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Letzter Anlauf zum Unionsstaat?

Russlands Umgang mit der Krise in Belarus

Seit dem Jahr 1999 sind die Russische Föderation und die Republik Belarus zwar formal in einer Union vereinigt, über viele Jahre sah es jedoch so aus, als sei der Vertrag über den Unionsstaat als Anachronismus endgültig in der Schublade verschwunden. Ende 2018 kam es zu einem überraschenden Wiederaufleben der Unionsidee, welches von der russischen Seite befördert wurde, aber auf den Widerstand Lukaschenkos traf. Durch die Anti-Lukaschenko Proteste im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen 2020 gewinnt der Prozess aktuell an Dynamik.

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Einleitung

Über fast drei Jahrzehnte war Alexander Lukaschenko ein zentraler, aber auch schwieriger Verbündeter Moskaus. Nach anfänglichem Enthusiasmus für die (Re-)Integration der beiden Staaten zögerte er das Entstehen eines Unionsstaats Russland-Belarus immer wieder hinaus und verstand es, von russischen Subventionen zu profitieren, ohne im Gegenzug seine eigene Macht preiszugeben. Zeitgleich bildete Belarus jedoch für Russland ein geopolitisches Glacis nach Westen. Am Vorabend der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020 war die russische Administration Lukaschenko bereits lange Leid, doch eine eindeutige Alternative zu ihm bestand nicht. Als die Massenproteste ausbrachen, lag die Angst vor einer „Farbrevolution“ oder gar eines neuen Maidans wie ein Albdruck auf der russischen Führung. Zwar hat sich der Kreml nach anfänglicher Zurückhaltung nun zunächst ostentativ an die Seite Lukaschenkos gestellt, doch befindet er sich weiterhin in einem Dilemma: Einerseits den strukturellen Einfluss auf Belarus zu wahren und keine Veränderungen auf Druck der Straße in einem „Bruderstaat“ zuzulassen. Andererseits liefe Russland Gefahr, die ihm wohlgesonnene belarussische Bevölkerung zu verlieren, falls es Lukaschenko ermöglicht, sich noch längerfristig im Amt zu halten und einen innenpolitischen Rachefeldzug zu starten. Jedoch würde die russische Führung nicht das erste Mal beweisen, dass es ihr gelingt, aus einem geopolitischen Rückschlag noch ihre Vorteile zu ziehen, denn die Hilfegesuche Lukaschenkos bieten aus ihrer Sicht die Chance, den lang ersehnten Unionsstaat nun doch noch vom Papier in die Realität zu erheben. Es könnte die letzte Gelegenheit dafür sein.

Die missglückte Union

Mitte der 1990er Jahre hatte der damals frisch gewählte belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, der von sich behauptet, als einziger Abgeordneter gegen die Auflösung der Sowjetunion votiert zu haben, sein Land wieder stark an Russland angenähert. Das Dokument zur Schaffung eines Unionsstaats, das am 8. Dezember 1999 in Moskau unterzeichnet worden war, bildete den ambitionierten Höhepunkt einer Reihe bereits geschlossener Kooperationsverträge.[i] Neben der Einrichtung einer gemeinsamen Währung und Notenbank sollten Institutionen mit weitreichenden Machtbefugnissen geschaffen werden, darunter ein „Oberster Rat“ der Staatsoberhäupter, Premierminister und Parlamentspräsidenten, ein Ministerrat sowie ein gewähltes Zwei-Kammer-Parlament, ein Gericht und ein Rechnungshof mit gemeinsamer Finanzaufsicht. Da sich Russland Ende der 1990er Jahre in einer Phase der inneren und äußeren Schwäche befand, scheint die damals oft geäußerte Vermutung nicht unplausibel, der deutlich jüngere Präsident in Minsk habe beim Bestreben nach einer Union beabsichtigt, selbst deren Oberhaupt zu werden.

