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1870-1918: Die Entstehungsphase christlicher Parteien

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Gründung des Zentrums

Die wichtigste der christlichen Parteien im Kaiserreich war die 1870/71 gegründete Deutsche Zentrumspartei. Allgemeine Ursachen ihres Entstehens lagen in dem sich ausbreitenden antikirchlichen, liberalen Zeitgeist, in den die Katholiken benachteiligenden Staatskirchenrechten des Deutschen Bundes sowie in der Auflösung dieses Staatsgebildes durch den preußisch-österreichischen Krieg (1866), der die Weichen für ein mehrheitlich protestantisches, von Preußen beherrschtes kleindeutsches Reich stellte. In dem wegen seiner vorhersehbaren Minderheitsposition beunruhigten katholischen Bevölkerungsteil regte sich eine Vereinsbewegung (z.B. Volksvereine in Köln und Breslau). Die Teilnehmer der Soester Konferenzen (1864–1866) rangen um ein Programm für die seit dem Untergang der Katholischen Fraktion von 1852 (1852: 64 Abgeordnete, 1858: 57 Abgeordnete, 1866: 15 Abgeordnete) einer politischen Vertretung beraubten Katholiken. Hier bekannte sich der preußische Regierungsrat Hermann von Mallinckrodt zum Prinzip der Parität, nach welchem das Verhältnis zwischen den Konfessionen, aber auch zwischen den im Zuge der Industrialisierung neu entstehenden gesellschaftlichen Klassen, zwischen dem östlichen und westlichen Teil der preußischen Monarchie sowie den deutschen Staaten und Stämmen zu regeln sei.

 

Im Parlament

Die Fraktionen des Zentrums traten dann erstmals im Preußischen Abgeordnetenhaus (Dezember 1870: 50 von 432 Abgeordneten) sowie im neuen Deutschen Reichstag (März 1871: 59 Abgeordnete) zusammen. Angesichts der Umbruchphase begnügten sie sich mit lakonisch kurzen Programmen, die allerdings im Lichte der vorangegangenen, teils viel ausführlicheren Programmentwürfe (von Soest, Essen, Ahlen, Münster) und Wahlaufrufe interpretiert werden müssen. Die Reichstagsfraktion bekannte sich zur Gerechtigkeit als Grundlage jeder Regierung, zur Wahrung des föderativen Charakters der Reichsverfassung, zur Förderung des moralischen und materiellen Wohls aller Volksklassen, zu verfassungsmäßigen Garantien zwecks Erhaltung der bürgerlichen und religiösen Freiheit und zu dem vor „Eingriffen der Gesetzgebung“ zu schützenden „Recht der Religions-Gesellschaften“.

Die Entscheidung der katholischen Parlamentarier, unter ihnen Mallinckrodt, Peter Franz Reichensperger, Ludwig Windthorst und Karl Friedrich von Savigny, für den politischen Charakter des Zentrums, das weder die Vereinzelung der Katholiken durch deren Aufteilung auf die verschiedenen Fraktionen zulassen, noch eine rein katholisch-konfessionelle Partei sein wollte, kam in dessen grundsatz- und gesellschaftspolitischer Orientierung sowie in der konfessionsneutralen Formulierung der Forderung nach Religionsfreiheit zum Ausdruck.

 

