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Länderberichte

Indiens Regionalwahlen inmitten einer verheerenden COVID-Krise

von Peter Rimmele, Elias Marini Schäfer

Hunderte Millionen schreiten in fünf Regionen zu den Urnen

Im Zeitraum vom 27. März bis zum 29. April 2021 wählten die Bürger in den indischen Bundesstaaten West-Bengalen, Assam, Tamil Nadu, Kerala und dem Unionsterritorium Puducherry ihre legislativen Vertreter. Es handelte sich hierbei um Regionalwahlen in einer aus deutscher Sicht kaum vorstellbaren Größenordnung, da sie eine Bevölkerungszahl betrafen, die selbst diejenige Brasiliens (ca. 213 Millionen) übersteigt. Die Wahlen waren zudem ein Gradmesser für die tatsächliche Fähigkeit des indischen Premierministers Narendra Modi und seiner auf Unionsebene regierenden Bharatiya Janata Party (BJP), Regierungen in Teilen des Landes zu bilden, in denen sie bisher kaum Einfluss ausgeübt hatten. Bislang regierte die BJP von diesen Staaten nur in Assam.

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Einleitung

In Anbetracht der Tatsache, dass in der größten Demokratie der Welt jedes Jahr in dem einen oder anderen Winkel Wahlen abgehalten werden, könnten die kürzlich abgeschlossenen Wahlen nur als ein weiterer Bestandteil des vollgepackten politischen Kalenders Indiens angesehen werden. Allerdings deuten mindestens drei wichtige Aspekte darauf hin, dass diese Wahlen alles andere als „Business as usual“ darstellen. Sie werden den Kurs von Indiens nationalen und führenden regionalen Parteien sowie den Aufbau der föderalen Struktur, die Indiens verfassungsmäßige Ordnung untermauert, für die kommenden Jahre maßgeblich gestalten.

Zunächst einmal erfolgten die Wahlen vor dem Hintergrund einer äußerst turbulenten Periode in der Politik des Subkontinents. Daher spiegelten sie deutlich wider, wie die Wähler die Leistungen der Zentralregierung im Umgang mit den zahlreichen Herausforderungen der letzten zwei Jahre beurteilen. Insbesondere die speziell in Indien verheerende zweite Welle der Pandemie fordert weiterhin viele Opfer und vernichtet massiv Existenzen. Sie hat die Art der politischen Kommunikation tiefgreifend verändert, indem sie Themen in den Vordergrund gerückt hat, die zuvor nicht im Mittelpunkt des Wahldiskurses standen – darunter auch die Frage nach der Funktionstüchtigkeit des Gesundheitswesens. 

Zweitens verleiht die Richtung der Wirtschaftsreformen, die die BJP-Regierung in jüngster Zeit eingeschlagen hat, diesen Wahlen zusätzliche Signifikanz. Zwar befindet sich diese Wirtschaftsreformen noch in einem Übergangsstadium, da die von der BJP beschlossenen Privatisierungsmaßnahmen noch nicht implementiert wurden. Dennoch gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass die Zentralregierung wirtschaftsliberale Maßnahmen durchsetzen wird, die vor allem dem freien Markt und dem Privatsektor zugutekommen. Es mag verfrüht sein, die diesjährigen Regionalwahlen mit dieser neuen wirtschaftlichen Ausrichtung in Verbindung zu bringen. Die vorgeschlagenen Landwirtschaftsreformen und die massiven Proteste dagegen, die landesweit für Aufsehen und regen Zuspruch für die Demonstranten sorgten, verdeutlichen allerdings die politische Leidenschaft, die im Subkontinent bezüglich weitreichender Wirtschaftsreformen herrscht.

