieht, bedarf einer engen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Regierungsebenen. Mit parallelen Mehrheiten auf regionaler und föderaler Ebene könnten gegenseitige Blockaden vermieden werden. Zudem hatten die großen frankophonen Parteien vor den Wahlen eine Zusammenarbeit mit der N-VA ausgeschlossen, selbst der MR war unter starken öffentlichen Druck etwas widerwillig auf diese Linie eingeschwenkt. Mithin wurde die Fortführung der bisherigen Koalition als wahrscheinlichste Variante angesehen.

Dieses Modell war rasch Makulatur: In der Wallonie schmiedeten die Sozialisten (PS) mit dem CDH ein Mitte-Links-Bündnis – unter Ausschluss des liberalen Frankophonen (MR). Damit war die Grundlage für eine „tripartite“ auf allen Ebenen entfallen: In Flandern bildete sich ein Mitte-Rechts-Bündnis von CD&V und der regionalistischen, liberal-konservativen N-VA. Die CD&V weigerte sich zudem, ohne die N-VA in eine föderale Regierung zu gehen. Zu belastend waren die Erfahrungen mit einer N-VA, die aus der Provinz die Bundesregierung attackiert. Ziel der CD&V: eine Koalition mit MR, CDH und N-VA. In einem solchen Bündnis hätte die CD&V eine zentrale Rolle eingenommen und gemeinsam mit dem CDH der kommenden Legislaturperiode eine starke christdemokratische Prägung geben können. Dieses Vorhaben scheiterte al-lerdings rasch an der Weigerung der CDH mit der N-VA an einem Tisch zu verhandeln – noch bevor konkrete Vorschläge auf dem Tisch lagen. Die folgenden Bemühungen der CD&V, ihre wallonische Schwesterpartei zur Teilnahme an den Verhandlungen zu bewegen, blieben erfolglos. Nun waren N-VA, CD&V und MR auf die flämischen Liberalen der OpenVld angewiesen.

Vor Verhandlungsbeginn mussten N-VA und CD&V die OpenVld in die flämische Regierung aufnehmen – eine conditio sine qua non der liberalen Parteivorsitzenden Gwendoline Rutten für die Beteiligung auf nationaler Ebene. Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter entschloss sich der MR, wohl auch auf Fürsprache der liberalen flämischen Schwester OpenVLD, als einzige frankophone Partei in Verhandlungen mit den drei flämischen Parteien einzusteigen. Die drei flämischen Parteien vertreten rund zwei Drittel der niederländischsprachigen Wähler, wohingegen der MR nicht einmal 30% der Frankophonen repräsentiert. Die Presse betitelte das sich abzeichnende Bündnis daher anfangs als „Kamikaze“-Koalition. Die Verhandlungen unter Führung des Parteivorsitzenden des MR, Charles Michel, und des vormaligen flämischen Ministerpräsidenten Kris Peeters (CD&V) liefen allerdings verhältnismäßig zügig. Folgerichtig erhielt die sich anbahnende Koalition einen positiveren Namen: „La Suédoise“, „die Schwedische“: Dies ist ein Verweis auf die Parteifarben von N-VA (gelb), den Liberalen (blau) und das Kreuz als Synonym für die flämischen Christdemokraten.

Während der Verhandlungen waren zwei kritische Situationen zu überstehen:

1. Die CD&V beschloss, ihre Europawahl-Spitzenkandidatin und vormalige Parteivorsitzende Marianne Thyssen als belgische Kommissarskandidatin ins Rennen zu schicken – und durchkreuzte damit die Pläne des vormaligen Außenministers Didier Reynders (MR), der sich bereits als EU-Kommissar wähnte. Die CD&V erhob die Bestätigung von der innerparteilich sehr beliebten Marianne Thyssens zur Schicksalsfrage und erhielt letztlich den Zuschlag. Damit verzichtete die CD&V gleichzeitig auf das Amt des belgischen Premierministers, für das lange der flämische Christdemokrat Kris Peeters als Favorit galt: Im Vorfeld hatte insbesondere der MR ausgeschlossen, beide Posten der CD&V zu überlassen.

2. Inhaltlich gab es kurz vor Abschluss der Verhandlungen erhebliche Spannungen zwischen CD&V und Open Vld. Die Streitpunkte: Entschädigung von Anteilseignern der christlich orientierten genossenschaftlichen Holdinggesellschaft Arco, Fortführung der automatisierten an den Lebenshaltungsindex angepassten Lohnerhöhungmechanismus (sog. Indexierung), stärkere Besteuerung großer Vermögen. Insgesamt versuchte die CD&V als zu radikal empfundene Reformvorschläge der Liberalen zu mäßigen. Die N-VA hielt sich hingegen während der Verhandlungen zurück. Die Partei hatte ihre wichtigsten Ziele schon vorher erreicht: das Amt des flämischen Ministerpräsidenten und eine Regierungskoalition ohne Beteiligung der ihnen verhassten wallonischen Sozialisten. Nach einer 28-stündigen Marathonsitzung vom 6. zum 7. Oktober wurden dann letzte Streitpunkte bezüglich des Haushalts, der Rente und der Lohnpolitik beigelegt. Am Samstag, 11. Oktober wurde die Regierung beim König vereidigt.

Personal

Regierungschef wird der Parteivorsitzende des MR, Charles Michel, Sohn des ehemaligen Außenministers, EU-Kommissars und Europaabgeordneten Louis Michel. Immer wieder hatten die Medien die in Flandern äußerst beliebte Maggie De Block mit dem Amt in Verbindung gebracht. Allerdings wehrte sich insbesondere die CD&V dagegen, dass die mit 14 Sitzen kleinste Regierungspartei den Premierminister stellt. Die größte Partei der Regierung (33 von 85 Abgeordneten) N-VA war jedoch an dem Posten nicht interessiert.

