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Eric Gaillard, Reuters

Auslandsinformationen

Die Lage im Sahel

von Thomas Schiller

Konsequenzen für das internationale Engagement

Die Sahelregion steht nunmehr seit mehreren Jahren im Fokus der europäischen und deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Trotz eines erheblichen Engagements der internationalen Staatengemeinschaft seit der erfolgreichen französischen Militäroperation Serval gegen terroristische Gruppen in Mali im Januar 2013 hat sich die Sicherheitslage jedes Jahr weiter verschlechtert. Nicht allein dschihadistische Vereinigungen wie ­GSIM und ­EIGS tragen zu dieser instabilen Lage bei, sondern auch lokal geprägte, in Teilen ethnische Konflikte, bewaffnete Milizen und organisierte Kriminalität. Was sind die Hintergründe dieser sich verschärfenden Lage und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die europäische und deutsche Unterstützung der Sahelstaaten?

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Die Lage

Die Zahlen sind eindeutig: In fünf Jahren, von 2014 bis 2019, verzeichnen die Daten von ­ACLED, einer auf die Analyse von Konflikten spezialisierten ­NGO, einen drastischen Anstieg politischer Gewalt im Sahel. Allein zwischen 2018 und 2019 hat sich die Opferzahl in der Region auf über 5.360 verdoppelt. Und dies sind nur die bekannten und – soweit dies in der Region überhaupt möglich ist – bestätigten Opfer. Aus Gesprächen mit Flüchtlingen aus dem Zen­trum Malis oder mit lokalen Politikern der Region Tillabéri in Niger ergibt sich die begründete Vermutung, dass die direkten und indirekten Opferzahlen der Gewalt im Sahel noch höher sein dürften. Hauptbetroffene der instabilen Lage sind Zivilisten, direkte Opfer von Angriffen auf Dörfer, zur Flucht Gezwungene oder ihrer Lebensgrundlagen Beraubte. Bauern können ihre Felder nicht mehr bestellen, Viehzüchter verlieren ihre Herden durch Raub oder zumindest Teile davon als „Abgaben“ an bewaffnete Gruppen. Indirekt führt die Unsicherheit dazu, dass Märkte nicht mehr öffnen bzw. viele Menschen diese nicht mehr erreichen können. Durch die Schließung zahlreicher Schulen in den betroffenen Regionen erodiert selbst die ohnehin schwache Basis für Bildung und Ausbildung.

Nicht allein die Zivilbevölkerung ist betroffen, sondern vor allem auch die Sicherheitskräfte der Staaten sind direkte Ziele der terroristischen Gruppen. Deren Ziel ist die Schaffung staatsfreier Räume und die Errichtung eigener, parastaat­licher Strukturen. In vielen Regionen gibt es entweder überhaupt keine oder nur noch eine geringe, auf einige zurückgezogene Posten beschränkte Präsenz der Sicherheitskräfte. Die Opferzahlen in den Reihen von Armee, Gendarmerie und Polizei sind hoch. Ein Beispiel aus Mali: Allein die Attacke auf das Militärcamp im nordöstlichen Indelimane Anfang November 2019 kostete mindestens 49 Soldaten das Leben. Nach Einschätzung von Sicherheitsexperten sind die Verlustraten der malischen Armee, im Verhältnis zu den sich im Feld befindlichen Streitkräften, extrem hoch. Die Attacken auf Militärcamps und Polizeistationen in Burkina Faso, Mali und Niger in 2019 (unter anderem In-Atès, Chinegodar, Indelimane) haben nicht allein gezeigt, dass terroristische Gruppen in der Lage sind, komplexe und aufwendige Angriffe durchzuführen, sondern leider auch, dass die Streitkräfte der Region selbst unfähig sind, befestigte Stellungen ausreichend zu sichern und zu verteidigen. Insbesondere die Streitkräfte Malis und Burkina Fasos sind in einem beklagenswerten Zustand, und dies trotz massiver Unterstützung vor allem der malischen Sicherheitskräfte seit mehreren Jahren.

