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Reuters / David Mercado

Länderberichte

Wahlen unter schwerem Verdacht

Proteste und Ausschreitungen überschatten die Wahlen in Bolivien - OAS, EU und internationale Diplomaten bezweifeln die offiziellen Ergebnisse

„Die Mission der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) drückt ihre tiefe Besorgnis und Verwunderung über den drastischen und schwer zu rechtfertigenden Wandel in der Tendenz der vorläufigen Wahlergebnisse nach der Schließung der Wahllokale aus.“ Mit diesen Worten kritisierte der ehemalige costaricanische Außenminister Manuel González, Leiter der Wahlbeobachtungsmission der OAS, den bisherigen Ablauf der Präsidentschafts- und Kongresswahlen in Bolivien am 20. Oktober. Nach der Publikation erster Ergebnisse, die eindeutig auf einen zweiten Wahlgang hindeuteten, veröffentlichte die Wahlbehörde Órgano Electoral Plurinacional (OEP) am Montagabend neue Zahlen, die Präsident Evo Morales einen Sieg bereits im ersten Wahlgang attestierten. Proteste der Opposition und Ausschreitungen erschüttern seitdem alle Provinzen des Landes.

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Der Wahltag und erste Ergebnisse

Die Generalwahl der Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftspaare sowie beider Parlamentskammern lief zunächst überwiegend friedlich und geordnet ab. 7,3 Millionen Bolivianer waren aufgerufen, mit ihrer Erststimme einen Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten zu wählen und mit ihrer Zweitstimme in 70 Wahlkreisen (davon 7 in indigenen Gemeinden) einen Direktkandidaten für den Einzug ins Parlament zu bestimmen. Nach der durch die Wahlbehörde OEP bestätigten Schnellauszählung der Erststimmen am Sonntagabend ergaben sich folgende Ergebnisse:

Kandidat Partei Ergebnis Veränderung (2014)
Evo Morales Movimiento al Socialismo (MAS) 45,3 % - 16,1%
Carlos Mesa Comunidad Ciudadana (CC) 38,2 % erstmalig angetreten
Chi Hyun Chung Partido Demócrata Cristiano (PDC) 8,8 % - 0,2 %
Oscar Ortíz Bolivia Dice No (BDN) 4,4 % erstmalig angetreten

Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis der OEP-Daten

Damit hätte Amtsinhaber Morales sowohl die absolute Mehrheit als auch die zweite Bedingung für einen Sieg im ersten Wahlgang - nämlich eine Differenz von mindestens 10 % auf den Zweitplatzierten - verfehlt.

Auf Ebene der Departements konnte der MAS Siege in 5 der 9 neun bolivianischen Regionen erzielen, nämlich in La Paz, Cochabamba, Pando, Oruro und Potosí. In Santa Cruz, Chuquisaca, Beni und Tarija errang das Oppositionsbündnis Comunidad Ciudadana (CC) die Mehrheit der Stimmen. Überraschend ist neben dem Abschneiden des MAS und dem Erfolg von CC vor allem das schlechte Ergebnis von Bolivia Dice No (BDN) sowie der Erfolg des Partido Demócrata Cristiano (PDC), der noch vor wenigen Monaten abgeschlagen zurücklag und nun drittstärkste Kraft ist.

Die Stimmen der Wahlkämpfer

Selbst in den Reihen der Opposition war in den vergangenen Wochen vielfach mit einem – wenn auch knappen - Wahlsieg Morales‘ in der ersten Runde gerechnet worden. Die Kandidaten Mesa, Ortíz und Chi betonten dabei unisono, dass sie Wahlbetrug fürchteten, eine Einschätzung, die von oppositionellen Organisationen der Zivilgesellschaft und Nichtregierungs-organisationen geteilt wurde.

Zuletzt versuchte die Regierungsfraktion ideologische Positionen zu vertiefen. Am Wahltag rief Álvaro García Linera, Kandidat für die Vizepräsidentschaft des MAS, die Bolivianer auf

„bei ihrer Wahl daran zu denken, dass uns nicht das passieren möge, was in Ecuador und Chile passiert, wo es viele Probleme gibt.“

Beide Staaten werden von Mitte-Rechts- Regierungen regiert und derzeit von sozialen Protesten erschüttert.

