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Was heißt Anarchismus?

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Der Anarchismus (von altgriech. anarchia, Herrschaftslosigkeit) teilt mit dem Kommunismus die radikale Absage an alle bestehenden oder herkömmlichen Herrschaftsformen und entwirft stattdessen eine utopische Idealgesellschaft der Zukunft, in der Individuen und soziale Gruppen losgelöst von allen gesellschaftlichen Zwängen leben können (herrschaftsfreie Gesellschaft). Im Gegensatz zum Kommunismus ist der Anarchismus jedoch durch eine gewisse Organisations- und Theoriescheu gekennzeichnet. Am ehesten kann man nach der Stellung des Individuums in der Gesellschaft ein gewisses Spektrum anarchistischer Positionen bestimmen. Es reicht vom „Anarcho-Liberalismus“ bis zum „Anarcho-Kommunismus“.

Der Anarcho-Liberalismus oder individualistische Anarchismus neigt dazu, die Autonomie des Einzelnen mehr oder weniger grenzenlos auszulegen. Die Anhänger bewundern den deutschen Anarchisten Max Stirner mit seinem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ (1845) und lehnen eine von den Kommunisten geforderte generelle Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ab, weil dies die freie Wahl der Erwerbsformen beschneide. Im nordamerikanischen Anarchismus (Benjamin R. Tucker) findet man gleichzeitig die besondere Wertschätzung des Wettbewerbs als Mittel der Leistungssteigerung und Effizienzkontrolle.

Während der individualistische Anarchismus nur von einer Minderheit vertreten wird, hat der – am anderen Ende der Skala einzuordnende - kollektivistische Anarchismus weit stärkere Verbreitung gefunden. Als einer seiner Klassiker gilt der russische Adelige Fürst Peter Kropotkin, für den Anarchismus und Kommunismus eine Einheit bilden, sofern unter Kommunismus die Art der wirtschaftlichen Konsumption und Produktion verstanden wird (siehe auch Was ist Kommunismus?). Kropotkin idealisierte die Lebensweise der sibirischen Siedler am Amur, deren Existenz auf gemeinsamer Arbeit und gegenseitiger Hilfe gründete. Die Agrarkommune bildete in seinen Augen die Urzelle einer anarchistischen Zukunftsgesellschaft.

Die Bedeutung des Individuums ist im Anarchismus eng mit der Organisationsfrage verknüpft. Während „Individual-Anarchisten“ für eine Vielzahl freiwilliger Zusammenschlüsse plädieren, setzt der kollektivistische Anarchismus die Vergesellschaftung der Produktionsmittel voraus und beschneidet individuelle Wahlmöglichkeiten. Zwischen beiden Extremen gibt es allerdings eine Fülle vermittelnder Positionen. Pierre-Joseph Proudhons (1809–1869) Konzeption etwa hatte noch die Existenz selbständiger Handwerker und kleiner Gewerbetreibender vorgesehen. Das System der „Mutualisten“ (franz. für Gegenseitigkeit), wie es seine Anhänger später nannten, beruht auf der gegenseitigen Hilfe kleiner dezentraler Lebens- und Arbeitsgemeinschaften. Auf spezifische Bedürfnisse und Interessen abgestimmte Verträge sollen nach dem Absterben des Staates an die Stelle der Gesetze treten. Proudhons Überzeugung von der Verderblichkeit der Geld- und Zinswirtschaft teilten viele Anarchisten. Würde die Geldwirtschaft beseitigt, so hoffte man, könne man auch die angestrebte soziale Gleichheit erreichen.

Eine zentrale Frage anarchistischer Theorie betrifft den Einsatz von Gewalt als Mittel zum Aufbau einer neuen Gesellschaft (siehe auch Wie stehen Linksextremisten zur Gewalt als Mittel der Politik?). Keineswegs alle Anarchisten billigten eine terroristische Praxis. Der feste Glaube an die Realisierbarkeit einer herrschaftslosen Ordnung führte andere jedoch zur Rechtfertigung des politischen Terrorismus. Die erste „Blütezeit der Anarchie“, wie einer der frühen Historiker des Anarchismus, Max Nettlau, die Jahre 1886 bis 1894 nannte, fiel mit der Hochphase des Anarchoterrorismus zusammen. Zahlreiche gekrönte Häupter, Minister, Staatsanwälte, Richter, Polizeikommissare wurden Opfer des Terrors. 1894 deponierte der Anarchist Émile Henry eine Bombe in einem Pariser Café und verursachte ein Blutbad. Später erklärte er, es sei seine Absicht gewesen, eine möglichst große Zahl von Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht zu töten. Geistiger Hintergrund der Terrorwelle war die von führenden Anarchisten wie Michael Bakunin (1814–1876) und Peter Kropotkin (1842–1921) verfochtene „Propaganda der Tat“. Das Handeln entschlossener Minderheiten sollte den revolutionären Geist der Massen entfesseln, ein Gefühl von Unabhängigkeit und Wagemut entstehen lassen, aus dem heraus eine Revolution entstünde. Bei zahlreichen anarchistischen Gruppen in Europa wirkten diese Worte wie ein Plädoyer für den politischen Terrorismus, auch wenn Kropotkin selbst – im Gegensatz zu anderen wie Bakunin oder Sergej Netschajew (1847–1882) – das Spektrum der „Propaganda der Tat“ nicht weiter präzisierte. Kropotkin distanzierte sich bald grundsätzlich von terroristischer Praxis und trug damit auch bei anderen Gesinnungsgenossen zu einer Umkehr bei.