Weite Gebiete der Staaten Burkina Faso, Mali und Niger sind längst nicht mehr unter der Kontrolle des Staates. Dies betrifft unter anderem den Norden und das Zentrum Malis, den Norden und Osten Burkina Fasos sowie den Nordwesten Nigers. In diesen Regionen haben sich terroristische Gruppen festgesetzt, aber auch Selbstverteidigungsmilizen haben sich gebildet, oftmals auf ethnischer Basis. Diese Milizen, wie z. B. die sogenannten Koglweogo in Burkina Faso, sind oftmals lokal stark verankert und ersetzen den Staat. Die Selbstverteidigungsgruppen richten sich entweder gegen die Bedrohung durch Terroristen oder existieren – wie die Koglweogo – schon seit Längerem zur Herstellung von Ordnung und Recht gegenüber Kriminellen in Regionen, in denen der Staat nicht präsent ist oder als unfähig gilt. Beispielhaft für diese Entwicklung steht auch die Miliz der Volksgruppe der Dogon, Dan Na Ambassagou, im Zentrum Malis. Dieser Miliz werden Übergriffe gegen die Volksgruppe der Peul vorgeworfen, die sich selbst jedoch als Schutzmacht der Dogonbevölkerung gegen die terroristischen Gruppen und andere Banditen sieht. Ein Beschluss der malischen Regierung zur Auflösung der Dogonmiliz nach dem Massaker im zentralmalischen Dorf Ogossagou verpuffte wirkungslos, hat die Regierung doch keine Möglichkeiten und – nach Auffassung einiger Beobachter – auch nicht den Willen, die Auflösung durchzusetzen.

Die Verschärfung der Situation ergibt sich auch durch die zunehmende Waffenverbreitung, die Perspektiv­losigkeit und das Aufbrechen traditioneller Führungsstrukturen.

Seit mehreren Jahren haben sich vor diesem Hintergrund lokale und ethnische Konflikte weiter verschärft und verkomplizieren die Situation zunehmend. Viele dieser lokalen Konflikte bestehen seit Langem – unterschwellig oder offen. Allerdings konnten in früheren Jahren Konflikte oftmals durch lokale Autoritäten eingegrenzt werden. Die aktuelle Verschärfung ergibt sich durch die Instrumentalisierung dieser Konflikte durch bewaffnete Gruppen – nicht allein Terroristen – und teilweise auch seitens des Staates sowie durch die zunehmende Verbreitung von Waffen, die Auswirkungen des demografischen Wachstums, der damit verbundenen Perspektiv­losigkeit junger Menschen sowie das Aufbrechen traditioneller Führungsstrukturen. Gerade Letzteres spielt eine nicht unerhebliche Rolle bei der zunehmenden Gewalt. Lokale, traditionelle Autoritäten wie Dorfchefs und religiöse Führer werden entweder nicht länger akzeptiert oder sind Ziel der terroristischen Gruppen. Mit dieser Entwicklung bricht ein weiterer Stabilitätsfaktor in vielen Gebieten weg.

Ein hochkomplexes und überaus gefährliches Problem entsteht durch die Beteiligung von Mitgliedern der Volksgruppe der Peul in einer Vielzahl terroristischer Gruppen. Diese Volksgruppe lebt in Westafrika von Guinea und Senegal im Westen bis hin nach Nigeria und dem Tschad. Viele Peul sind traditionell Viehzüchter und treiben teilweise bis heute ihre Rinderherden über tausende Kilometer durch Westafrika. Der aktuell prominenteste Peul dürfte wohl Amadou Koufa, Gründer der Katiba Macina im Zentrum Malis, sein. Amadou Koufa ist mittlerweile einer der prominentesten Führer der al-Qaida-­nahen Gruppierung ­GSIM. Für viele Menschen in der Region sind damit die Peul Verbündete der Terroristen. Ein gefährliches Amalgam, wird damit doch eine gesamte Volksgruppe unter den Generalverdacht der Sympathie mit terroristischen Gruppen gestellt, was mit Blick auf ihre Siedlungsgebiete in ganz Westafrika ethnische Konflikte weiter befeuern könnte. Leider findet diese Verallgemeinerung mit Blick auf die Peul auch in Europa Glauben.