Jedoch begann nur wenige Monate nach Unterzeichnung des Vertrags, mit dem Amtsantritt Wladimir Putins, in Moskau eine neue Ära, die zur Konsolidierung der staatlichen Macht in Russland führte und jedwede vorstellbare Ambitionen Lukaschenkos auf eine Machtübernahme im Kreml zunichtemachte. So schwand auch sichtbar das Interesse an der  Verwirklichung des Unionsstaats. Während Institutionen wie die Parlamentarische Versammlung und der Ministerrat zwar eingerichtet wurden, aber kaum Kompetenzen erhielten, waren in anderen Bereichen kurz nach der Unterzeichnung sogar Rückschritte zu verzeichnen.

Mitte der 2000er Jahre hatte die Idee wieder Konjunktur. Diesmal lag die Initiative jedoch eher bei Moskau, das vor allem das Ziel zu verfolgen schien, seinen Einflussbereich auszudehnen. Präsident Lukaschenko erwies sich in diesen Jahren als geschickter Verhandler. Während er sich einerseits immer deutlich zum Ziel der Integration bekannte, machte er andererseits klar, dass eine solche nicht den Beitritt seines Landes zur Russischen Föderation bedeuten könne, sondern nur auf dem Prinzip der Gleichberechtigung vorstellbar sei. So gelang es aus belarussischer Sicht, die politische Integration abzuwenden und doch wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzielen – vor allem in Form von billigen Energieträgern und einem erleichterten Zugang zum russischen Absatzmarkt.

Als 2015 mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EaWU), die offene Grenzen und enge Handelsbeziehungen zwischen Russland und Belarus sowie Kasachstan, Armenien und Kirgistan konstituierte, ein anderes Rahmenwerk in Kraft trat, schien der Unionsstaat endgültig überholt. Außerdem hatten sich die geopolitischen Rahmenbedingungen in Osteuropa deutlich verändert. Minsk betonte mit Nachdruck die Wichtigkeit seiner außenpolitischen Souveränität und grenzte sich in einigen Fragen dezidiert von Moskau ab. Dies missfiel dem Kreml, der im Gegenzug für ökonomische Vergünstigungen politische Loyalität erwartete. So forderte der russische Premierminister Dmitri Medwedjew im Dezember 2018 auf der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates des Unionsstaates die belarussische Seite auf, die Bestimmungen des Vertrags von 1999 endlich umzusetzen. Er verknüpfte dies mit der Frage der günstigen Energiepreise für das Gas, das Belarus von seinem Nachbarn bezieht. Präsident Lukaschenko sprach von „offener Erpressung“, doch da der Kreml starke Hebel in der Hand hatte, schlug er im gleichen Zug versöhnliche Töne an und bekannte sich im Grundsatz zur Unionsidee. So begann ein neuer Integrationsanlauf und damit das beiderseitige Tauziehen um die Durchsetzung der jeweils eigenen Vorstellungen.

Neben der Vereinheitlichung eines neuen Steuerkodexes, der im Frühjahr 2021 in Kraft treten sollte, war ein zentraler Streitpunkt der Preis für Gas und Öl. Grundsätzlich betrachtet Belarus Formate wie den Unionsstaat oder die Eurasische Wirtschaftsunion vor allem als Mittel, um sich wirtschaftliche Vorteile bewahren zu können und ist daher bestrebt, die Integrationsprozesse soweit es geht zu „ökonomisieren“ und den Fokus auf Wettbewerbsbedingungen und Marktzugänge zu legen. So benannte der belarussische Premier Sergej Rumas Ende August 2019 die Formel „Zwei Staaten – ein Markt“ als Grundsatz der Integration. Moskau hingegen sieht in den Integrationsansätzen vor allem Instrumente, um Länder des „postsowjetischen Raums“ wirtschaftlich und politisch an sich zu binden. Dabei scheint es letztlich zweitrangig, über welches vertragliche Rahmenwerk dies erreicht wird. Beide Vorstellungen waren und sind nur schwer miteinander vereinbar und die Stimmung zwischen beiden Partnern nahm im Laufe der Verhandlungen ein ständiges Auf-und-Ab.

