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Der Mensalão-Prozess und seine Nachwehen

von Lukas Lingenthal, Julika Herzberg

HOHE STRAFEN FÜR KORRUPTIONSVERBRECHEN IN BRASILIENS JAHRHUNDERTPROZESS UND UNEINSICHTIGKEIT IN DEN REIHEN DER REGIERUNG

Nach sieben Jahren Ermittlungszeit, 13.000 Seiten Anklageschrift und über 600 Zeugenvernehmungen wurden im größten gerichtlich verhandelten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes nun die Urteile gesprochen. Während dieser Zeit war oft daran gezweifelt worden ob es wirklich zu einer Verurteilung der Angeklagten kommen würde. Viel wahrscheinlicher schien es den meisten Brasilianern, dass sich die Mächtigen, wie bisher viel zu oft geschehen, ungeschoren aus der Affäre ziehen könnten.

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Umso bedeutender sind der höchstrichterlichen Urteile und die zum Teil hohen Strafen im Jahrhundertprozess, der womöglich einen Wendepunkt in der brasilianischen Rechtsgeschichte markieren wird. Nur die Verurteilten selbst sehen dies naturgemäß anders. Einer von ihnen zieht nach der Urteilsverkündung erneut ins Parlament ein. Eine kräftige Ohrfeige für viele Brasilianer, die erneut Zweifel befeuert, ob der Hydra der Korruption tatsächlich beizukommen ist.

Schon seit Monaten sind die Zeitungen und Fernsehnachrichten täglich mit der Berichterstattung vom Verlauf des so genannten Mensalão-Prozesses beschäftigt. Während der ersten Amtszeit von Ex-Präsident Lula da Silva wurden im großen Stil Stimmen von Parlamentsabgeordneten aus dem Regierungsbündnis der PT (Partido dos Trabalhadores) gekauft, um bestimmte Beschlüsse durchzusetzen und Erfolge zu sichern. Ein komplexes System zur Abzweigung öffentlicher Gelder und zur Geldwäsche wurde erschaffen, in welches Politiker wie auch private Firmen und Banken eingebunden waren. Es sollen insgesamt bis zu 50 Millionen Dollar in die Taschen der Abgeordneten geflossen sein. Der Volksmund hatte dafür schnell den Begriff „Mensalão“ gefunden, das zweite Monatsgehalt. Der Zorn der brasilianischen Bevölkerung wurde vor allem dadurch geweckt, dass es sich um öffentliche Gelder handelte, die eigentlich der Verbesserung des Bildungssystems oder der Infrastruktur hätten dienen können. Die Aufdeckung des Skandals begann bereits 2005, als die brasilianische Zeitschrift VEJA über ein verdächtiges Video berichtete, auf dem die Geldübergabe zwischen eine Abgeordneten und einem Mittelsmann festgehalten wurde. Die Aufarbeitung des Falles zog sich in die Länge, 2012 wurde mit der Gerichtsverhandlung begonnen.

Noch kurz vor Prozessbeginn soll es Versuche gegeben haben, die Gerichtsverhandlungen weiter zu verzögern. So berichtete der Verfassungsrichter Gilmar Mendes in einem Interview der VEJA davon, dass Lula ihm auf Grund der anstehenden Kommunalwahlen nahe gelegt haben soll, den Prozess auf einen Zeitpunkt nach den Wahlen zu verlegen. Lulas Rolle im Mensalão-Skandal ist bis heute unklar und umstritten. So wurde er während der Vernehmungen von einigen Angeklagten der Mitwisserschaft und vom Unternehmer Marcos Valério, der zu über 40 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, sogar als Kopf des Systems bezeichnet.

Zu den insgesamt 37 Angeklagten zählte Lula jedoch nicht. Allerdings saßen ehemals hohe Vertreter der Regierungspartei PT auf der Anklagebank, so Lulas ehemaliger Kabinettschef José Dirceu, der ehemalige Vorsitzende der PT, José Genoino, sowie der ehemalige Schatzmeister der Partei, Delúbio Soares. Zudem einige Abgeordnete und hochrangige Vertreter der Banco do Brasil, der größten Bank des Landes, und der Banco Rural. Insgesamt wurden 25 der Angeklagten für schuldig befunden und zu Haft- und Geldstrafen verurteilt. Die höchste Strafe von 40 Jahren und 4 Monaten Gefängnis erhielt der Unternehmer Marcos Valério. Er wird als operativer Leiter des Korruptionssystems gesehen, der zwischen Firmen, Banken und Politik vermittelte, um die Herkunft und das Ziel der Bestechungsgelder zu verschleiern. Die Anklagepunkte umfassten unter anderem aktive und passive Korruption, Gründung einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche, Unterschlagung sowie Steuerhinterziehung.