Im Kulturkampf

Die Gründer gedachten damit offenbar dem gemischtkonfessionellen Charakter der zu zwei Dritteln protestantischen Bevölkerung des neuen Staates Rechnung zu tragen. Doch Bismarck entfesselte den Kulturkampf. Er erklärte das Zentrum nach der Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas durch das I. Vatikanische Konzil zur Gefahr für das neue Reich, weil es von einem fremden Staatsoberhaupt, dem Papst, abhängig sei. Er wollte die liberalen Parteien, deren antiklerikale Stimmung ausnutzend, für seine Politik gewinnen und den Unsicherheitsfaktor einer potentiellen Volkspartei ausschalten. Statt in die Breite zu wachsen, verankerte sich das Zentrum konfessionell in der Tiefe der kirchlich gesinnten Bevölkerung der katholischen Gebiete (Rheinland, Westfalen, Baden, Oberschlesien, Bayern). Die Strafverfolgung von Priestern und Laien, die Ausweisung der Jesuiten und anderer Orden, die Behinderung der Seelsorge, die Sperrung der Gehälter für Kirchendiener, die Drangsalierung der Bischöfe brachten zwar die katholische Kirche zumal Preußens in große Bedrängnis, bewirkten aber auch den von Bismarck und den Nationalliberalen nicht vorausgesehenen Zusammenschluss der Zentrumswählerschaft und ihre Solidarisierung mit der verfolgten Kirche (1881: 100 Abgeordnete; 1871: 724.200, 1878: 1.328.000 Wählerstimmen). Die katholische Presse wuchs sprunghaft an, die katholischen Parlamentarier, an der Spitze Windthorst, gewannen Popularität.

Gipfelnd in dem 1890 gegründeten Volksverein für das katholische Deutschland, erreichte der politische Katholizismus seine typische Fundierung im gesellschaftlichen Vorfeld der Politik, besonders in einem breit gestaffelten und gut organisierten Vereins- und Verbandswesen. Windthorst nutzte die Bühnen des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags zur parlamentarischen Opposition gegen Bismarck. Mit den kirchlichen und religiösen Rechten jeder christlichen Konfession sowie der Juden verteidigte er zugleich die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte. Für politische Zugeständnisse verlangte er den Abbau des Kulturkampfes und nutzte das Parlament als Kontrollinstanz der in obrigkeitlichen Bahnen verlaufenden Regierungsarbeit.

 

Zusammenarbeit

Überraschend unterstützte das Zentrum, um sich aus der Isolation zu befreien, 1878 Bismarcks Schutzzollpolitik. 1877 setzte Ferdinand von Galen dem gründerzeitlichen Wirtschaftsliberalismus das umfassende Bild einer sozial befriedeten Gesellschaft entgegen. Durch Mitarbeit an der Kranken- (1883), der Unfall- (1884), der Invaliditäts- und Altersversicherung (1889) für die Arbeiter begab sich das Zentrum allerdings auf den Boden einer die industrielle Wirtschaftsordnung akzeptierenden, die genossenschaftliche Selbsthilfe mit dem normativen Staatseingriff verbindenden Wirtschaftspolitik. 1887 führte Bismarck die „Kartellparteien“, d.h. die Liberalen und Konservativen, gegen das Zentrum zusammen, um Druck für die Annahme des siebenjährigen Militäretats (Septennat) auszuüben. Als Papst Leo XIII. zur Versöhnungspolitik gegenüber Bismarck riet, reagierten einige Parteiführer mit dem Entschluss zur Trennung zwischen kirchlichen und politischen Angelegenheiten; nur in ersteren sei man zum Gehorsam gegen den Papst angehalten (Georg Arbogast von und zu Franckenstein).

Mit der Billigung der Militärvorlage Caprivis von 1893, für die sich Karl Freiherr von Huene, Franz Graf von Ballestrem, Felix Porsch und die polnischen Abgeordneten, insgesamt nur eine kleine Minderheit, einsetzten, begab sich das Zentrum auf den Kurs einer konditionierten Zustimmung zur Militär-, schließlich auch zur Flotten- und Kolonialpolitik des Reiches. Der demokratisch und national eingestellte Zentrumsführer Dr. Ernst Maria Lieber suchte die Position der „ausschlaggebenden Partei“ (Karl Bachem) zu gewinnen. Dazu trug auch sein mehr konservativ denkender Konkurrent Franz von Ballestrem bei, der das Reichstagspräsidium von 1898 bis 1906 innehatte und souverän handhabte. Nochmals führte Reichskanzler Bernhard von Bülow 1907 bei den „Hottentottenwahlen“ die nationale Kulturkampfkoalition der „Kartellparteien“ gegen das angeblich kolonialpolitisch und national unzuverlässige Zentrum ins Feld. Kurz darauf fanden sich (bis 1914) das Zentrum und die Konservativen in kulturpolitischen Fragen zusammen und waren sich in der Ablehnung der Sozialdemokraten im Prinzip einig, obwohl das Zentrum sich vom Etatismus der Konservativen fernhielt.