Die wichtigsten Kandidaten der Opposition, Carlos Mesa (CC) und Oscar Ortíz vom Wahlbündnis „Bolivia dice No“ (BDN) betonten derweil ihre fundamentale Opposition gegenüber der Regierung und kritisierten neben der umstrittenen Kandidatur von Morales diverse Aspekte der Regierungsführung des MAS, darunter Korruptionsfälle, den Verlust unabhängiger Institutionen und eine ihrer Ansicht nach nicht nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dementsprechend positiv nahm der große Gewinner des Wahltages, Carlos Mesa die ersten Hochrechnungen auf:

„Wir haben einen unbestreitbaren Triumpf errungen der es uns mit Sicherheit erlaubt zu sagen, dass wir in den zweiten Wahlgang kommen.“

Ein enttäuschter Oscar Ortíz schlug sich am Abend der Niederlage auf die Seite des stärksten Oppositionskandidaten:

„Die Bürger haben entschieden, dass der Gegner von Evo Morales in einem zweiten Wahlgang Carlos Mesa sein soll und wir unterstützen diese Entscheidung bedingungslos.“

Der erst vor wenigen Wochen neu gekürte Kandidat der PDC und Überraschungsdritte, der koreanisch stämmige Evangelikale Chi Hyun Chung, der einen Wahlkampf mit radikal-evangelikalen Positionen geführt hatte, unterstrich seine Opposition gegen den MAS und richtete sich direkt an den Präsidenten:

„Herr Morales, (…) ihr Wahlergebnis ist eine große Niederlage, sie müssen die Bühne des Sozialismus des 21. Jahrhunderts verlassen.“

Der so angesprochene Morales betonte am Sonntagabend:

„Wir haben die vorläufigen Ergebnisse gehört und wie immer vertrauen wir auf die Ergebnisse aus dem ländlichen Raum. Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass wir 2002 in einigen Departements schon als Verlierer galten und nachdem die durch Schneefall verspäteten Stimmen eintrafen, waren wir Erstplatzierte in Oruro und Potosí.“

Neue Ergebnisse am Montag und die Zweifel internationaler Beobachter

Solange ein zweiter Wahlgang in Aussicht gestellt war, gab es wenig Kritik am Wahlverlauf. Ab Sonntagabend jedoch ergaben sich Zweifel am Ablauf der Wahl. Die OAS erklärte in ihrem Communiqué:

„Um 19.40 Uhr des Sonntags, 20. Oktober, verbreitete das oberste Wahlgericht die Resultate der Schnellauszählung. Diese Zahlen deuteten eindeutig auf einen zweiten Wahlgang hin. […] Um 20.10 Uhr, stoppte das oberste Wahlgericht die Verbreitung der Daten…“

Das OEP führte technische Gründe für den Stopp der Schnellauszählung an, die die oben genannten Ergebnisse anzeigten. Vertreter der Opposition vermuteten jedoch, dass die Wahlbehörde direkte Order der Regierung zur Unterbrechung der Schnellauszählung erhalten habe. Die Erklärung der OAS fährt fort:

„24 Stunden später präsentierte das Wahlgericht Daten mit einer unerklärlichen Veränderung der Tendenz, die den Ausgang der Wahl drastisch veränderte und zu einem Vertrauensverlust gegenüber dem Wahlprozess führten.“

Die am Abend des Montages präsentierten Daten der Schnellauszählung attestierten Morales (46,8 Prozent) gegenüber Mesa (36,7 Prozent) einen Vorsprung von etwas über 10 Prozent, was dem Amtsinhaber hauchdünn den Sieg im ersten Wahlgang garantieren würde.

Kritisch äußerte sich hierzu auch die EU:

„Die unerwartete Unterbrechung der elektronischen Auszählung der Wahlen in Bolivien hat ernste Zweifel geweckt, die unmittelbar und vollständig aufgeklärt werden müssen. Es wird von den bolivianischen Behörden, und insbesondere vom obersten Wahlgericht erwartet, dass maximale Transparenz bei der Auszählung der Stimmen, der Registrierung und Berechnung der Wählergebnisse gesichert wird.“

Die NGO Human Rights Watch forderte am Dienstag die OAS zu einer Sondersitzung der Außenminister und zur Anwendung der Interamerikanischen Demokratiecharta auf. Der ständige Rat der OAS wird am Mittwoch in Washington zu der geforderten Sondersitzung zusammentreten, um über die Situation in Bolivien zu beraten.

Auch die bolivianischen Bischöfe beklagten Wahlfälschungen, der Bischof von Potosí, Ricardo Centellas sagte in Rom:

„Es gibt klare Anzeichen für Wahlbetrug […] wir rufen dringend dazu auf, dass die Wahl und der Ruf des Volkes nach Demokratie respektiert wird. Hoffentlich wird es einen zweiten Wahlgang geben.“

Einer Einladung in den Präsidentenpalast blieben am Dienstag die Botschafter der EU-Staaten, der OEA, Kanadas, Argentiniens, Brasiliens sowie der USA demonstrativ fern. Stattdessen fand ein Treffen zwischen Oppositionsführer Mesa und den EU-Botschaftern statt.

