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Debatte um Dienstpflicht

Die Anregung des Bundespräsidenten, eine „soziale Pflichtzeit“ einzuführen, hat eine zwar nicht ganz neue, aber dennoch wichtige Debatte angestoßen. Bemerkenswert schnell und bisweilen schroff fielen die Reaktionen aus Parlament und Regierung, von Teilen der Opposition wie besonders lautstark auch von prominenten Vertretern der Koalition aus: Die Familienministerin Paus und Bildungsministerin Stark-Watzinger sowie Justizminister Buschmann, die Wehrbeauftragte Eva Högl und der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, lehnen schon den Grundgedanken kategorisch ab, bevor eine Debatte über die rechtlichen Voraussetzungen und die mögliche zeitliche wie fachliche Beschaffenheit eines solchen Dienstes überhaupt begonnen hat. Das wird der Anregung des Bundespräsidenten weder in der Form noch in der Sache gerecht, denn seine Begründung für den Nutzen eines solchen Dienstes, „gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt“, ist sicherlich bedenkenswert, zumal immer häufiger die frühe Auseinanderentwicklung von sozialen Herkünften, Erfahrungen und Zukunftsperspektiven in der jungen Generation beklagt wird.

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Für einen solchen Dienst gibt es durchaus Vorbilder: In Frankreich führte Staatspräsident Macron 2019 den Service National Universel ein, in dem alle Jugendlichen jeweils zur Hälfte zivil wie auch militärisch geschult und für gemeinnützige Aufgaben – zunächst für die Dauer eines Monats – eingesetzt werden.

Um die Wehrpflicht und den daraus hergeleiteten Zivildienst, die das Grundgesetz ermöglichen, geht es ausdrücklich nicht. Sie ist vom Gesetzgeber im Übrigen nicht abgeschafft, sondern bis auf Weiteres ausgesetzt worden – nicht wegen vermeintlicher Unzumutbarkeit, sondern wegen Verletzung von Fairness und Gerechtigkeit, wenn nur ein Bruchteil der Verpflichteten für diesen Dienst tatsächlich in Anspruch genommen werden. Dass es auch ohne eine gesetzliche Verpflichtung eine hohe Bereitschaft zu sozialem, gemeinnützigem Engagement gibt, belegt die Realität der fast 100.000 vorwiegend jungen Menschen, die sich gegenwärtig in unserem Land in einem Jugend- oder Bundesfreiwilligendienst engagieren. Bei vielen jungen Leuten ist das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit ähnlich stark ausgeprägt, wie der Wunsch nach individueller Freiheit und Selbstbestimmung. Ihre Gründe, sich zu engagieren, sind so vielfältig wie die Engagementformen – vom Krankenhaus bis zum Kindergarten, von Pflegeheim bis zur Politik. Viele wählen ihren Einsatzort mit Bedacht und entscheiden sich im Anschluss für einen eng mit ihrem Dienst verbundenen Ausbildungs- oder Studienplatz. Sie erfahren hautnah, was es heißt, für andere Menschen da zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Ohne dieses Engagement würden viele Aufgaben in unserer Gesellschaft nicht oder allenfalls unzulänglich erledigt werden.

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass das Engagement für die Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt und das gemeinschaftliche Miteinander stärkt. Genau darauf kommt es an, jetzt vielleicht mehr denn je, angesichts der vergangenen und aktuellen Krisen und Herausforderungen und den damit einhergehenden, deutlich erkenn- und spürbaren Rissen und Spaltungen in unserer Gesellschaft. Deshalb ist der Verweis auf die vermeintliche Unzumutbarkeit für die betroffenen jungen Leute wohlfeil und wird weder dem gesellschaftlichen Anliegen noch den Interessen der jungen Generation gerecht.

Richtig ist, dass jede gesetzliche Regelung über die vorhandenen freiwilligen Angebote hinaus rechtliche und praktische Fragen beantworten und anspruchsvolle Lösungen für eine ehrgeizige gesellschaftspolitische Zielsetzung finden muss. Da die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht vom gegenwärtigen Verfassungsrecht nicht gedeckt ist, müsste dafür mit Blick auf die grundsätzliche Relevanz einer allgemeinen Dienstpflicht eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen werden.

Nun sind die Hürden für Verfassungsänderungen bekannt und aus guten Gründen hoch. Daher sollte zumindest über die Aufwertung und Stärkung der bereits existierenden Freiwilligendienste nachgedacht werden: Von einer zeitlich flexibleren und inhaltlich-thematisch breiteren Ausgestaltung des Dienstes über eine höhere Vergütung der Dienstzeit bis hin zu der Möglichkeit, den geleisteten Dienst im In- oder auch im Ausland etwa als Praktikum im Rahmen einer Ausbildung oder eines Studiums anzurechnen, ist hier vieles vorstellbar. Es kommt darauf an, jungen Menschen ein Angebot zu machen, sich im Rahmen eines Dienstes für ihre Gesellschaft zu engagieren, der den Interessen des Einzelnen entspricht und einen persönlichen Mehrwert bietet, von dem gleichzeitig aber auch unsere ganze Gesellschaft profitiert.

In welcher Form dies letzten Endes geschieht und wie man es nennt – soziale Pflichtzeit, Dienstpflicht oder Gesellschaftsjahr – und wie lange es geleistet werden kann oder muss, darüber braucht es eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Für die Union, die mit einer Neuformulierung ihres Grundsatzprogramms begonnen hat, liegt in der Verweigerung politischer Wettbewerber, eine solches Unterfangen auch nur zu diskutieren, eine besondere Chance, diese notwendige Debatte über einen sozialen Dienst von jungen Menschen ebenso sorgfältig wie engagiert zu führen.

 

Der Beitrag "Wir brauchen die Debatte über eine Dienstpflicht" von Norbert Lammert erschien zuerst in den Fremden Federn der FAZ vom 24. Juni 2022.

 

 

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