Im Weltkrieg, der die weitere Entfaltung aller Parteien hemmte, litt die Zentrumspresse unter der Zensur, bejahte indes teils energisch die deutschen Kriegsanstrengungen und begriff die „Einkreisung“ Deutschlands als Störung der moralischen Weltordnung. Der rührige Abgeordnete Matthias Erzberger bewog das Zentrum zur Beteiligung an der Friedensresolution (19. Juli 1917) gegen einen Annexionsfrieden und an der diese stützenden Reichstagsmehrheit des Interfraktionellen Ausschusses aus SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei. Ohne formale Verfassungsänderung wurde der Zentrumsparlamentarier Georg Graf von Hertling 1. November 1917 im Einverständnis mit dem Reichstag zum Kanzler bestellt; er war aber nicht willens, eine Wandlung zum parlamentarischen System mitzutragen, in dem die SPD als inzwischen stärkste Partei die Hauptrolle gespielt hätte.

 

Wähler, Mitglieder, Anhänger

Die Verankerung im katholischen Milieu, die relative Unabhängigkeit von allen politischen Richtungen sowie das sich in katholischen Regionen günstig auswirkende Mehrheitswahlrecht bildeten Hauptfaktoren für die Stabilität des Zentrums. Dessen Stimmanteil stieg von 18,6% im Jahre 1871 auf 27,9% im Jahre 1874, stabilisierte sich zwischen 1893 und 1907 bei durchschnittlich 19,2% und sank 1912 auf 16,4%. Der Stimmenanteil in der katholischen Bevölkerung ging langsam, aber beständig (1912 ca. 60%) zurück. Die die Großstädte benachteiligende Wahlkreiseinteilung begünstigte den agrarisch-konservativen Flügel des Zentrums.

Überhaupt litt der legendäre „Zentrumsturm“ unter vielen tektonischen Spannungen. Konservative (Carl von Fechenbach) und „Integralisten“ (Albert Maria Weiß O.P., Hermann Roeren, Franz Bitter) befürworteten, z.B. auf der Osterdienstagskonferenz vom 14. April 1909, den Wandel zu einer mehr katholischen Politik bzw. zu einer an der katholischen Weltanschauung auszurichtenden Politik, während die Mehrheit, repräsentiert durch Karl und Julius Bachem (Köln), den politischen, allerdings auf christlicher Grundlage beruhenden Charakter der Partei hervorhob, schon um die immer wieder aufflackernden Vorwürfe des Konfessionalismus und der dadurch gegebenen politischen Untauglichkeit aus den Reihen der Gegner zu entkräften. Der Kampf zwischen der Berlin-Trierer und der Kölner Richtung, ob den interkonfessionell zusammengesetzten christlichen Gewerkschaften (1895/99) oder rein katholischen Fachabteilungen bzw. Arbeitervereinen der Vorzug zu geben sei, spaltete sogar den deutschen Episkopat. Erst 1912 sprach Papst Pius X. die Duldung der christlichen Gewerkschaften aus. Auch während des Ersten Weltkriegs konnte Adam Stegerwald seine Planungen, das Zentrum zu einer mehr demokratischen, staatstragenden, auf breiteren Arbeiter- und Angestelltenschichten beruhenden Partei – in Konkurrenz zur SPD – umzubauen, nicht verwirklichen.

Den großen Anteil des Honoratiorenelements an der Führung belegt die lange Reihe adliger Vorsitzender der Reichstagsfraktion, vom fränkischen Freiherrn Georg Arbogast von und zu Franckenstein (bis 1890), über den oberschlesischen Magnaten Ballestrem (1890–1893), Alfred Graf von Hompesch (1893–1909) und Prof. Georg Freiherrn von Hertling (1909–1912) bis zu den Juristen Peter Spahn (1912–1917) aus dem Rheingau und Adolf Gröber (1917–1919) aus Württemberg.