Lukaschenko war lange bemüht, durch Zeichen von Stärke den Status Quo rhetorisch zu festigen, auch um damit das Dilemma zu überspielen, in dem er sich befindet. Russlands Druck hin zu Schritten der politischen Integration gefährdeten unmittelbar seinen eigenen Machtanspruch. Eine Verteuerung der Energielieferungen konnte er sich jedoch kaum erlauben, da sie sein staatliches Sozialmodell und damit die wesentliche Legitimitätsstütze seines Systems unter Druck setzen würde. So mühte sich Minsk im Jahr vor der Wahl, die Beziehungen zum Westen weiter zu verbessern, um nicht zuletzt seine Handelsrouten und selbst Optionen des Energieimports – wenn auch eher in symbolischen Mengen – zu diversifizieren.

Die Russische Sicht auf Belarus

Belarus gilt in der allgemeinen Wahrnehmung der russischen Gesellschaft als Bruderstaat, enger verwandt als die Ukraine. Nicht wenige betrachten die ostslawischen Völker der Russen, Belarussen und Ukrainer als Teile eines großen zusammengehörigen allrussischen Volkes, welches auf die historische Rus[ii] zurückzuführen ist; häufig ist auch vom „Dreieinigem russischen Volk“ die Rede, ein Empfinden, welches durch das jahrhundertelange Zusammenleben im Russischen Reich und der Sowjetunion genährt wird. Dass die überwältigende Mehrzahl der Belarussen Russisch als Hauptsprache im Alltag verwendet, wirkt verstärkend auf dieses Empfinden. Patriotische Gefühle nehmen in der russischen Gesellschaft eine ähnliche, wenn nicht noch stärkere Bedeutung ein als in vielen anderen Staaten Osteuropas. Der vorherrschende und offizielle russische Patriotismus[iii] ist dabei – aufgrund des Vielvölkercharakters der Föderation – ein übernationaler, imperialer im Sinne einer Reichsidee, ähnlich dem Sowjetpatriotismus. Daran knüpft sich bei vielen Russen die Hoffnungen an die (Wieder-)Vereinigung der beiden Staaten. Die Republik Belarus – mit einem funktionierenden Sozialstaat, einer geringeren Einkommensschere und einer so gut wie nicht vorhandenen Einwanderung – gilt zudem vielen Russen als das „bessere Russland“. Belarussische Waren und Produkte haben den Ruf, qualitativ besser als ihre russischen Äquivalente zu sein – die belarussische Herkunft ist in Russland ein Qualitätssiegel.

Die Person Lukaschenko erfreute sich dabei bis in die jüngste Gegenwart in Russland nicht nur unter russischen Nationalisten aufgrund seiner Politik, die sowohl das Aufkommen einer Oligarchenschicht als auch die Einwanderung zentralasiatischer Gastarbeiter verhinderte, einer nicht unbeachtlichen Sympathie. Anders als in Russland selbst war es während der 1990er Jahre in Belarus nicht zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen gekommen. Sein sehr volksnaher Politikstil trug ihm in früheren Zeiten den Spitznamen Batka („Väterchen“) ein. Diese Wahrnehmung sollte sich jedoch spätestens im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 schlagartig ändern.

In der Putin-Administration war man bereits längere Zeit über das Stagnieren der Integration zu einem Unionsstaat verärgert. Auch die mangelnde Unterstützung Lukaschenkos in der Ukrainefrage und die ausbleibende Anerkennung Abchasiens und Südossetiens war nicht vergessen worden. Nichtdestotrotz war Minsk in entscheidenden Momenten ein verlässlicher Verbündeter, der sowohl dem von Moskau geführten Militärbündnis der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit als auch der Eurasischen Wirtschaftsunion beitrat. Geopolitisch besitzt Belarus für die Russische Föderation ungemeine Bedeutung. Nach dem Euro-Maidan in der Ukraine bildet das Land das letzte geopolitische Glacis gen NATO. Das Regime Lukaschenko mit seinem konsolidierten sowjetnostalgischen-autoritären Regime wirkte da auch ideologisch-gesellschaftlich als vorgelagertes Bollwerk nach Westen. Aus geopolitischer und militärischer Sicht wird Russland alles tun, um den Abfall eines weiteren Verbündeten zu verhindern. Wer dabei in Minsk regiert scheint nebensächlich, solang die Treue zu Russland gewahrt wird.