Die Bedeutung der lokalen Konflikte kann für den Umfang der Instabilität in der Region nicht überschätzt werden. Viele terroristische Gruppen nutzen diese Konflikte geschickt aus. Durch die Abwesenheit des Staates oder den schlechten Ruf, den dieser genießt, stellen sie sich – oder andere Milizen – als verlässliche Ordnungshüter dar. Die Abwesenheit des Staates in vielen Regionen ist jedoch kein neues Phänomen. Seit ihrer Unabhängigkeit ist es den meisten Sahelstaaten nie gelungen, die volle Kontrolle über ihr Territorium auch wirklich auszuüben und ihre staatliche Präsenz überall zu verstetigen. Mit Blick auf die riesigen Räume, die defizitäre Infrastruktur und die geringen Ressourcen dieser Staaten ist dies auch nicht verwunderlich. Spätestens seit dem Beinahezusammenbruch Malis 2012/2013 und dem Sturz des langjährigen Staatschefs Blaise Compaoré in Burkina Faso 2014 hat sich dieser Kontrollverlust weiter verstärkt.

Die Ursachen der aktuellen Krise des Sahel reichen also weit zurück und haben viel mit der Fragilität der Staaten der Region zu tun. Die prekäre Sicherheitslage ist keineswegs eine bloße Konsequenz der Aktivitäten terroristischer Gruppen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass einerseits die meisten ursprünglichen Anführer der dschihadistischen Gruppen ursprünglich aus dem Norden – aus dem damaligen Bürgerkriegsland Algerien – nach Nordmali ausgewichen sind und andererseits der Zusammenbruch Libyens nach dem Sturz des langjährigen Diktators Gaddafi 2011 eine wesentliche Rolle beim Aufbau und der Bewaffnung der zahlreichen militanten Gruppen im Norden Malis 2012 gespielt hat. Diese Kombination aus externen und internen Faktoren hat das Pulverfass Sahel explodieren lassen.

Die Internationale Gemeinschaft ist spätestens seit 2013 in erheblichem Umfang in der Region engagiert. Nachdem 2012 terroristische Gruppen die Separatistenmilizen einiger Tuareg-­Gruppen beiseitegeschoben hatten und im Norden Malis, in Timbuktu und Gao, ihre Herrschaft etablieren konnten, kam es in Malis Hauptstadt Bamako zu einem Putsch der Armee. Es folgte eine chaotische Situation in einem ohnehin schwachen Staat. Die Entscheidung des französischen Staatspräsidenten François Hollande, den drohenden Vormarsch terroristischer Gruppen aus dem Norden Malis Richtung Süden mit dem Einsatz eigener Truppen zu verhindern, führte im Januar 2013 zur erfolgreichen Operation Serval. In der Folge versuchte die internationale Staatengemeinschaft den als innermalischen Nord-Süd-Konflikt begriffenen Ursprung der Krise diplomatisch durch das im Jahr 2015 unterzeichnete Abkommen von Algier zu lösen. Zugleich wurden der Kampf gegen die terroristischen Gruppen durch Frankreich nahtlos mit der Operation Barkhane fortgeführt, eine VN-Mission zur Umsetzung des Friedensabkommens und zur Stabilisierung Malis (­MINUSMA) geschaffen und mit der European Union Training Mission Mali (EUTM), der EU Capacity Building Mission (EUCAP) Sahel Mali und ­EUCAP Sahel Niger Trainings- und Beratungsmissionen zur Stärkung der Sicherheitskräfte aufgesetzt. ­Parallel dazu wurde die Entwicklungszusammenarbeit für den Sahel ausgeweitet. Deutschland beteiligte sich – zum ersten Mal in Westafrika – in erheblichem Umfang, sowohl bei der ­EUTM als auch bei der ­MINUSMA.