Zu guter Letzt hat die Innenpolitik in drei der vier Bundesstaaten, die zu den Urnen geschritten sind, nämlich Assam, Westbengalen und Tamil Nadu, eine ausgeprägte externe Komponente. Die seit einigen Jahren intensiv geführte Debatte über Immigranten, den Citizenship Amendment Act (CAA) und das Nationale Register der Bürger (NRC), verwickelt den Nachbarstaat Bangladesch in Indiens innenpolitischen Diskurs, während die Debatte über die Rechte der Tamilen in Sri Lanka weiterhin weitreichende politische Implikationen in Tamil Nadu mit sich bringt. Das CAA, das 2019 von BJP-Innenminister Amit Shah vorgestellt wurde, würde – kurz zusammengefasst – Hindus, Christen, Buddhisten, Parsen und Jains, die am oder vor dem 31. Dezember 2014 aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan nach Indien eingewandert sind, die indische Staatsbürgerschaft zugestehen. Auffällig ist, dass die einzige andere große Religionsgemeinschaft, die von dem CAA nicht berücksichtigt wird, Muslime sind.

Der Ausgang der Wahlen wird sich auf all diese Punkte auswirken und mitbestimmen, wie sich Indiens politische Strukturen an eine Post-COVID-Welt anpassen werden, wie sich Indiens wirtschaftlicher Reformkurs entfalten wird und wie Indien seine Beziehungen zu seinen unmittelbaren Nachbarstaaten gestalten wird. Dies alles passiert in einem Land, in dem die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik zunehmend verschwimmen.

 

Westbengalen

Nachdem die in Ostindien angesiedelten Westbengalen aus den Kämpfen vor und nach der Unabhängigkeit Indiens als Bundesstaat hervorgegangen waren, wurden die Samen der Gewalt in den 1960er Jahren tief in das politische Ethos des Landes gesät. Zusammenstöße und Ausschreitungen, die oft blutig ausfielen, haben sich über die Jahrzehnte und über zahlreiche politische Parteien hinweg wiederholt. Die Geschichte des Bundesstaates liefert bedauerlicherweise eine ganze Reihe an Fällen, in denen Mitglieder der einen oder anderen Partei erbitterte Kämpfe ausfochten und unter anderem führende Politiker und Funktionäre gewaltsam angegriffen wurden. Diese Gewalt zeigte sich auch in der jüngsten Vergangenheit.

Traurigerweise, aber für die Bürger von Westbengalen und politischen Experten nicht überraschend, forderten die Wahlen in Westbengalen auch in diesem Jahr ihre Opfer. Von der Ermordung eines All India Trinamool Congress (AITC)-Mitgliedes bis hin zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen BJP- und AITC-Mitgliedern war die Gewalt ein dauernder Begleiter der Wahlkampfzeit. Es besteht also weiterhin eine mehr als ein halbes Jahrhundert alte, schier untrennbare Verbindung zwischen Gewalt und Politik in Westbengalen.

Das über einen Zeitraum von einem Monat stattfindende und beispiellose Acht-Phasen-Wahlprogramm für die 294-Sitze in der gesetzgebenden Versammlung von Westbengalen, wurde von nahezu allen Wahlbeobachtern nicht nur als die engste und entscheidendste der fünf Regionalwahlen bezeichnet, sondern besaß zudem einen zutiefst persönlichen Charakter. Etwa 73 Millionen Wähler übten ihr Wahlrecht in über 100.000 Wahlkabinen aus und entschieden, ob sie für Mamata Banerjee, die seit zehn Jahren Ministerpräsidentin des Bundesstaates ist, oder für ihren Schützling der vergangenen 20 Jahre, Suvendu Adhikari, stimmen sollten. Adhikari und etwa ein Dutzend anderer lokaler Partei-Führungskräfte waren von Banjerees Partei dem All India Trinamool Congress (AITC), einer hauptsächlich in Westbengalen vertretenen Partei, übergelaufen und hatten sich mit Narendra Modi und der BJP verbündet. Die Safran-Partei des Premierministers wetteiferte nun darum, die erste weibliche Ministerpräsidentin von Westbengalen zu entthronen.