Bei der alljährlichen Pressekonferenz zu Beginn des Jahres 2020 hatte Präsident Putin noch einmal die Vereinigung zum Unionsstaat ins Gespräch gebracht. Die seit langem vereinbarte gemeinsame Notenbank sollte nun endlich geschaffen werden – doch Lukaschenko distanzierte sich erneut von diesen Plänen. Vielmehr fuhr er im Wahlkampf bislang nie dagewesene antirussische Geschütze auf. Schon in vergangenen Zeiten hatte Lukaschenko Wahlkämpfe als rhetorische Abwehrschlachten gegen mehr oder weniger imaginierte äußere Feinde und mit ihnen im Bunde stehende innere Verräter bestritten. Doch während er diese in früheren Zeiten im Westen verortete, sollte der schwarze Peter dieses Mal klar bei Russland liegen. Allen Herausforderern unterstellte er, russische Agenten zu sein, deren Ziel es sei, Belarus zu unterwandern und zu zerschlagen. Nur er allein sei im Stande, die Souveränität des Landes zu verteidigen. Eine Kulmination erfuhr diese Argumentation mit der inszenierten Verhaftung von 33 Söldnern der sogenannten Wagnergruppe, die die Staatsmedien als Speerspitze einer drohenden Invasion skizzierten. Der Kreml äußerte sich zu all dem mit beachtlicher Zurückhaltung, doch Sympathien für Lukaschenko schienen ab diesen Zeitpunkt endgültig der Vergangenheit anzugehören. Auch die öffentliche Meinung in Russland war mit Lukaschenkos anti-russischer Rhetorik und seinen Maßnahmen während des Wahlkampfes gekippt.

Erste Reaktionen in Russland nach der Wahl in Belarus

Dies änderte sich zunächst auch nicht, als in der Nacht nach der Wahl die ersten Proteste aufflammten. Die russischen Medien berichteten auffallend neutral über die Proteste. Die Bilder von repressiv vorgehenden Sicherheitsorganen riefen dabei in Russland gesellschaftsübergreifende Empörung hervor, große Teile der Bevölkerung solidarisierten sich mit den belarussischen Demonstranten. In der russischen Öffentlichkeit empörte man sich über Lukaschenkos Verhalten und erkannte gleichzeitig, dass versäumt wurden war, eine Alternative zu ihm aufzubauen. So äußerte sich der russische politische Meinungsmacher und Publizist Nikolai Starikow:

„Die von Alexander Grigorjewitsch [Lukaschenko] gewählte Form des Verhaltens während der Wahlperiode hat zu einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland geführt. […] seine Manöver untergruben das Vertrauen des politischen Establishments und der Bevölkerung Russlands in ihn. […] Lukaschenko wählte die Taktik, die Beziehungen zu Russland zu verschlechtern, und wollte auf diese Weise die Entwicklung des "Maidan"-Szenarios vermeiden […] Ebenso gibt es heute keine anderen prorussischen Politiker für Russland. Und das ist ein ernstes Problem.“

Auch im Militärindustrie-Kurier, dem militärischen Fachblatt, welches in der Vergangenheit wiederholt als inoffizielles Sprachrohr hochrangiger Militärs fungierte, hagelt es Kritik, dabei hielt man sich nicht mit Selbstkritik zurück:

„Das beste Erfolgskonzept für A. Lukaschenko [wäre] die Rettung der belarussischen Wirtschaft und die Wiedervereinigung mit Russland. Aber ´Batka´ baute den gesamten Wahlkampf auf die Verteidigung der Unabhängigkeit auf. […] Moskau betrachtete gleichgültig, wie Lukaschenko diejenigen hinter Gitter warf, die zu behaupten wagten, in Russland und Belarus lebe das gleiche Volk.“

Zahlreiche Prominente, Vorsitzende zahlreicher Parteien, Liberale und Nationalisten, wandten sich währenddessen öffentlich gegen Lukaschenko. Selbst der exzentrische Ultranationalist, Wladimir Schirinowski, Gründer und Parteivorsitzender der russischnationalen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR), demonstrierte nach den Präsidentschaftswahlen vor der belarussischen Botschaft in Moskau und erklärte: „Es wird keine Wahlen mehr mit der Beteiligung Lukaschenkos geben. Alles hängt von uns ab: Wie viel mehr wir bereit sind, den Schmarotzer zu unterstützen.“ Er steigerte sich gar zu einem Aufruf an die Zehntausenden Demonstranten in Belarus: „Vielen Dank an die Belarussen. Gut gemacht! Letztendlich sammelten sie ihren Mut und sagten klar Nein zur Diktatur. Lang lebe das freie Belarus!“

Auch der Bestsellerautor und Parteivorsitzende der 2020 gründeten nationalkonservativen Partei „Für die Wahrheit“, Sachar Prilepin, kommentierte die Ereignisse in Belarus nur lakonisch mit dem Kommentar: „Lukaschenko hat ausgespielt.“ Konstantin Satulin, Abgeordneter der Partei „Einiges Russland“ und stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Angelegenheiten der GUS nannte die Wahlen öffentlich eine „Fälschung“, Lukaschenko hätte „die Wahlen gewonnen, aber das Land verloren“.

Nur die Kommunisten schienen noch zu Lukaschenko zu halten. So kommentierte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Gennadi Sjuganow, die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen: „Die KPRF verurteilt den Versuch eines Staatsstreichs in Belarus auf das Schärfste“. Sjuganow beklagte die "pro-westliche Gewalt" in der gegenwärtigen Situation und forderte die Weißrussen auf, den verlockenden Ideen politischer Abenteurer nicht nachzugeben. Weiter begründete er seine Forderungen: „Die Seele schmerzt bei dem Gedanken, dass es interessierte Personen gibt, die bereit sind, die Situation in Belarus ins Wanken geraten zu lassen. […] Man wird Sie mit ‚europäischen Werten‘ und ‚Demokratie‘ anlocken.“

Der Kreml wollte die Geschehnisse zunächst abwarten. Ein wichtiges erstes Signal für die zukünftige Richtung war das Glückwunschtelegramm von Präsident Wladimir Putin an Lukaschenko. Darin brachte er klar zum Ausdruck, dass er damit rechne, dass Lukaschenko in der neuen Legislaturperiode „zur weiteren Entwicklung der russisch-belarussischen Beziehungen in allen Bereichen“ beigetragen werde. Doch erfolgt dies zu einem Zeitpunkt, als die genaue Fortentwicklung der Ereignisse noch offen war. Nachdem Lukaschenkos Strategie, die Proteste durch eine schnelle Eskalation im Keim zu ersticken, jedoch nicht nur misslang, sondern im Gegenteil die beispiellosen Gewaltexzesse zu einer nie dagewesenen Massenmobilisierung führten, hatte der Machthaber in den Augen weiter Teile der Bevölkerung eine Grenze überschritten, was eine Versöhnung kaum noch möglich machte. Dies musste die Lage in den Augen des Kremls zusätzlich erheblich verkomplizieren. Der im Exil befindliche Oligarch und Putin-Gegner, Michail Chodorkowski, kommentierte das sich abzeichnende Dilemma des Kremls: „Für Putin ist der Sturz Lukaschenkos ein absolut inakzeptables Szenario, trotz all dem Hass, den er gegen ihn zu empfinden scheint. Zugleich würde ein hartes, blutiges Massaker an Demonstranten auch Putin nichts nutzen.“