Der nahezu ausschließliche Fokus der internationalen Gemeinschaft auf Mali entspricht nicht der Realität einer Region, in der Grenzen wenig bedeuten.

Der Fokus der internationalen Gemeinschaft war sehr klar und nahezu ausschließlich auf Mali gerichtet. Einzig die französische Anti­terroroperation Barkhane hatte immer schon einen sahelweiten Ansatz. Auch die deutsche Öffentlichkeit nahm und nimmt bis heute den Konflikt in der Sahelzone als Einsatz in Mali wahr. Mag dies mit Blick auf die auf Mali beschränkte Beteiligung der Bundeswehr in den beiden ­Missionen ­EUTM und ­MINUSMA begründet erscheinen, so entspricht es nicht der Realität in einer Region, in der Grenzen wenig bedeuten.

Dieser enge Blick auf Mali erstaunt umso mehr, als bereits 2014 die Staaten Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad das Staatenbündnis G5 Sahel ins Leben riefen. Das erklärte Ziel war die Stärkung von Entwicklung und Sicherheit in der Region. 2015, im Zuge der Migrationskrise und den Bildern von illegalen Migranten an den Stränden des Mittelmeers in Libyen, rückte Niger als Drehkreuz der sogenannten zentralen Mittelmeerroute in den Blickpunkt, auch in Deutschland. Aber noch bis vor Kurzem wurde vor allem in der Wahrnehmung in Deutschland das Engagement in Mali und Niger als quasi komplett voneinander getrennt betrachtet – hier Stabilisierung und Antiterrorkampf, dort Entwicklung und Management der illegalen Migrationsströme. Vielen Kennern der Region war jedoch mit Blick auf die Fragilität der Staaten, die Unterentwicklung und die riesigen Räume seit Langem klar, dass die Instabilität den gesamten Sahelraum betrifft. Heute stehen vor allem die drei Staaten des zentralen Sahel – Burkina Faso, Mali und Niger – insgesamt vor einer desaströsen Situation.

 

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?

Der Fokus der internationalen Gemeinschaft auf den Terror bzw. die terroristischen Gruppen trifft also nur einen Teil des Problems der Instabilität in der Region, gewissermaßen mehr eines von vielen Symptomen als die Ursache. Der französische Experte Mathieu Pellerin bringt die aktuelle Lage mit Blick auf die sogenannten dschihadistischen Gruppen auf den Punkt: Der Dschihadismus im Sahel sei vor allem glocal und müsse verstanden werden „[…] nicht prioritär als eine gleichförmige Bewegung religiöser Natur, sondern als Agglomeration lokaler aufständischer Brennpunkte, die sich aus teilweise sehr alten gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Spaltungen speisen“.