Angetrieben von den überraschenden Erfolgen der BJP in den gesamtindischen Parlamentswahlen im Jahre 2019, wo die Safran-Partei die Anzahl von zwei auf 18 von insgesamt 40 Sitzen in Westbengalen erhöhte, hatte Narendra Modi dem Wahlkampf diesmal seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Trotz rasant steigender Coronavirus-Fallzahlen reiste Modi etwa ein Dutzend Mal selbst zu Wahlkampfveranstaltungen nach Westbengalen. Sein Gesicht war auf unzähligen Plakaten in jeder noch so kleinen Stadt des Staates abgebildet, was viele der BJP-Wahlkampfhelfer zu scherzen veranlasste, dass er und nicht etwa Adhikari für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren schien.

Die BJP versuchte die Wahlen zu gewinnen, indem sie die Stimmung gegen die etablierte Partei zu nutzen versuchte, die durch die Korruptionsskandale des AITC und der Art und Weise, wie ihre Mitglieder in der Vergangenheit Erpressung und Gewalt als politische Mittel eingesetzt haben, geschürt wurden.

Banerjees AITC versuchte ihrerseits der BJP energisch entgegenzutreten: sie verstand ihren Wahlkampf als ein Ringen zwischen den Bengalisch-sprechenden „Einheimischen“ und den „Fremdlingen“ – nämlich den überwiegend Hindi-sprechenden Vertretern der BJP. Ihr Hauptwahlkampfslogan lautete: „Die Bengalen wählen ihre eigene Tochter.“ Ein Großteil ihrer Kampagne basierte auf ihrem Ruf als scharfzüngige politische Straßenkämpferin. Sympathisanten der örtlichen kommunistischen Partei schlugen einst sogar mit Metallstäben auf sie ein. Sie schlug daraufhin politisch zurück, indem sie bei den Wahlen 2011 die Kommunistische Partei an den Urnen besiegte. Erst letzten Monat wurde Mamata Banerjee inmitten einer drängelnden Menge durch eine Autotür, die abrupt zugeschlagen wurde, schwer am Bein verletzt. Sie erklärte den Vorfall zu einem politisch motivierten Angriff, eine Behauptung, die ihre politischen Gegner in Frage gestellt haben. Von ihrer Partei und ihren Anhängern wird sie weiterhin als Symbol einer Führungspersönlichkeit abgebildet und wahrgenommen, die ihr eigenes Leben für ihren Staat aufs Spiel setzt. Banerjee machte indes diesem Ruf alle Ehre, indem sie den Wahlkampf im Rollstuhl fortsetzte.

Schließlich überraschte Mamata Banerjee selbst die optimistischsten aller Wahlforscher und führte ihre Partei zu einem der größten politischen Siege der letzten drei Jahrzehnte, indem sie nahezu im Alleingang die BJP in Westbengalen stoppte und den Weg für ihre Rückkehr als Ministerpräsidentin für eine dritte aufeinanderfolgende Amtszeit ebnete. Der Wahlsieg bedeutete mit der Sicherung von über 48% aller abgegebenen Stimmen einer der bedeutendsten Siege in der Geschichte des AITC.

Die Versuche der BJP, die Wählerschaft anhand religiöser Aspekte zu polarisieren, wurden von der AITC erfolgreich durch die Berufung auf bengalischen Stolz entkräftet. Der lautstark und nach jeder Wahlkundgebung geäußerte Slogan der BJP „Jai Shri Ram“, der übersetzt „Ruhm für Lord Ram“, einen der wichtigsten Hindu-Götter, bedeutet und darauf abzielte, religiöse Leidenschaften unter Hindus zu schüren, wurde von der AITC mit dem inklusiveren „Joy Bangla“ (Freude den Bengalen) gekontert. Die Safran-Partei konnte nicht an ihre Leistung bei den Lok Sabha-Wahlen 2019 anknüpfen und blieb bei 77 Sitzen stehen, während der AITC seine Leistung verbesserte und sich einen höheren Prozentsatz an Stimmen sowie mehr Sitze als bei den Wahlen im Jahr 2016 sicherte.