 

Das weitere Spektrum christlich geprägter Parteien

Das Zentrum war föderalistisch organisiert. Die 1869 aus eigenen Bedingungen (Schulkonflikt, Gegensatz zu Preußen) entstandene Bayerische Patriotenpartei hieß ab 1887 Bayerisches Zentrum. 1908 schlossen sich die Landesorganisationen des Zentrums in Preußen, erst 1914 auf Reichsebene zusammen. Gegenüber der bundesstaatlich-monarchischen Orientierung der Zentrumsführung vertrat der etwas wetterwendische „Populist“ Matthias Erzberger für seine Partei eine mehr einheitsstaatlich-parlamentarische Entwicklungsperspektive. Im September 1918 plädierte er – zu spät – für einen Völkerbund und eine internationale Verständigung. Diesen zuvor vernachlässigten Prinzipien christlich inspirierter Außenpolitik hatte der Publizist Joseph Edmund Jörg in den „Historisch-Politischen Blättern“ von 1852 bis 1901 ein Sprachrohr geliehen. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Ordnung vertrat das Zentrum den Ausgleich der Interessen, wie es auch intern eine gleichgewichtige Vertretung der in ihm repräsentierten Regionen und Berufsgruppen erstrebte. Sein insoweit pluralistischer Gesellschaftsbegriff war an der Wertvorstellung der durch den Glauben vermittelten Gerechtigkeit orientiert und insofern weder nationalistisch noch konservativ oder sozialrevolutionär zu nennen.

Die Bismarcks nationalen und liberalen Kurs ablehnenden evangelischen preußischen Altkonservativen (mit Stützpunkten in Ravensberg, Pommern undin der Neumark) traten 1872 bis 1876 in offenen Widerstand gegen das Schulaufsichtsgesetz des Kulturkampfs, gegen die von Rudolf Delbrück und anderen betriebene liberale Wirtschaftspolitik und die Auswüchse der „Gründerjahre“. Ihr Anführer Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877) – 1848 Mitgründer der konservativen „Kreuzzeitung“, seit 1849 Abgeordneter in Preußen, 1873 Hospitant der Zentrumsfraktion – war 1868 mit dem reformierten niederländischen Historiker und Publizisten Guillaume Groen van Prinsterer, der seinerseits von Carl Ludwig von Haller und Friedrich Julius Stahl beeinflusst worden war, in Gedankenaustausch getreten. Mit diesem Gründer der Antirevolutionären Partei in den Niederlanden teilten Gerlach und seine Freunde das Eintreten für die christliche Schule und Ehe, für das Elternrecht und für eine möglichst unabhängige Stellung der vom Liberalismus als Erben der Revolution beeinträchtigten Kirchen. Die Differenzen mit Bismarck bescherten Gerlach den Abschied vom Amt des Oberlandesgerichts-Präsidenten von Magdeburg und dem auf ihn folgenden Führer der christlich-konservativen Gruppe, Wilhelm von Hammerstein, die öffentlich bekundete Ungnade des Reichskanzlers. Dieser sah sich allerdings seit 1878 zum Einlenken genötigt, um parlamentarische Unterstützung für seinen Übergang zur Politik des Schutzzolls und der Sicherung wirtschaftlicher Interessen zu erhalten. Diesen Erwartungen kam die Deutschkonservative Partei entgegen. Sie forderte in ihrem Gründungsaufruf von 1876 und ausführlicher im Tivoli-Programm von 1892 „eine geordnete wirtschaftliche Freiheit“ und den Schutz der Interessen der Landwirtschaft, des Handwerks und der Industrie. Außerdem legte sie Gewicht auf die monarchischen Grundlagen des Staates, bevorzugte eine organische, vom geschichtlich Gegebenen ausgehende politische und soziale Entwicklung sowie die Selbstverwaltung der Provinzen, Kreise, Gemeinden und „natürlichen Gruppen“. Anders als das Zentrum forderten die Deutschkonservativen mit anti-römischem Zungenschlag allerdings für den Staat das Recht, sein Verhältnis zur Kirche nach seinem souveränen Ermessen zu gestalten, obwohl Kirche wie Staat ihnen als „von Gott verordnete Einrichtungen“ galten (1892). Hammerstein, der Berliner Hof- und Domprediger (seit 1874), Adolf Stoecker (1835–1909) und Anhänger der einflussreichen „Kreuzzeitung“ (10.000 Auflage 1887–1890), konzentriert in den Berliner Bürgervereinen und in den ländlichen konservativen Vereinen, bildeten eine sozialreformerisch eingestellte Dissidentengruppe neben der sich Bismarcks Kartellpolitik anbequemenden Führung der Deutschkonservativen um den Freiherrn Otto Heinrich von Helldorff-Bedra. In diesem Kreis verstärkte sich das Streben nach einer Gesellschaftsreform auf christlicher Grundlage und rief erste Ansätze einer christlich-konservativen Parteibildung von Protestanten und Katholiken im Zeichen sozialreformerischer Interkonfessionalität hervor. Teils im Gegensatz zu den Alt- und den Deutschkonservativen hielten die Freikonservative und Deutsche Reichs-Partei (von 1867) unumwunden zu Bismarck. 1911 entstand die Bayerische Reichspartei unter dem evangelischen Münchner Bankier Wilhelm Freiherr von Pechmann. Diese monarchisch, national und anti-sozialdemokratisch ausgerichtete Splitterpartei (mit unbedeutenden Ablegern in Baden, Württemberg und Hessen) bekannte sich zum Wert der Religion und unterstützte das Ministerium Hertling (1912) und das Bayerische Zentrum in deren Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus, der SPD und dem Bayerischen Bauernbund. Die Konservative (seit 1872) bzw. Deutschkonservative Partei in Bayern (seit 1876) tendierte, obwohl protestantisch fundiert, zu einem gewissen Interkonfessionalismus, erstens in Gestalt gemeinsamer Abwehr irreligiöser, kulturkämpferischer Tendenzen, zweitens im Bestreben nach Zusammenführung sozial-reformerischer Kräfte im Katholizismus und Protestantismus (Friedrich Carl von Fechenbachs Social-conservative Vereinigung 1881–1885).

