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1973-1976: Reformer - Helmut Kohl

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Unter dem Schock der '72er-Wahl, in der sich die SPD als eine in die politische Mitte hinein ausdehnende Volkspartei durchsetzte, nahmen die Identitätszweifel und Existenzprobleme der CDU zu. „Irgendwann in den 60er Jahren“ habe die CDU „die geistige Führung verloren“, stellte Barzel Anfang 1973 selbstkritisch fest. Der neue, auf dem Bonner Parteitag 1973 gewählte CDU-Vorstand mit Helmut Kohl als Vorsitzendem und Kurt Biedenkopf als Generalsekretär signalisierte nicht nur einen politischen Generationswechsel, sondern auch einen Kurswechsel im Sinne des „Modernisierungssyndroms“ der Zeit (R. Wildenmann). Die neue Ära bedeutete eine Gewichtsverschiebung des politischen Führungszentrums von der Bundestagsfraktion zur Bundespartei. Gemäß dem Grundsatz Kohls: „Die Partei erzeugt Bundestagsfraktion und nicht umgekehrt“ wurde die Partei erstmals als Gesamtsystem des politischen Tätigseins der CDU verstanden und organisiert. Dazu gehörte auch die Trennung des Parteivorsitzes vom Fraktionsvorsitz, den Karl Carstens als Nachfolger Barzels übernahm.

Die politische Auseinandersetzung, die sich nach der Ratifizierung der Ostverträge auf das Feld der inneren Reformen verlagerte, erfuhr eine Konzentration auf Schwerpunktthemen und grundsätzliche Entscheidungen (Mitbestimmung, Berufliche Bildung, Reform des § 218, Neue Soziale Frage, „streitbare Demokratie“). Damit begann die „eigentliche Oppositionszeit der CDU“ (W. Schönbohm). Die Folgen der „Ölkrise“-Rezession Mitte der 1970er Jahre mit hoher Inflationsrate (1974/75: 4,5%-5,5%), wachsender Arbeitslosigkeit (1974/75: 5,9%) und sinkendem Bruttosozialprodukt (1975: -3,6%), aber auch der sich bedrohlich steigernde Terrorismus in der Bundesrepublik eröffneten der Opposition neue Angriffsmöglichkeiten. Die Christliche Demokratie übernahm nun mit Erfolg die Rolle des Anwalts für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaftsordnung, für wirtschaftliche Stabilität und rechtsstaatliche Sicherheit. In der von Krisenstimmung und Protesthaltung bewegten Innenpolitik Mitte der 1970er Jahre war es für sie möglich, sich als Wächter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gegen Systemveränderungstendenzen und Konzeptionen einer Sozialismus und Demokratie integrierenden Gesellschaftsordnung zu profilieren. Diese politische Polarisierung, die an den „für die fünfziger Jahre charakteristischen Blockgegensatz“ denken lässt (U. Schmidt), führte im Wahlkampf 1976 zur Formel „Freiheit statt Sozialismus“ (CDU) bzw. „Freiheit oder Sozialismus“ (CSU). Dass damit die schweigende Mehrheit der Bevölkerung angesprochen wurde, indizierte der starke Anstieg der Mitgliederzahlen innerhalb der 7. Wahlperiode um 54% bei der CDU und 35% bei der CSU. Die neugewonnene politische Stärke der Union schlug sich in Rekordergebnissen bei den Landtags- und Kommunalwahlen 1974 bis 1976 nieder (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland). Nur dort, wo die Union wie in Nordrhein-Westfalen die modernisierende Anpassung an den gesellschaftlichen und technologischen Wandel verpasste, wurde sie in die Defensive gedrängt. Auch wirkten sich in wachsendem Maße die Prozesse sozialstruktureller Angleichung der Wählerbasen von Christlicher Demokratie und Sozialdemokratie aus.

In der Bundestagswahl 1976 – mit Kohl als Kanzlerkandidaten – erzielte die Union ein hervorragendes Ergebnis, das nur um ein Prozent unter der zur absoluten Mehrheit reichenden Stimmenzahl blieb (CDU: 38%; CSU: 10,6%). Aber wieder koalierten SPD und FDP gegen die stärkste politische Kraft, die deshalb weiter in der Opposition bleiben musste. Die Folge war, dass sich zwischen den beiden Unionsparteien die Unsicherheiten und Differenzen über den richtigen Weg und den richtigen Kanzlerkandidaten zur Rückkehr in die Regierungsverantwortung verstärkt fortsetzten.

Hans-Otto Kleinmann

Literatur

  • H.-J. Veen, Opposition im Bundestag. Ihre Funktionen, institutionellen Handlungsbedingungen und das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion in der 6. Wahlperiode 1969-1972 (1973);
  • R. Wildenmann, CDU/CSU: Regierungspartei von morgen – oder was sonst?, in: R. Löwenthal / H.-P. Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz (1974);
  • G. Pridham, Christian Democracy in Western Germany. The CDU/CSU in Government and Opposition, 1945-1976 (1977);
  • D. A. Seeber, Geläuterter Konservatismus. Die Union nach 12 Jahren Opposition, in: Herder-Korrespondenz 36 (1982);
  • U. Schmidt, Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands, in: R. Stöss (Hg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, 1 (1983);
  • W. Schönbohm, Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950-1980 (1985);
  • W. Jäger / W. Link, Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt (1987);
  • F. J. Strauß, Die Erinnerungen (1989);
  • H.-O. Kleinmann, Geschichte der CDU (1993);
  • K. Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen (1993);
  • H.J. Lange, Responsivität und Organisation. Eine Studie über die Modernisierung der CDU von 1973-1989 (1994);
  • F. Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU (2002);
  • H. Kohl, Erinnerungen 1930-1982 (2004);
  • Auf dem Weg in die Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, hg. von T. Raithel, A. Rödder und A. Wirsching (2009).

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