Zu 10 Jahren und 10 Monaten Gefängnisstrafe sowie einer Geldstrafe von über 260.000 Euro wurde der Lula-Vertraute José Dirceu verurteilt. Er galt zeitweise als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftsnachfolge und beteuert bis heute seine Unschuld. Er kämpfte in den 1960er Jahren gegen die Militärdikatur in Brasilien und musste daraufhin ins Exil flüchten. Von 2003 bis 2005 fungierte er als rechte Hand Lulas und nahm eine Schlüsselposition in der Regierung ein, ohne deren Mitwirken ein Korruptionssystem in diesem Ausmaß wohl nicht möglich gewesen wäre. Die Richter betonten in ihrer Urteilsbegründung so auch, dass sie ihn als Drahtzieher, Organisator und Initiator im Geflecht des Mensalão-Skandals sehen.

Das Thema war in den letzten Monaten in Fernsehen und Zeitungen omnipräsent. Bis zu 500 Medienvertreter waren zeitweise in Brasília vor Ort, um von dem Verlauf der richterlichen Beratungsrunden und Abstimmungen zu berichten. Dabei wurden nicht nur die Vergehen der Angeklagten und die Bestechungssummen offen gelegt, sondern auch die Abstimmung jedes Richters in jedem einzelnen Anklagepunkt. Alle Zeugenvernehmungen, die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sowie die vollständige richterliche Beratung und Aussprache waren öffentlich, wurden live im Fernsehen übertragen und anschließend seitenlang in den Zeitungen kommentiert. Eine Paarung war dabei besonders medienwirksam und wurde zum Kampf Gut gegen Böse hochstilisiert. Die Stellungnahmen und Wortgefechte zwischen dem Berichterstatter Joaquím Barbosa und seinem Konterpart, dem Revidor Ricardo Lewandowski. Während Barbosa die Rolle des harten Hundes zufiel, der die große Mehrzahl der Angeklagten hinter Gitter bringen wollte, ergriff Lewandowski, zumeist mit Verweis auf die teils dünne Beweislage, Partei für die Angeklagten und sprach sich kaum für eine Verurteilung eines der Angeklagten aus. Die anderen acht Richter schlossen sich zumeist der Argumentation einer der beiden an, folgten in den meisten Fällen mehrheitlich jedoch Barbosas Linie.

So wurde mit Barbosa während des Prozesses ein neuer Volksheld geboren, der sich auch medial bestens als solcher verkaufen ließ. Als erster schwarzer Richter am obersten Gerichtshof des Landes, der sich aus eigener Kraft und mit eiserner Disziplin aus armen Verhältnissen hocharbeitete und dabei nie seine Prinzipien über Bord warf. So auch jetzt nicht, als er als Richter über diejenigen urteilen musste, die zur Zeit seiner Berufung zum Verfassungsrichter an der Macht waren und dem Präsidenten nahe standen, der ihn auf den Posten gehievt hatte – Lula. Zur Krönung wurde Barbosa Ende des Jahres 2012 zum Präsidenten des Gerichtshofs ernannt und von einigen sogar schon als der ideale Präsidentschaftskandidat für 2014 ausgerufen. Dieser Forderung allerdings erteilte er mit Verweis auf die Bedeutung der Gewaltenteilung eine klare Absage.

So wichtig die enorme Transparenz während der Gerichtsverhandlungen in dem Fall für die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der judikativen Staatsgewalt waren, der aus der Bevölkerung üblicherweise großes Misstrauen entgegenschlägt, kann die Frage nach dem öffentlichen Druck auf die Richter, die sich jeden Tag mit Foto und teils seitenlangen Zitaten ihrer Stellungnahmen in den Zeitungen wiedersahen, nicht ganz unbeachtet bleiben. Auch wenn die Beweislage in manchen Fällen dünn war und auf vielen Indizien beruhte, so sind die Urteile jedoch nicht aus den Wolken gegriffen. Besonders das Bestreiten einer Mittäterschaft, oder auch nur einer Mitwisserschaft, von Seiten der Personen, die zur Zeit des Skandals die politischen Schlüsselpositionen besetzten, ohne deren Mittun ein solches System logischerweise nicht funktionieren kann, erscheint nicht besonders glaubwürdig.