Die Konflikte in der Sahelregion lassen sich daher nicht auf einen simplen Antiterrorkampf reduzieren. Bei der Lösung des Problems kann daher, um nur ein Element der klassischen Strategie gegen religiös motivierten Terror zu nennen, eine Deradikalisierung von Terroristen oder Sympathisanten nur ein sehr kleiner Bestandteil sein. Denn nahezu alle Experten sind sich einig: Der religiöse Faktor spielt im Sahel nicht die zentrale Rolle im Zulauf der terroristischen Gruppen. Islamischer Fanatismus mag bei einigen Rekruten eine Rolle spielen, insbesondere bei den Führungskadern, aber nur eine untergeordnete Rolle bei der Masse der Angehörigen von ­GSIM oder ­EIGS. Häufig wird nicht nur bei der Rekrutierung von Terroristen die Vielschichtigkeit der Motivationslagen übersehen. Gleiches gilt auch für die lokalen Konflikte, die oftmals allzu sehr vereinfacht werden. So trifft beispielsweise der vielfach beschriebene Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern in diesem schematischen Kain-und-Abel-Bild gar nicht zu. Im Nordwesten Nigers, um nur ein Beispiel zu nennen, stehen sich – auch dies eine Vereinfachung! – mit Tuareg und Peul zwei traditionelle Viehzüchtergruppen gegenüber. Unterschätzt wird zudem häufig das Konflikt­potenzial, das durch die Usurpation (aus Sicht der ­Betroffenen) von Land durch reiche Malier oder Nigrer auf dem Weg des modernen, staatlichen Grundrechts erfolgt. In Burkina Faso wiederum sind die Beamten der Wasser- und Wälderbehörde Corps des Eaux et Forêts in vielen Regionen geradezu verhasst, da sie traditionelle Jäger bestrafen und als hochkorrupte Vertreter eines für die Landbevölkerung unverständlichen staatlichen Umweltschutzsystems gelten.

Diese Komplexität der Lage wird, so scheint es, auch heute noch nicht wirklich erkannt. Die größte Bedrohung der Sicherheit geht zwar aktuell zweifellos von den terroristischen Gruppierungen aus, aber die größte Bedrohung der Stabilität in der Region bleiben die fragilen staatlichen Strukturen – verbunden mit Armut und Perspektiv­losigkeit einer extrem jungen und weiter wachsenden Bevölkerung.

Die Abwesenheit bzw. Schwäche der staatlichen Strukturen hat Folgen, die den staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt dieser Staaten infrage stellen.

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich das internationale militärische und politische Engagement entweder auf die Bekämpfung des Symptoms Terrorismus oder versucht die Leere, die die Staaten in vielen Bereichen lassen, zu füllen. Aber weder kann die Operation Barkhane langfristig die nationalstaatlichen Sicherheitskräfte ersetzen noch können beispielsweise internationale Akteure wie die ­MINUSMA auf Dauer die Funktionen übernehmen, die vor allem die Staaten der Region selbst ausfüllen müssen. Die mit Beginn des internationalen Engagements 2013 gehegte Hoffnung, die Staaten der Region – unterstützt und geschützt durch die internationale Gemeinschaft – könnten schrittweise ihre zentralen Aufgaben selbst übernehmen, erwies sich als Illusion. Die Analyse des französischen Generalstabschefs François Lecointre mit Blick auf Mali fasst dies gut zusammen: „Unser Optimismus wurde enttäuscht und Barkhane wurde nicht begleitet durch eine Rückkehr des Staatsapparats und der Erneuerung der Streitkräfte, vor allem der malischen. Zudem fand die konkrete Umsetzung des Friedens- und Aus­söhnungsabkommens nicht statt, das Chaos in Gebieten wie in Azawad oder Liptako bleibt bestehen, wo die Präsenz des Staates, wenn sie aufrechterhalten wurde, nicht akzeptiert, ja sogar bekämpft wurde.“

Die Analyse der Experten ist nahezu einheitlich: Das zentrale Problem sind die staatlichen Strukturen der Region, d. h. ihre komplette Abwesenheit bzw. ihre Schwäche sowie ihre Wahrnehmung als korrupt und ineffizient. Dies hat Folgen, die weit über die problematische Sicherheitslage hinausreichen und den staatlichen und auch gesellschaftlichen Zusammenhalt dieser Staaten insgesamt infrage stellen. Denn selbst in relativ sicheren und noch stabilen Regionen, wie zum Beispiel im Westen Malis, ist die Autorität des Staates gering. So berichtete ein malischer Präfekt, dass er während seiner Arbeit in der Region Kayes kaum Respekt seitens der Bevölkerung genossen habe. Ein Grund hierfür sei unter anderem die Tatsache, dass die geringen staatlichen Ressourcen, die er mobilisieren konnte, im Vergleich zu den Rücküberweisungen von Auslandsmaliern an ihre Dörfer in dieser traditionellen Auswanderungsregion derart gering seien, dass niemand auf die Idee käme, etwas vom malischen Staat zu erwarten.