Im Falle eines BJP-Sieges wäre die Politik der BJP endgültig in Westbengalen angekommen, einer der wahrhaft letzten Bastionen einer eher linksgerichteten Politik auf dem Subkontinent. Ein solcher Sieg hätte auch die Hoffnungen der von der Kongresspartei geführten Opposition massiv geschwächt, bei den gesamtindischen Parlamentswahlen 2024 überhaupt eine Erfolgschance gegen die bisherige Dominanz der BJP zu haben. So ist jedoch der haushohe Erfolg der AITC in vielerlei Hinsicht ein Sieg aller Nicht-Safran-Parteien; auch die kritischen Stimmen gegen die BJP aufgrund ihrer massiven Wahlkundgebungen inmitten der indischen COVID-Krise dürften zunehmen.

Diese Kritiken entstanden, als die Zahl der Corona-Infektionen in Indien zunahm und die AITC eine eindringliche Bitte an die Wahlkommission richtete, den Wahlablauf zu überdenken. Die Kommission weigerte sich und stellte sich entschieden auf die Seite der BJP, die auf der Fortsetzung des Wahlkampfes pochte, sodass der Wahlkampf schließlich fortgesetzt wurde. Modi selbst erschien bis zum 17. April auf Wahlveranstaltungen in Westbengalen, als die COVID-Zahlen in Indien schon bei täglich rund 200.000 Fällen lagen und mit jedem vergehenden Tag weiter in die Höhe schnellten. Dort sprach er ohne Schutzmaske zu den größtenteils maskenlosen Menschenmengen und dankte seinen Anhängern dafür, dass sie den Wahlkampf der BJP so zahlreich unterstützen.

Nach den Wahlen wurde Westbengalen ein neuer Corona-Hotspot Indiens. Seriösen Zeitungsberichten zufolge war jede zweite getestete Person in Kolkata, der Hauptstadt des Bundesstaates, COVID-positiv. Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer neuen Mutation und den Wahlkampagnen konnte bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. Die Wut zahlreicher Inder angesichts dieser schockierenden Neuinfektionszahlen ist jedoch groß und viele stellten Premierminister Narendra Modi auf diversen Social-Media-Plattformen an den Pranger, zumal er auch noch die Versammlung von nahezu 10 Millionen Hindu-Gläubigen zu dem großen Pilgerfest der Kumbh Mela zuließ.

 

Assam

Der Bundesstaat Assam im Nordosten des Landes umfasst eine Ansammlung verschiedenster Regionen mit ebenso unterschiedlichen Historien und Kulturen. Diese reichen von weitgehend indigenen Gebieten bis hin zu Regionen mit enormer sprachlicher und religiöser Vielfalt. Der Staat stellt eine immense Herausforderung für alle politischen Parteien dar, die Wege finden müssen, um die Interessen der Bürger Assams auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, um deren Stimmen zu gewinnen.

Die diesjährigen Wahlen in Assam waren ein politischer Dreikampf. Gegen die regierende BJP und ihre lokalen Verbündeten – die Asom Gana Parishad (AGP), eine ethnisch-nationalistische Partei, und die United People's Party Liberal (UPPL), eine Partei der Bodo-Nationalisten – standen die von der Kongresspartei geführte Mahajot (Grand Alliance) sowie eine regionale Allianz aus zwei neugegründeten Parteien.