Der Meinungsumschwung

Ein entscheidender Wendepunkt war offenbar erreicht, als Lukaschenko in Moskau anrief und Putin offen um Unterstützung bat und sich dabei auf die bestehenden Sicherheitsbündnisse berief. Viele verstanden das als eine Einladung zur Intervention und damit de facto Kapitulation vor den Machtansprüchen Putins, denen Lukaschenko lange so hartnäckig widerstanden hatte. In seiner Rhetorik folgte eine 180-Grad-Wendung und plötzlich schob er dem Westen für alles die Schuld in die Schuhe. Ob Moskau ihm den Sinneswandel tatsächlich abnahm, ist dabei Nebensache, denn vielmehr ging es für den Kreml darum, angesichts der breiten friedlichen Proteste den Sturz des Systems in Belarus durch eine Revolution mit ungewissem Ausgang zu verhindern. Das sich Lukaschenko selbst in eine Sackgasse manövriert hatte, spielte dem Kreml dabei in die Hände. Die Entwicklung in Belarus sollte nicht außer Kontrolle geraten.

Russland schickte Medienfachleute ins Nachbarland, um die streikende Mitarbeiter der Rundfunkanstalten in Belarus zu ersetzen. Die Berichterstattung in Russland selbst wurde deutlich kritischer. Obwohl die Proteste in Belarus eine klare innenpolitische Agenda verfolgten und im Kontrast zu Kiew 2014 bei keinem einzigen der Proteste je eine EU-Fahne zu sehen war, befeuerten die Medien die Sorge, dass die Opposition in Belarus, einmal an der Macht, eine antirussische Politik betreiben würde. In aller Munde war die Sorge vor einem „Ukrainischen Szenario“.

Die vorläufige Entscheidung Moskaus

Mit dem Rücken zur Wand beschwor Lukaschenko nun wieder den Unionsstaat, den er selbst über Jahre behindert hat:

„Wir müssen mit Putin, dem Präsidenten Russlands, Kontakt aufnehmen, damit ich jetzt mit ihm sprechen kann. Denn dies ist eine Bedrohung nicht nur für Belarus. […] Ich möchte sagen, dass die Verteidigung von Belarus heute nicht weniger ist als die Verteidigung unseres gesamten Raums, des Unionsstaates.“

Dass er nun von einem „gemeinsamen Vaterland, in dem zwei Völker mit derselben Wurzel leben“, welches „von Brest bis nach Wladiwostok“ reiche, spricht, muss Wasser auf die Mühlen all jener gewesen sein, die eine Vereinigung beider Staaten anstreben. Auch dies muss zur Entscheidung beigetragen haben, Lukaschenko zumindest für einen Übergangszeitraum zu stützen. Wladimir Putin bezog in einem Fernsehinterview am 27. August erstmals eindeutig Stellung. Er negiert nicht die Existenz innenpolitischer Probleme in Belarus, denn „sonst würden die Menschen nicht auf die Straße gehen“. Er machte jedoch erstmals deutlich, dass für Russland im Rahmen des Unionsvertrages Verpflichtungen gegenüber Belarus bestehen:

„Es gibt relevante Artikel, die besagen, dass alle Mitgliedsstaaten dieser Organisationen, des Unionsstaates […] sich gegenseitig beim Schutz der Souveränität, der Außengrenzen und der Stabilität helfen sollten. So steht es dort […]. Russland [wird] alle seine Verpflichtungen erfüllen“

Auf Ersuchen des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko habe Russland „eine bestimmte Reserve von Sicherheitsbeamten“ gebildet, um den belarussischen Machtapparat im Rahmen der Sicherheitsverpflichtungen des Unionsstaates und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) im Notfall zu unterstützen. Ergänzend äußerte sich der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Föderationsrates, Wladimir Dschabarow: „Wenn es einen Appell aus Minsk gibt, werden wir natürlich helfen, denn Belarus ist unser Schlüsselverbündeter, wir haben den Unionsstaat sowie Verpflichtungen im Rahmen der OVKS“.