Proteste und Ausschreitungen

Bereits vor der Publikation der neuen Ergebnisse durch das OEP am Montagabend hatten Zweifel innerhalb der Opposition geherrscht. Der CC installierte Mahnwachen vor den Wahlbehörden aller Departements, ihr Kandidat Mesa rief seine Partei und Organisationen der Zivilgesellschaft dazu auf

„in allen Wahlbehörden mit der Macht der Vielen präsent zu sein um zu verhindern, dass sich der 21F wiederholt“.

Diese „Beobachter“ sollten bis zum Vorliegen des Endergebnisses vor den Wahlbehörden verbleiben.

Die Publikation der neuen Ergebnisse durch das OEP am Montagabend veränderte jedoch die Situation von einer friedlichen Überwachung und Sicherung der Ergebnisse hin zu aufgebrachtem Protest. Landesweit protestierten in allen Departements Tausende vor den regionalen Wahlbehörden , Oppositionskandidat Mesa sprach von einem „skandalösen Wahlbetrug“.

Anhänger der Opposition sahen sich der Polizei und Demonstranten der Regierungspartei gegenüber. In La Paz versammelten sich die Demonstranten vor dem Auszählungszentrum des OEP. Bis spät in die Nacht wurde massiv Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt. Waldo Albarracín, Rektor der wichtigsten Universität des Landes und bedeutende Figur der Opposition, wurde dabei verletzt.

In Cochabamba, Potosí, Chuquisaca, Tarija und Pando stürmten gewalttätige Demonstranten die regionalen Wahlbehörden und andere staatliche Einrichtungen. In Santa Cruz wurde zum Generalstreik aufgerufen. In Oruro steckten Demonstranten den Sitz der Regierungspartei in Brand. In Beni stürzten Demonstranten eine von Morales gestiftete Statue von Hugo Chavez vom Sockel. In Chuquisaca trat die Vorsitzende des Regionalen Wahlgerichts zurück. In Sucre und Potosí solidarisierte sich die Polizei mit den Demonstranten. Der Polizeichef von Potosí wurde daraufhin abgesetzt. In diesem Departement, das seit Monaten ein Hotspot der Opposition gegen die Regierung war, hatte der MAS nach Absprachen mit den Bergbau-gewerkschaften und neuvergebenen Konzessionen souverän gewonnen.

Am Abend des 22. Oktober schließlich trat mit Antonio Costas der für die technischen Aspekte der Wahl zuständige Vorstand des OEP aus Protest gegen den Stopp der Schnellauszählung zurück, der „den Wahlprozess entwertet und unnötige soziale Unruhen verursacht“ habe.

Soziale Proteste haben in Bolivien sonst oft regionalen Charakter. Beobachter sind sich einig, dass die jetzigen Demonstrationen und Ausschreitungen die flächendeckendsten seit dem Amtsantritt Evo Morales 2006 sind.

Situation am Dienstag

Zwei Tage nach der Wahl ist die Situation in Bolivien unübersichtlich. Noch immer wartet Bolivien auf das offizielle Endergebnis. Die Auszählung läuft noch immer (Stand: Dienstag, 22. Oktober, 22.10 Uhr, La Paz). Amtsinhaber Morales kann demnach mit 45,9 Prozent der Stimmen rechnen, Herausforderer Mesa mit 37,5 Prozent, bei einem Auszählungsstand von 95,8 Prozent der Stimmen.

Dieses Ergebnis würde – wie auch schon die erste Schnellauszählung – eindeutig eine Stichwahl bedingen. Diese Option hat Staatschef Morales jedoch vor und nach der Wahl mehrfach öffentlich und kategorisch ausgeschlossen. Es bleibt in dieser Situation der Unsicherheit abzuwarten, was genau diese Ankündigung politisch bedeutet und wie intensiv der Protest der Opposition gegen die kommunizierten Wahlergebnisse fortgesetzt wird.

Für die nächsten Stunden und Tage sind in allen Provinzhauptstädten neue Versammlungen und Proteste der Opposition angekündigt.

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Kontakt

Dr. Christina Stolte

Portrait Christina Stolte

Leiterin des Auslandsbüros in Bolivien und des Regionalprogramms PPI

christina.stolte@kas.de +591 22775254

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