Wenn es einen Staat in Indien gibt, in dem Migration das zentrale politische Thema darstellt, so ist es Assam. Der Bundesstaat hat in seiner Geschichte zwei große Migrationswellen erlebt. Zunächst eine Migrationswelle von sowohl muslimischen als auch hinduistischen Bengalis, die hauptsächlich aus dem Gebiet des heutigen Bangladesch nach Assam kamen.  Diese Migration fand sowohl in der Zeit vor der Unabhängigkeit Indiens als auch in der Zeit danach statt. Zudem ist Assam einer der indischen Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung. Der Anteil liegt bei etwa 34%. Die muslimisch geprägten Distrikte Assams liegen rund um die Staatsgrenze zu Bangladesch. Genau diese Nähe zum heutigen Bangladesch und eine Geschichte politischer Konflikte um die Einwanderung bengalisch-muslimischer Bauern aus Bangladesch, die in der Vergangenheit das damalige Ödland Assams zu erobern suchten, legten die Wurzeln für eine assamesische Feindseligkeit gegenüber den einst nach Assam immigrierten bengalischen Migranten. Die Lage verschlimmerte sich zusätzlich, als die Bengali-sprechende Hindu-Elite Assams versuchte, die sprachlichen Bestrebungen der neu entstehenden assamesischen Elite – welche assamesisch spricht – zu untergraben.

Der Staat erlebte in der Vergangenheit mehrere gewaltsame Aufstände, insbesondere in den frühen 1980er Jahren, als die sogenannte Assam-Bewegung – angeführt von Assamesisch-sprechenden Einheimischen – von der indischen Zentralregierung verlangte, illegale bengalische Einwanderer aufzuspüren und abzuschieben. Die Bewegung bestimmte eine sechsjährige Periode anhaltender Kampagnen des zivilen Ungehorsams, politischer Instabilität und weit verbreiteter ethnischer Gewalt.

Beim Nellie Massaker 1983 wurden innerhalb von sechs Stunden mehr als 2.000 Muslime bengalischer Herkunft von hauptsächlich assamesischen Einheimischen getötet. Das Massaker wurde größtenteils durch die Entscheidung der damaligen indischen Premierministerin Indira Gandhi ausgelöst, die den rund 4 Millionen Einwanderern aus Bangladesch das Wahlrecht für regionale Wahlen gewährte. Die Assam-Bewegung endete 1985 mit dem Assam-Abkommen. Gemäß dieses Abkommens erhielten alle Immigranten, die vor dem 25. März 1971 nach Assam gekommen waren, die indische Staatsbürgerschaft. Der restliche Teil der Immigranten wurde abgeschoben.

Dies führt uns zurück zu den gegenwärtigen Wahlen, wo der von der BJP befürwortete Citizenship Amendment Act (CAA) den Stichtag für die Erlangung der indischen Staatsbürgerschaft von 1971 auf 2014 verschieben würde. In einem Staat, in dem mehr als ein Drittel der Einwohner Muslime sind und soziale Spannungen stets in der Luft liegen, stellt dies einen Anlass zur Sorge vor einem erneuten Ausbruch gewaltsamer ethnischer Konflikte dar. Die Reaktionen auf das CAA waren in Assam in der Tat vor allem bei der großen Mehrheit das Assamesisch-sprechenden Bevölkerung ausgesprochen negativ.

Bereits im Jahr 2019 kam es im ganzen Bundesstaat zu wochenlangen, oftmals gewalttätigen Ausschreitungen gegen dieses Gesetz. Die meisten Einwohner des Bundesstaates fürchten einen erneuten Zustrom von bangladeschischen Hindus. Darauf aufzubauen und Stimmen zu gewinnen versucht die Kongresspartei. Deren Führungspersönlichkeit Rahul Gandhi erklärte den Citizenship Amendment Act in zahlreichen Anlässen als Angriff auf die Sprache, Geschichte und Kultur von Assam und versprach, dass seine Partei nicht zulassen werde, dass dieses Gesetz in dem Bundesstaat umgesetzt würde, falls die Kongresspartei bei den Regionalwahlen an die Macht käme.

Die Strategie der BJP in Assam war es, dieses Minenfeld gänzlich zu umgehen. Ihr Wahlmanifest für Assam in diesem Jahr verschweig, ob die BJP plant, den CAA tatsächlich zu implementieren. Interessanterweise erklärte Amit Shah von der BJP jedoch während einer Wahlkampfveranstaltung in Westbengalen, die zeitgleich mit dem Wahlkampf in Assam stattfand, dass der CAA unter einer BJP-Regierung in Westbengalen umgesetzt werden solle. Die meisten Westbengalen sind, im Gegensatz zu ihren assamesischen Landsleuten, für den CAA.