Erleichtert verkündete Lukaschenko, dass „auf unser Ersuchen hin umfassende Hilfe geleistet wird, um die Sicherheit von Belarus zu gewährleisten“. In Moskau ist man sich jedoch bewusst, dass der belarussische Potentat den Rückhalt in der Bevölkerung verloren hatte. Lediglich der Repressionsapparat Lukaschenkos wird als recht leistungsfähig eingeschätzt. Ein hochrangiger Angehöriger des FSB konstatierte: „Der KGB und das Innenministerium sind ihm nach wie vor treu ergeben und zeigen ihre Bereitschaft zu weiterem entschlossenem Handeln“.

Ausblick: Auf wen setzt der Kreml in Minsk?

Mit überraschenden Schachzügen aus Moskau ist immer zu rechnen, zudem ist davon auszugehen, dass man sich im Kreml lieber früher als später Lukaschenko zu entledigen gedenkt. In der russischen Politikauffassung, in der Loyalität und Treue, wie Wladimir Putin selbst äußerte, eine wichtige Rolle spielen, hat Lukaschenko mit seinen rhetorischen Richtungswechseln alles verwirkt. Faktisch befindet sich Moskau in einer vorteilhaften Position: Lukaschenko hat sich außenpolitisch in die Hand Putins begeben, der staatliche Informationsraum ist den Russen überlassen worden und die finanzielle Abhängigkeit durch das Versiegen westlicher Finanzierungsquellen deutlich gestiegen. Taktisch wäre Russland sicherlich in der Lage, Lukaschenkos Schwäche voll auszunutzen und ihn zu Zusagen hinsichtlich des Unionsstaats zu bewegen. Strategisch ergibt sich jedoch ein handfestes Dilemma: Moskau ist sich bewusst, dass für die belarussische Bevölkerung ein Unionsabkommen, das mit Lukaschenko geschlossen würde, keine Legitimität mehr besäße. Die Wiedervereinigung mit Russland würde als Akt der Gewalt wahrgenommen werden. Auch aus Sicht des Westens könnten solche Verträge nicht anerkannt werden, wenn Lukaschenko nicht mehr als legitim gilt.[iv] Bleibt die Möglichkeit, Lukaschenko durch einen geeigneten Nachfolger zu ersetzen, der gewillt ist, substanzielle Integrationsschritte im Rahmen des Unionsstaats umzusetzen. Doch offensichtlich sieht Russland gegenwärtig noch keine klare Alternative zu Lukaschenko.

Zu Beginn der Präsidentschaftskampagne wurde viel über die drei stärksten Herausforderer Lukaschenkos – Sergej Tichanowski, Wiktor Babariko und Waleri Zepkalo – spekuliert, sie würden „aus Russland“ unterstützt, hieß es. Vor allem Lukaschenko selbst befeuerte diese Narrative und es blieb im Bereich der Spekulation, ob und von welchen Kräften aus Russland sie tatsächlich Unterstützung erhielten. Vom Profil her könnte ein Mann wie Babariko, der jahrelange Geschäftskontakte mit Russland gepflegt und sich für eine gute Nachbarschaft ausgesprochen hat, durchaus ein annehmbarer Kandidat für den Kreml sein. Die Ankündigung der Gründung der Partei „Razam“ (Team Babariko) wird als ein Schritt wahrgenommen, der auch an die Adresse Moskaus gerichtet ist. Die Umgebung von Babariko zeigt sich offen gegenüber einem Dialog über eine Verfassungsreform in Minsk, den sich sowohl Lukaschenko als auch die russische Administration vorstellen können. Den sogenannten Koordinierungsrat hatte Moskau zuvor als Verhandlungspartner abgelehnt.