Während der Kommunalwahlen, die am 7. Oktober und, in den Städten, in denen es zu einem zweiten Wahlgang kam, am 28. Oktober 2012 stattfanden, stand die Frage im Raum, ob die Urteile im Mensalão-Prozess einen Einfluss haben würden. Doch obwohl gerade zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang dort, wo ein PT-Kandidat zur Stichwahl stand, die zu dem Zeitpunkt feststehenden Urteile thematisiert wurden, hatte dies keine erkennbaren Auswirkungen. In São Paulo und Niterói, wo sich die jeweiligen Konkurrenten der PT alle Mühe gaben, eine direkte Verbindung zwischen den Bürgermeisterkandidaten der Arbeiterpartei und den verurteilten Ex-Parteifunktionären zu belegen, siegten die PT-Kandidaten. Die PT gewann insgesamt in 71 Kommunen mehr als bei der letzten Wahl den Posten des Bürgermeisters. Dies mag auch daran liegen, dass die brasilianische Bevölkerung Korruption nicht als Ausnahme, sondern eher als traurigen Regelfall in der Politik sieht. Dennoch haben die Urteile Signalwirkung. Zu oft wurden in der Vergangenheit hochrangige Verdächtige laufen gelassen oder die Prozessbeginne bis zur Verjährung hinausgezögert. Dass nun selbst Personen auf höchsten Posten und Freunde von so einflussreichen Politikern wie Lula zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt wurden, überraschte zunächst viele.

Bei all der Aufruhr, den strengen Urteilen und der Signalwirkung, die dieser Prozess hatte, tauchen im Nachgang aber dennoch altbekannte Muster auf. So entbrannte nach der Urteilsverkündung ein über die Medien ausgetragener Streit zwischen dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses Marco Maia (PT) und dem obersten Gerichtshof. Maia machte sich stark dafür, dass nur der Kongress selbst darüber zu entscheiden habe, ob aktive Abgeordnete verurteilt werden könnten. Der Gerichtshof entschied jedoch anders und erklärte drei Abgeordnete des Regierungsbündnisses auf Grund der Schwere der von ihnen begangenen Delikte, die sich gegen die demokratische Grundordnung richteten, für voll haftbar ohne die Möglichkeit der Intervention des Parlaments.

Antreten musste die Haftstrafe bisher jedoch keiner der Verurteilten, da derzeit noch die bis zu sechsmonatigen Berufungsfristen laufen. Es wird erwartet, dass viele der 25 Verurteilten in Berufung gehen werden und damit ihren Haftantritt noch sehr viel weiter herauszögern könnten. Schon machen sich nach den ersten überraschten Jubelschreien aus der Bevölkerung wieder Unmut und Misstrauen breit, ob die Verurteilten denn trotz der hohen Haftstrafen jemals nur einen Tag hinter Gittern verbringen werden. Politische Freundschaftsdienste, welche die Haftstrafen in letzter Minute verhindern, werden die Verurteilten zumindest in diesem Prozess wohl nicht in Anspruch nehmen können, doch reichen auch juristische Instrumentarien, um den Vollzug in einigen Fällen möglicherweise über Jahre hinauszuzögern.

Und so kommt es zu Jahresbeginn 2013 zu absurd anmutenden politischen Schauspielen. Der zu sechs Jahren und elf Monaten Haft verurteilte ehemalige Vorsitzende der PT, José Genoino, hat am 3. Januar als Nachrücker einen frei werdenden Platz im Abgeordnetenhaus besetzt. Dafür erntet er zwar von vielen Seiten heftige Kritik, doch ist ihm rechtlich der Weg dahin offen, solange das Urteil gegen ihn nicht rechtskräftig geworden ist. Es werden nun also fortan nicht nur drei, sondern sogar vier Abgeordnete des aktuellen Nationalkongresses zu den Verurteilten im Mensalão-Prozess gehören. Ein solch provokantes Comeback –und sollte es nur wenige Monate Bestand haben – ist ein Schlag ins Gesicht derer, die nach der Urteilsverkündung voller Hoffnung waren, es würde sich in Sachen Korruptionsbekämpfung und gerechter Bestrafung, auch der politischen Eliten, endlich etwas ändern in Brasilien.

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