Die Anti-CAA-Stimmung schien jedoch keine so entscheidende Rolle zu spielen. Die BJP-geführte Allianz gewann erneut und schrieb Geschichte in Assam, da sie nun als einzige Nicht-Kongress-Regierung eine aufeinanderfolgende Amtszeit im Staat gewann. Tatsache ist, dass die BJP durch eine Mischung aus Hindu-Nationalismus, assamesischem Regionalismus, Entwicklung, Wohlfahrtsprogrammen und Frieden im Staat erfolgreich die Anti-CAA-Stimmung reduzieren konnte.

In den letzten fünf Jahren der BJP-Regierung, unter Bundesminister Sarbananda Sonowal, ist die öffentliche Sichtweise vieler, dass sich die zuvor unter Kongress geführten Regierungen weit verbreitete Korruption deutlich reduziert hat. Abgesehen davon kommt der Bau von Straßen und Brücken der BJP in einem Bundesstaat zugute, der ansonsten in der Vergangenheit unter mangelnder Infrastruktur gelitten hat. Die Einweihung wichtiger Brückenbauwerke in Assam durch Premierminister Narendra Modi hat auch das Image der BJP als Pro-Entwicklungspartei gestärkt.

In den Augen der Bevölkerung Assams ist es der von Modi geführte BJP-Regierung zu verdanken, dass wichtige Infrastrukturmaßnahmen fertiggestellt wurden. Diese dienten der Anbindung des bisher vernachlässigten Staates an andere Teile Indiens. All diese Arbeiten zur Entwicklung der Infrastruktur, umgesetzt von der Regierung des Bundesstaates und des Zentralstaates – die beide von der BJP geführt werden – unterstreichen den „Doppelmotor“-Slogan der Safran-Partei. Das Image als Vorreiter einer erfolgreichen Entwicklungspolitik in einem massiv unter Arbeitslosigkeit leidenden Staat erklärt in hohem Maße den erneuten Erfolg der BJP in Assam.

Außerdem sind die meisten Bewohner Assams, ähnlich wie die BJP, starke Befürworter des Nationalen Bürgerregisters (NRC). Das NRC erlangte mit seiner Umsetzung in Assam nationale Bekanntheit. Im Kern ist das NRC ein offizielles Verzeichnis derjenigen, die legale indische Staatsbürger sind. Es enthält demographische Informationen über alle Personen, die gemäß des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1955 als indische Staatsbürger gelten. Der NRC-Prozess begann offiziell im Jahr 2015 und das aktualisierte endgültige NRC wurde 2019 veröffentlicht – wobei es über 1,9 Millionen Bewerber nicht auf die NRC-Liste schafften. 

Nach Protesten gegen den Ausschluss vieler Hindus von der Liste erklärte das indische Innenministerium, dass das NRC in Assam erneut durchgeführt werden solle. Seit der Durchführung des NRCs in Assam wachsen die Forderung nach seiner landesweiten Umsetzung. Inzwischen haben viele hochrangige BJP-Parteimitglieder – darunter auch Innenminister Amit Shah – vorgeschlagen, dass das NRC in ganz Indien umgesetzt werde. Die Wahlen in Assam zeigen, dass die BJP die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung besitzt, um diese Vorschläge in die Tat umzusetzen.

Das NRC hat bereits heute weitreichende Konsequenzen. In Assam wurden massive gefängnisartige Deportationskomplexe für die 1,9 Millionen Menschen errichtet, von denen viele seit Generationen in Assam gelebt haben und denen die indische Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Darüber hinaus hegen die muslimischen Bevölkerungsgruppen die Befürchtung, dass die Kombination aus CAA und NRC ausschließlich auf sie abziele, da das CAA allen Religionsgemeinschaften außer der muslimischen Bevölkerungsgruppe erlauben würde, ihre Staatsbürgerschaft zurück zu erlangen, falls sie ihnen vorab durch das NRC entzogen wurde. Die einzige Religionsgruppe, welche außen vor bleiben würde, wären die assamesischen Muslime, die es nicht auf die NRC-Liste geschafft haben und die mit einer Deportation ohne Chance auf eine legale Rückkehr nach Indien bedroht wären.