Für den Moment scheint der Kreml ein Interesse daran zu haben, die Pattsituation in Belarus zu verlängern, um einen ihm genehmen Kandidaten aufzubauen, der langfristig auf eine vertiefte Integration zum Unionsstaat hinarbeitet. Die Belarussen, in überwiegender Mehrheit eher russlandfreundlich, könnten einen solchen Kandidaten wählen, wenn Russland dazu beiträgt, den Abgang Lukaschenkos und Neuwahlen zu ermöglichen. Dabei steht Moskau unter Zeitdruck: Sollte sich der Kreml stattdessen entscheiden, Lukaschenko durch Kredite und Sicherheitsgarantien zu lange im Amt zu halten, ist damit zu rechnen, dass sich viele Menschen in Belarus von Russland abwenden. Die Entwicklungen könnten dann eine geopolitische Dimension bekommen, an der zur Zeit niemand ein Interesse hat.

Die Zeit des Übergangs müsste aus russischem Eigeninteresse möglichst kurz werden. Den Rahmen dürfte die belarussische Verfassungsreform bieten. Auf der OSZE-Sondersitzung zu Situation in Belarus, am 28. August 2020 in Wien, hat Minsk der OSZE und Moskau offenbar bereits einen entsprechenden Plan vorgestellt. Jedoch sieht dieser einen Zeitraum bis ins Jahr 2022 hinein vor und das wäre aus Sicht von Millionen von Belarussen, die Lukaschenko bereits jetzt nicht mehr als legitim betrachten, kaum hinnehmbar. Strategisch gesehen wäre es daher für Russland besser, den Dialog zu ermöglichen und auch der Westen sollte darauf hinwirken. Dass Russland und Belarus kulturell und ethnisch miteinander verflochten sind und Verpflichtungen in gemeinsamen Bündnissen haben, steht dabei außer Frage.  

 

[i]                S.a. „Unionsstaat „Bela-Russland“? Vereinigung vertagt“ unter: https://www.kas.de/de/web/belarus/laenderberichte/detail/-/content/unionsstaat-bela-russland-vereinigung-vertagt und „Ein Vierteljahrhundert Lukaschenka“ unter https://www.kas.de/de/web/belarus/laenderberichte/detail/-/content/ein-vierteljahrhundert-lukaschenka

[ii]             Die Staatsnamen Russlands und Belarus leiten sich direkt von den historischen Gebilden der Rus ab. Das heutige Russland trägt in der russischen Sprache die Bezeichnung Rossija, abgeleitet von der latinisierten Form. Es entwickelte sich aus dem Großfürstentum Moskau (Moskowien), welches im späten Mittelalter die Oberhoheit über die nordöstlichen Teilfürstentümer der Rus (Große Rus) erlangte. Die westlichen Teilfürstentümer Polozk und Smolensk (Weiße Rus) gelangten unter die Herrschaft des Großfürstentum Litauens. Beide Großfürstentümer, Moskau und Litauen, sahen sich als legitime Erben der untergegangenen Kiewer Rus. Ende des 18. Jahrhundert gelangte das Gebiet des heutigen Belarus zum Russischen Reich.

[iii]            Historisch fand in Russland der Schritt vom dynastischen Vielvölkerreich zum Nationalstaat in der Idee von 1786 nie statt. Die Russische Föderation versteht sich selbst, wie in der Verfassung festgehalten, als multinationaler Staat. Damit einher geht ein imperialer/übernationaler Patriotismus, der durch die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg gestützt wird. Die Ethnie der Russen nimmt dabei die Rolle eines primus inter pares ein, was so auch in der Verfassung festgehalten ist. Daneben gibt es einen genuin russischen Nationalismus, der sich ausschließlich auf das slawische Volk der Russen bezieht.

[iv]            Dahingehend äußerte sich der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell am 15.09.2020.

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Regionalbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Zentralasien (komm.) und Beauftragter für die Russische Föderation

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