Adolf Stoecker erkor die Sozialreform zum Hauptziel seiner am 3. Januar 1878 in Berlin gegründeten Christlich-sozialen Arbeiterpartei. Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten und im Einklang mit dem konservativen Weltbild erwartete Stoecker die Besserung der Lage des Arbeiterstandes und der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht von einer äußeren Zuständereform, sondern von einer grundlegenden Gesinnungsänderung. Seine (wenig originellen) sozialen Forderungen, z.B. korporative Selbsthilfe der Arbeiter und Arbeiterschutz, waren daher aufs engste mit dem Bestreben nach Rechristianisierung der evangelischen Arbeiter verknüpft, die zumal in den Großstädten längst die Verbindung zu ihrer Kirche verloren hatten. Die Partei gewann bei den Reichstagswahlen von 1878 nur 1.422 Stimmen. Stoecker benannte sie 1881 in Christlichsoziale Partei um und führte sie als eigene Gruppe den Deutschkonservativen zu. Durch „soziale Reform auf christlicher Grundlage“ wollte er die „soziale Revolution“ überwinden. Er richtete seine Bewegung nun interessenpolitisch auf den vom Großkapitalismus bedrohten Mittelstand aus und vertrat in diesem Rahmen einen bedauernswerten Wirtschaftsantisemitismus mit schlimmen Ausfällen gegen den angeblichen jüdischen Geist des Mammons und der gesellschaftlichen Zersetzung. Anhang gewann Stoecker in den laienprotestantischen Gemeinschaftsbewegungen des Siegerlands und Minden-Ravensbergs; er baute Verbindungen zu evangelischen Arbeiterbewegungen und zum Evangelischen Bund auf. Sein Kirchenbegriff blieb, wie sich auch in der Abspaltung von den Liberalen um Friedrich Naumann und Adolf Harnack sowie bei Gründung seiner Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz 1897 zeigte, hierarchisch, orthodox und auf das Volk ausgerichtet. Die Tendenz zur Identifizierung mit dem evangelischen Kaisertum und der Nation stand einer Annäherung an den politischen Katholizismus, zu dem Stoecker vielmehr bewusst in Konkurrenz trat, sehr entgegen.