Der Wahlsieg der BJP-Allianz hat daher nicht nur über die Politik des Bundesstaates entscheiden, sondern auch über die Richtung der auf nationaler Ebene geführten Debatte um das Nationale Bürgerregister und den Citizenship Amendment Act. Eine effektive Umsetzung des CAA im Bundesstaat scheint nun nur noch eine Frage der Zeit zu sein und auch eine landesweite Umsetzung hat durch den Wahlausgang zusätzlich erheblichen Aufwind erhalten.

 

Kerala

Inmitten des oft schwer durchschaubaren Parteiendschungels in Kerala, wo sich regionale Parteien über die Jahre immer wieder gespalten, gegabelt, neu verzweigt und verflochten haben, war eine Tatsache stets gewiss: Die Regierung wechselt bei jeder Wahl zwischen der von den Kommunisten geführten „Left Democratic Front“ (LDF) und der von der Kongresspartei geführten „United Democratic Front“ (UDF). Die Wahlen in diesem Jahr haben jedoch der vier Jahrzehnte alten Wählertradition des Staates getrotzt: die LDF, unter der Führung ihres Ministerpräsidenten Pinarayi Vijayan, bewahrte ihre Regierung im so genannten „Gottes eigenem Land“ mit einem deutlichen Sieg von 97 Sitzen im Vergleich zu den 41 Sitzen der UDF.

Unterstützt von der geschichtlichen Erfahrung und einem mitreißenden Sieg bei den Lok Sabha-Wahlen 2019 in Kerala, wo die vom Kongress geführte United Democratic Front (UDF) 19 von 20 Sitzen gewann, stellt die diesjährige Niederlage die wohl schwerste Enttäuschung für die Kongresspartei dar. Verschiedene führende Vertreter der Kongresspartei, insbesondere Rahul Gandhi, investierten in diesem Bundesstaat mehr Zeit und Ressourcen als in allen anderen Staaten, die zu den Urnen schritten. Die Wahlniederlage vertieft daher die sich immer mehr ausweitende Krise, in der sich die Partei seit ihrer Niederlage gegen die BJP bei den Parlamentswahlen 2014 befindet. Ähnlich wie in Westbengalen verdeutlicht sie die Stärke charismatischer Führungspersönlichkeiten regionaler Parteien.

Die BJP hingegen verlor ihren einzigen Sitz in Kerala, was den Staat zum einzigen Parlament in Indien macht, in dem die BJP nicht vertreten ist. Im krassen Gegensatz zu den Regionen im Norden des Subkontinents kämpft die Safran-Partei immer noch darum – mit Ausnahme von Karnataka ­­– in den südlichen Bundesstaaten Fuß zu fassen.

 

Puducherry

In ihrem Endziel, eine allumfassende indische Partei vom Norden bis in den tiefsten Süden zu werden, stellt das Unionsterritorium Puducherry einen wichtigen Baustein für die BJP dar. Allerdings hatte die BJP in der jüngsten Vergangenheit keine große Verankerung in dem aus einer ehemaligen französischen Kolonie hervorgegangenen Unionsterritorium, das lange Zeit ein Bollwerk der Kongresspartei darstellte. Bei den Parlamentswahlen 2016 gewann die BJP keinen einzigen Sitz.

Jedoch hat der Austritt einiger Spitzenpolitiker aus der Kongresspartei hin zur BJP die erstere in Puducherry stark geschwächt. Zudem eröffnete die Auflösung der vom Kongress geführten Regierung in Puducherry, die aufgrund einer Regierungskrise quasi am Vorabend der diesjährigen Wahlen erfolgte, der BJP unvermittelt die Möglichkeit, im Bündnis mit regionalen Partnerparteien an die Regierung zu gelangen.