Einen ganz anderen Weg revolutionärer Umgestaltung schlug der Anarcho-Syndikalismus ein. Führende Anarchisten hatten in den 1890er Jahren die Möglichkeiten erkannt, die eine Mitwirkung in der sich entwickelnden Gewerkschaftsbewegung bot. Umgekehrt wuchs in den betont revolutionär gesinnten Teilen der Gewerkschaften die Sympathie für die Anarchisten, die selbst eine strategische Mitwirkung in Parteien oder Parlamenten ablehnten. Die neue Gesellschaft sollte aus den Organisationen der Arbeiter hervorgehen. In Deutschland gewann der Anarcho-Syndikalismus nur in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eine größere Anhängerschaft. Viele Anarchisten lehnten den Anarcho-Syndikalismus aus Organisationsscheu ab.

Eine gewisse Renaissance erlebte der Anarchismus mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre – in neuen Kombinationen. Propagiert wurde vielfach das „Primat der Praxis“. Einen interessanten Fall stellte die Berliner Terrorgruppe „Bewegung 2. Juni“ dar, die u.a. durch die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz Ende Februar 1975 bekannt wurde (siehe auch Führt Linksextremismus zu Terrorismus?). Im Inneren lehnte die Gruppe „Spezialistentum“ und „Autoritätsstrukturen“ im Gegensatz zur zeitgleich aktiven Roten-Armee-Fraktion (RAF) ab. Ihre revolutionäre Strategie trug gewisse anarchistische Züge: Die Arbeit an der „Basis“ sollte mit spektakulären Aktionen kombiniert werden. Auf der einen Seite wollte man propagandistisch mit Flugblättern, Demonstrationen, Aufklebern etc. in der Öffentlichkeit wirken, auf der anderen Seite waren konspirative Zellen vorgesehen, die „Massenaktionen“ hinter den Kulissen provozieren und unterstützen sollten. Das für den älteren Anarchismus typische Vertrauen in die unmittelbar revolutionsauslösende Wirkung der Taten schien den Aktivisten der Bewegung 2. Juni allerdings abzugehen. Als Vorbilder der Gruppe dienten u.a. die französische „Gauche Prolétarienne“ und die italienische „Lotta Continua“, und ihr nahe verwandt ist eine dritte Struktur des deutschen Linksterrorismus, die Revolutionären Zellen (RZ).

Das Ende des „real existierenden Sozialismus“ hat linksextreme Strömungen begünstigt, die es stets abgelehnt hatten, sich an einer reinen Lehre auszurichten. Die anarchistische Skepsis gegenüber zentralisierten Organisationsstrukturen lebt in der Szene der Autonomen fort (siehe auch Die Welt der Autonomen). Sie ist schon wegen ihrer Theoriescheu nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Das in der Szene verbreitete Lebensgefühl spiegelt sich neuerdings in dem Pamphlet „Der kommende Aufstand“ eines „unsichtbaren Komitees“ aus Frankreich, das, ins Deutsche übersetzt, in hiesigen Internet-Foren kursierte und eine hohe Leserzahl erreichte. Die Verfasser begnügten sich nicht mit der Anprangerung schlechter Verhältnisse, sondern erörterten – so die Herausgeber – „konkrete Schritte zu ihrer Aufhebung“. U.a. wird vorgeschlagen, Krisen und Katastrophen zur Anstachelung zum Aufruhr zu nutzen, sich zu organisieren, aber weder geschlossene Zellen zu bilden noch geschwätzige Vollversammlungen einzuberufen; sich zu bewaffnen, aber möglichst keinen Gebrauch von den Waffen zu machen. Wenn die Situation reif sei, falle die Macht wie ein Apfel in die Hand der „Kommunen“.

– Uwe Backes

 

Lesetipps

  • James Joll, Die Anarchisten, Frankfurt a.M. 1971.
  • Peter Lösche, Anarchismus, 2. Aufl., Darmstadt 1987.

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Felix Neumann

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