Die wohl bedeutendste unter den zeitweise mit dem Zentrum und der Bayerischen Patriotenpartei zusammengehenden, christlichem Gedankengut aufgeschlossenen Regionalparteien war die aus dem Hannoverschen Wahlverein von 1869 hervorgegangene Deutsch-Hannoversche Partei. Mit ihrer zumeist adligen Führung war sie ganz überwiegend im Bauern- und Handwerkerstand der preußischen Provinz Hannover verankert. Die Opposition gegen die Annexion des Königreichs Hannover wachhaltend, vertrat sie programmatisch den Föderalismus als „allgemeines gesellschaftliches Gestaltungsprinzip“ (Hans-Georg Aschoff) und den gegen die Machtausweitung des Staates gerichteten Subsidiaritätsgedanken. Die Partei ging aufgrund gemeinsamer Grundüberzeugungen die – auch von dem früheren hannoverschen Minister Windthorst geförderte – welfisch-katholische Koalition mit dem Zentrum ein. Ihre Abgeordneten traten als Hospitanten dem Zentrum bei, vermieden aber den Anschluss, weil sie auf ihre protestantische Wählerschaft und den ungebrochenen Regionalpatriotismus Rücksicht nehmen mussten: Welfen und Zentrum/Hannover stellten 1871 acht, 1878 elf, 1890 zwölf und 1912 sechs Abgeordnete mit Stimmanteilen zwischen 46,4% (1881) und 19,9% (1912) ihrer Provinz; das waren ca. 1% der wahlberechtigten Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs. Seit 1890 am „Antikartell“ gegen Nationalliberale und Konservative mitwirkend, gerieten die Welfen in Meinungsverschiedenheiten mit dem Zentrum wegen dessen zunehmend „regierungstragender“ Rolle und suchten sich 1893 mit anderen föderalistischen Gruppen in Kurhessen, Mecklenburg und Braunschweig zu vereinigen (Deutsche Rechtspartei). 1903 stellten das Zentrum und die Welfen in fünf Wahlkreisen getrennt Kandidaten auf, 1912 zogen sich die welfischen Hospitanten vom Zentrum zurück. Das sah die Berliner Zentrumsleitung ungern, galt ihr doch die Zusammenarbeit mit den Welfen als wichtiger Schritt auf dem Weg zur überkonfessionellen Parteibildung. Ludwig August Bruels Trinkspruch von 1873 „auf die künftige evangelische Mehrheit des Zentrums“ ging so nicht in Erfüllung. Im Weltkrieg unterstützten die Welfen die gemäßigte Politik des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und setzten sich auch nach dessen Sturz für einen Verständigungsfrieden ein.