 

„More of the same“ oder Neustart des internationalen Engagements?

Bisher setzt die internationale Staatengemeinschaft im Wesentlichen auf drei Lösungsansätze – militärische Terrorismusbekämpfung, Ausbildung der lokalen Sicherheitskräfte und klassische Entwicklungszusammenarbeit. Kurz zusammengefasst könnte man die Logik des bisherigen Engagements so beschreiben: Die internationalen Truppen wie Barkhane oder ­MINUSMA sollen den Staaten der Region den Zeitraum verschaffen, den sie für die Stärkung ihrer eigenen Kräfte brauchen. Hierfür erhalten sie Ausbildungshilfe und Materialunterstützung unter anderem durch die ­EUTM. Parallel dazu soll die zivile Entwicklungszusammenarbeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und ökonomische Perspektiven schaffen.

Die Zustim­mung in der malischen Bevölkerung zum internationalen Engagement erodiert.

Dieser Dreiklang – Stabilisierung durch internationale Truppen, Ausbildungs- und Materialhilfe, Entwicklungszusammenarbeit – hat bisher, analog zum vergleichbaren Ansatz in Afghanistan, keine nachhaltigen Effekte gezeitigt. Ganz im Gegenteil: Insbesondere die Eliten in Mali haben bisher nur sehr geringe Anstrengungen unternommen, um den nach dieser Logik vorgesehenen Aufbau eigener Fähigkeiten bei den Sicherheitskräften entschieden voranzutreiben. Stattdessen verlässt man sich darauf, dass beispielsweise die ­MINUSMA wie selbstverständlich nationale Wahlen absichert oder malische Politiker sicher von A nach B transportiert. Währenddessen erodiert die Zustimmung in der Bevölkerung zum internationalen Engagement. Vor allem Frankreich, aber auch die ­MINUSMA stehen in der gesamten Sahelregion in der Kritik. Gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hat sich mittlerweile eine regelrechte Ablehnung bis hin in die Kreise der Eliten entwickelt. Es kursieren Verschwörungstheorien, die Frankreich unterstellen, im eigenen Interesse die terroristischen Gruppen in der Region am Leben zu erhalten. Wie sonst könnte es denn sein, dass diese von der französischen Armee nicht schon längst zerschlagen seien?

Aber was ist die Alternative zum bisherigen Vorgehen? Das bisherige, erhebliche entwicklungs- und sicherheitspolitische Engagement der internationalen Gemeinschaft ist im Grundsatz keineswegs fehlgeleitet. Was aber fehlt, ist eine klare Ausrichtung auf die wesentlichen Faktoren, die für eine Stabilisierung der Region zentral sind. Diese sind vor allem die Kernfunktionen der Staaten der Region. Eine Neuausrichtung des internationalen Engagements bedeutet daher in erster Linie eine deutlichere Prioritätensetzung, das Einfordern von mehr Engagement auf der Partnerseite und eine Effizienzsteigerung in den militärischen Unterstützungsmaßnahmen.