Die Regierung umfasst 14 Minister und 4 Staatssekretäre. Die Minister sind paritätisch zwischen Frankophonen und Niederländischsprachigen aufgeteilt: der MR erhält mithin neben dem Premierminister sechs (!)weitere Posten. So bleibt Didier Reynders, innerparteilicher Konkurrent Charles Michel’s, Außenminister und ist gleichzeitig einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten. Die weiteren Vize-Premiers sind Jan Jambon (N-VA), Kris Peeters (CD&V) und Alexander De Croo (Open Vld).

Der CD&V erreichte bei der Verteilung der Ressorts ein passables Ergebnis. Peeters wird ein „Superministerium“ von Beschäftigung, Wirtschaft und Verbraucherschutz führen. Das von der CD&V erstrebte Finanzministerium ging an die N-VA. Der bisherige über Parteigrenzen respektierte christdemokratische Finanzminister Koen Geens erhält das prestigeträchtige, aber schwierige Justiz-Portfolio. Der bisherige Verteidigungsminister De Crem wird Staatssekretär für den Außenhandel. Die N-VA erhält mit Inneres, Finanzen und Verteidigung drei Schlüsselressorts.

Inhalt

Die inhaltlichen Leitlinien des Regierungsprogramms sind: Haushaltskonsolidierung, Durchführung von Sozial- und Wirtschaftsreformen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Auf der einen Seite tritt die Koalition mit dem Versprechen an, die im europäischen Vergleich hohe Steuerlast und die Lohnstückkosten zu reduzieren. Auf der anderen Seite muss sie bis 2018 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Dies will sie in erster Linie (zu rund 75%) mit Ausgabenkürzungen erreichen. Bezüglich der Sozial- und Wirtschaftspolitik kündigt das Regierungsprogramm u. A. die folgenden Maßnahmen an:

  • Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 66 (bis 2025) bzw. auf 67 Jahre (bis 2030)
  • Reduzierung der Anreize zur Frühverrentung, Stärkung der Anreize für private Rentenvorsorge, verstärkte Möglichkeiten der anhaltenden Berufstätigkeit über das Renteneintrittsalter hinaus
  • Die auch von der Europäischen Kommission kritisierte Indexierung wird nicht abgeschafft, aber in 2015 ausgesetzt. Allein diese Maßnahme könnte die Unternehmen um 2,6 Milliarden entlasten
  • Einfrieren der Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst für 2015/16
  • Keine zeitliche Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (CD&V hatte sich dagegen gesperrt), gleichwohl sollen Langzeitarbeitslose zu gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden können
  • 3,2 Milliarden zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Anhebung der niedrigsten Renten, Senkung des Arbeitgeberanteils an den Lohnkosten von 33% auf 25%
  • Keine neue Steuer auf hohe Vermögen („Reichensteuer“), aber Veränderungen im Steuersystem, die sehr hohe Vermögen etwas stärker belasten
  • Höhere Belastungen auf Tabak, Diesel; Harmonisierung der Mehrwertsteuer, Anhebung der Börsensteuer
  • Der Anstieg der Ausgaben für den Gesundheitssektor wird auf 1,5% jährlich begrenzt
Die Regierung wird mithin einen strikten Sparkurs fahren und um zwischenzeitliche Abgabenerhöhungen nicht umhin kommen. In den kommenden fünf Jahren will sie 17 Milliarden Euro einsparen, um 2018 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Neben diesen sozioökonomischen Maßnahmen stehen auch wichtige Reformen in anderen Politikbereichen an: etwa im Justizwesen (u. A. Reform der Beratungshilfe und des Strafrechts), Energie (Notfallplan im Fall eines Blackouts; Verlängerung der Laufzeiten zweier Reaktoren des Atomkraftwerks Doel für weitere 10 Jahre), Mobilität (der umstrittene Plan Wathelet zur Änderung der Überflugrouten des Flughafens Brüssel wird nicht umgesetzt). Hinzu kommt: in dieser Legislaturperiode erfolgt die noch unter der letzten Regierung vereinbarte Übertragung von Kompetenzen in zahlreichen Politikbereichen von der föderalen Ebene hin zu Regionen und Gemeinschaften. Eine darüber hinaus gehende Staatsreform wird es in dieser Legislaturperiode nicht geben. Dies war eine Grundvoraussetzung für MR, CD&V und OpenVld, um überhaupt Verhandlungen mit der N-VA zu beginnen.

Die Reaktionen von Unternehmerverbänden und insbesondere der flämischen Medienöffentlichkeit auf das Regierungsprogramm sind positiv. Viele der Maßnahmen wurden von Unternehmern und Mittelstand geradezu ersehnt. Die traditionell extrem reformaversen belgischen Gewerkschaften sprachen hingegen von einem „Horrorpaket“. Bemerkenswert: Auch die dem CD&V nahe stehende christliche Gewerkschaft ACW lehnt das Regierungsprogramm ab. Insbesondere Politiker der CD&V haben daher bereits angekündigt, in den kommenden Monaten verstärkt den Dialog zu suchen und den Gesprächsfaden zu den Gewerkschaften nicht abreißen zu lassen.

Den kompletten Länderbericht samt Analyse und Tabellen finden Sie oben als PDF-Dokument zum Download.

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