Als „Partikularisten“ galten (in der Reichsstatistik bis 1881) neben den Welfen die katholisch votierenden Elsässer. Die Übertragung des Kulturkampfs in das zu zwei Dritteln katholische Reichsland Elsass-Lothringen (1871 1,5; 1910 1,83 Mio. Einwohner) beeinträchtigte das vom Klerus heftig verteidigte katholisch-konfessionelle Schulwesen einschließlich der starken Schulorden und die katholische Presse erheblich. 1874 gingen die Katholiken ein in der Folge abbröckelndes Wahlbündnis mit den republikanischen Protestlern (gegen die Annexion von 1871) ein. Zu einer hohen Mobilisierung der Elsässer, Welfen und Polen kam es anlässlich der Septennatswahlen von 1887 im Elsass: Zeichen eines Protests gegen den Militäretat sowie gegen die Politik der Regierung des Reichslands. Doch entstanden bis etwa 1900 keine Parteien im heutigen Sinne – eine Nachwirkung auch des indirekten französischen Wahlsystems, das bis 1871 und modifiziert für den Landesausschuss galt. Die individualistisch eingestellten Abgeordneten, unter denen der Klerus mit drei bis sieben Parlamentariern (20,0 - 46,7% der Mandatsträger zwischen 1874 und 1912) stark vertreten war, schlossen sich nicht einmal als Hospitanten dem Zentrum in Berlin an. 1892 fasste im Elsass der Volksverein für das katholische Deutschland Fuß, weitere Vereinsgründungen und das Aufblühen der Windthorstbunde folgten. Im Zuge der Ausbildung eines Dreiparteiensystems mit Zentrum, Liberalismus und Sozialdemokraten konstituierte sich am 26. Februar 1903 in Straßburg die Elsass-Lothringische Landespartei (mit Zentrumsprogramm) unter Dr. Pierre/Peter Burguburu. Sie war 1914 mit 18.931 Mitgliedern (gegenüber ca. 6.500 Mitgliedern der Sozialdemokratie) die größte politische Kraft im Reichsland, blieb aber vom Zentrum getrennt; 1902 traten allerdings vier Abgeordnete dessen Reichstagsfraktion bei. Bei den Reichstagswahlen von 1907 votierten vor allem die deutschsprachigen Lothringer für Kandidaten, die in ihrem Wahlprogramm den Beitritt zur deutschen Zentrumsfraktion nicht nur zusagten, sondern dann auch vollzogen. In seinem sozialen, wirtschaftlichen und verfassungspolitischen Programm unterschied sich das nunmehr die Reichszugehörigkeit bejahende elsässische Zentrum wenig von der Liberalen Landespartei von 1903, wohl aber hinsichtlich der positiven Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat, während der Liberalismus und die Sozialdemokraten des Elsass am Antiklerikalismus festhielten.