  • Zahlreiche Experten sind der Auffassung, dass die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zuvörderst auf die Kernfunktionen des Staates konzentriert werden sollten. Hierzu gehört die verbesserte Unterstützung nicht nur der Streit- und Sicherheitskräfte der Region, sondern aller Kernfunktionen, d. h. Justizwesen, Bildungssektor, Territorialverwaltung, Gesundheits­wesen und die zentralstaatlichen Institutionen. Hinzu kommt, dass die Staaten des Sahel, auch mit dem besten Willen und bei bester Nutzung ihrer Ressourcen, nicht gleichzeitig ihre Ausgaben für ihren Sicherheitsapparat ausweiten und zeitgleich die dringend benötigten Aufwendungen für Bildung oder Verwaltung leisten können. Es handelt sich um einige der ärmsten Staaten der Welt. Auch hier muss die internationale Unterstützung ansetzen. Zu den defizitären Kernfunktionen des Staates treten die erwähnte unzureichende Infrastruktur und die riesigen geografischen Räume. Eine wirkliche Kontrolle des Staatsterritoriums kann nur erfolgen, wenn die Infrastruktur (vor allem Straßen) dies ermöglicht. Auch hier kann die Staatengemeinschaft unterstützen. Sollten die von der internationalen Staatengemeinschaft angekündigten erheblichen Mittel jedoch nicht wirklich konzentriert eingesetzt werden, sondern sich in einer Vielzahl gleichberechtigter Prioritäten verzetteln, wird damit kaum ein durchschlagender Erfolg erzielt werden.
  • Einhergehen sollte eine gezieltere Unterstützung der Staaten mit der klaren Formulierung von Zielen nach der Devise des Förderns und Forderns. Es sollte beispielsweise nicht länger toleriert werden, dass die malischen Streitkräfte bis heute – trotz wiederholter Forderungen der internationalen Gemeinschaft – nicht über ein Personalmanagementsystem verfügen, das diesen Namen verdient. Unter den aktuellen Umständen kann niemand in Bamako verlässlich sagen, wie hoch die Zahl der malischen Soldaten eigentlich ist, wer in welchen Einheiten dient oder wo. Wie unter diesen Voraussetzungen Ausbildungsprogramme für die malischen Streitkräfte effektive Resultate erzielen sollen, ist rätselhaft. Auch auf der Einnahmenseite sollten die Staaten in die Pflicht genommen werden. Der Vorsitzende des malischen Unternehmerverbands wies jüngst in drastischen Worten auf die äußerst geringen Zolleinnahmen des Landes hin – als ein Beispiel für die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägte Importwirtschaft und die fehlenden Potenziale des malischen Staates, die eigenen Einkünfte zu erhöhen.
  • Darüber hinaus besteht Verbesserungsbedarf in den aktuellen Ansätzen militärischer Unterstützung. So würde beispielsweise mehr Kontinuität in der Präsenz der Führungsebene und der Trainer der ­EUTM zu einer Verbesserung der Ausbildung sicherlich beitragen. Die aktuelle Rotation, selbst unter der Leitung der ­EUTM nach nur sechs Monaten, ermöglicht es allein zeitlich nicht, belastbare Beziehungen aufzubauen, Landeskenntnis zu erwerben und Projekte zu verstetigen. Ein positives Beispiel bietet demgegenüber die deutsche Ertüchtigungsinitiative. Sowohl Bedarfe wie auch die Projekte selbst werden zusammen mit den lokalen Partnern in den Streitkräften ermittelt und konkretisiert. Es entsteht eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, die jeweiligen Akteure kennen sich.

Mit Blick auf die dramatische Lage im Sahel bleibt das internationale Engagement in der Region aktuell unverzichtbar. Jedoch wird sich die internationale Staatengemeinschaft auf Dauer nicht an die Stelle der Staaten der Region setzen können. Diese müssen, je früher desto besser, ihre Kernfunktionen zumindest in großen Teilen selbst übernehmen können: Das Ziel kann daher nur die Stärkung der Staaten der Region in ihren wirklichen Kernfunktionen sein, verbunden mit Hilfen für den Infrastrukturausbau. Dies sollte nicht allein durch Unterstützung in Schwerpunktbereichen wie Sicherheit und Verwaltung, sondern auch mit Blick auf die bekannten Governance-Probleme, durch Konditionierung erfolgen.

 


 

Thomas Schiller ist Leiter des Regionalprogramms Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bamako.

 


 

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