Die „Wahrung des polnischen Volkstums“ und soziale Forderungen bestimmten das Programm der 1848/49 gegründeten Polnischen Fraktion im Preußischen Abgeordnetenhaus, Kolo Polskie (Polnischer Kreis). Ihre Vertreter protestierten 1867 und 1871 gegen die Einverleibung der ehemals polnischen Landesteile Preußens in den Norddeutschen Bund bzw. in das Deutsche Reich. Während des Kulturkampfs, der sich in den östlichen Regierungsbezirken Preußens gegen Katholizismus und „Polonismus“ zugleich richtete und die polnische Sprache aus den Schulen verdrängte, um den Einfluss des Klerus zu brechen, verbanden die polnischen Abgeordneten die Verteidigung des Nationalitätsprinzips mit der Religionsfreiheit. Die beiden von adligen und geistlichen Würdenträgern geführten Polnischen Fraktionen gingen einen engen Schulterschluss mit dem Zentrum ein; der bewährte sich z.B. im Widerspruch Windthorsts gegen die Ausweisung von insgesamt ca. 30.000 katholischen (20.000) und jüdischen (10.000) Polen aus Preußen 1885/86; während Papst Leo XIII., offenbar um den Kulturkampf abzubauen und auch wegen des Karolinen-Schiedsspruchs („arbiter mundi“), gegenüber dieser Maßnahme eine in Polen kritisierte Zurückhaltung übte. Die numerisch schwachen polnischen Fraktionen im Preußischen Abgeordnetenhaus (1890–1912 12–17 Mandate) und im Reichstag (1890–1912 14–20 Mandate) konnten indes als Zünglein an der Waage den Ausschlag bei Handels-, Haushalts- und Militärgesetzen geben. Reichskanzler Leo von Caprivi leitete von 1890 bis 1894 eine Versöhnungsphase ein: Antipolnische Sprach- und Verwaltungsanordnungen wurden gemildert, der kompromissbereite polnische Propst und Abgeordnete Florian von Stablewski wurde 1892 zum Erzbischof von Gnesen-Posen erhoben. Inzwischen war seit den 1870er Jahren eine vielgestaltige polnische Volksbewegung herangewachsen, die auch Änderungen in der Zusammensetzung der bisher aristokratisch-klerikalen Fraktion erzwang. Insbesondere deren Zustimmung zur Militärvorlage von 1893 rief Protestversammlungen der Wähler in Posen, Bromberg und Inowrozlaw (Hohensalza) hervor, so dass der Flottenbefürworter Josef von Koscielski sein Mandat niederlegte. Seit den 1860er Jahren waren die – im Kulturkampf ihre Muttersprache verteidigenden – Bauernvereine (landwirtschaftliche Genossenschaften) (1880: 120) von Maksymilian Jackowski ins Leben gerufen worden; neben der radikal-demokratisch-nationalen regte sich in den 1880er Jahren eine kirchliche Volksbewegung. 1892 entstanden auf Initiative Stablewskis der auch der Arbeitsvermittlung dienende St.-Isidor-Verein und katholische Arbeitervereine (mit 1913 in Gnesen-Posen 32.000 Mitgliedern) unter geistlicher Leitung. Daneben bildeten sich moderne Gewerkvereine nach deutschem Vorbild. Diese auch katholisch-polnische Arbeitervereine im Ruhrgebiet umfassenden Organisationen wurden 1908 in Kattowitz zusammengefasst. Ihnen wie der sehr starken Beteiligung der Geistlichen am polnischen Genossenschaftswesen lag auch die Berufung auf die in Gnesen-Posen sogleich verbreitete Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891 zugrunde. Diese und andere Volksbewegungen (Sokol-Turner; Straż-Wacht seit 1905) bewirkten auch, dass das Zentralwahlkomitee (in Posen) mehr auf die Wählerbasis ausgerichtet und durch die Provinzialwahlkomitees von Posen, West- und Ostpreußen, Schlesien und Rheinprovinz bzw. Westfalen fundiert wurde. Katholische Geistliche traten als Kandidaten für die Polen und das Zentrum auf, zwischen denen es zu Doppelkandidaturen kam (Oberschlesien 1897 und 1912). Bei der letzten Reichstagswahl von 1912 neigte das Zentrum in Oberschlesien wegen der wachsenden Erfolge der polnischen Agitation zur Zusammenarbeit mit den anderen deutschen Parteien.

 

Fazit

Christliche Parteien übten keinen prägenden Einfluss auf das Kaiserreich aus, vermittelten aber trotz ihrer Verschiedenheit, auch im Hinblick auf demokratische Entwicklungen, doch Grundlegungen und Impulse rechtsstaatlicher und freiheitssichernder Natur, die Antriebe zum ungebremsten Etatismus einschränkten. Sie suchten den Staat zur Gesellschaft hin offenzuhalten. Als wichtigstes Kriterium dafür erschien ihnen das Verhältnis des Staates zur Kirche. Zugleich bewiesen das Zentrum und die Bayerische Patriotenpartei Aufgeschlossenheit gegenüber den sich auf das ethnisch-sprachliche Nationalitätsprinzip oder auf historisch-regionale Eigenart berufenden Minderheiten. Der Föderalismus wurde von vornherein programmatisch beansprucht und im Rahmen des Möglichen auch praktiziert. Die Milieubindung und gesellschaftliche Verankerung waren stark und durch die Konfessionszugehörigkeit gegeben, determinierten aber nicht die in der Fraktion oder Führung getroffenen Entscheidungen. Die konfessionellen und gesellschaftlichen Gräben – etwa zwischen dem Zentrum und den Konservativen – konnten kaum überbrückt werden. Der naturrechtliche Ansatz des Zentrums bedingte eine gewisse Distanz gegenüber dem adlig-bürokratischen Obrigkeitsstaat, dem Nationalismus und dem Sozialismus, wenngleich beim Zentrum, bei den Welfen und Elsässern schließlich die Integrationstendenzen ins Kaiserreich sich vermehrten und unumkehrbar wurden.

 

Winfried Becker

 

Literatur:

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11. Februar 2021
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