All diese Faktoren spielten der BJP in die Karten, die in Allianz mit ihren beiden regionalen Parteiverbündeten 16 der 30 Sitze der Puducherry Parlamentswahlen gewann. Der Kongress und sein regionaler Parteiverbündeter gewannen nur 9 Sitze. Damit ist es der Kongresspartei nicht gelungen, seine letzte Bastion im Süden zurückzuerobern.

Dieser Sieg sollte nicht unterschätzt werden, denn Puducherry, obwohl für indische Verhältnisse mit „nur“ etwa 1,3 Millionen Einwohnern geradezu mickrig, könnte den Vormarsch der BJP im Süden, der mehrheitlich von regionalen Parteien regiert wird, erheblich beflügeln. Die Regierung des Unionsterritoriums bietet der BJP nun die Chance, ihren Einflussbereich im umgebenden Tamil Nadu behutsam auszuweiten, eine Region, die immer noch eine Art Waterloo für die BJP darstellt.

 

Tamil Nadu

Bei der Wahl zur 16. Parlamentarischen Versammlung von Tamil Nadu kam es zum entscheidenden Duell zwischen zwei regionalen drawidischen Parteien, der All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK), die auf einen lupenreinen Hattrick-Wahlsieg hoffte, und der Dravida Munnet Kazhagam (DMK), die nach zehn Jahren wieder die Regierung übernehmen wollte. In diesem Bestreben bildete die DMK eine Koalition mit der Kongresspartei, während die AIADMK ein Bündnis mit der BJP wählte.

Am Ende eines strapaziösen viermonatigen Wahlkampfes, dem wahrscheinlich längsten Wahlkampf in der Geschichte des Bundesstaates, steht diesmal ein Regimewechsel in Tamil Nadu an. Der Bundesstaat hat die DMK gewählt, die nun die Kontrolle über Fort St. George, den Sitz der Regierung von Tamil Nadu, übernehmen wird. DMK-Parteichef M.K. Stalin ist nun bereit, den Eid als Ministerpräsident Tamil Nadus zu leisten. Von den 234 Wahlbezirken im Bundesstaat gewann das DMK-geführte Bündnis mit 159 Sitzen eine klare Mehrheit.  Die AIADMK-geführte Front gewann nur 75 Sitze. Allerdings war es auch kein überwältigender Umschwung zugunsten der DMK-geführte Allianz. Die Allianz erhielt 44,37% der Gesamtstimmen, und die AIADMK-geführte National Democratic Alliance (NDA) lag mit 39,73% der Stimmen nicht allzu weit dahinter.

Die DMK machte die BJP zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Kampagne und behauptete beispielsweise, dass jede für die AIADMK abgegebene Stimme der Safran-Partei zugerechnet würde, die immer noch nicht bei allzu vielen im südlichen Bundesstaat Anklang zu finden scheint. Immerhin gewann die BJP jedoch vier der 20 Sitze, für die sie antrat. Damit hat die Partei zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder Sitze in Tamil Nadu gewonnen und ein ordentliches Ergebnis für die Safran-Partei erzielt.

Auf der anderen Seite sicherte sich die Kongresspartei sogar ein noch besseres Ergebnis, indem sie 18 der 25 Sitze gewann, für die sie angetreten war, und sogar vier der fünf Sitze, um die sie mit der BJP konkurriert hatte. Dieser Sieg der Kongresspartei ist allerdings mit der nötigen Vorsicht zu genießen, da sich der gewonnene Stimmenanteil der Kongresspartei im Vergleich zu den letzten Bundesstaatswahlen von etwa 6% auf 4% verringert hat.

 

Fazit

Als die Bharatiya Janata Party 2014 die Lok Sabha-Wahlen gewann, beruhte ihr Sieg in erster Linie auf einer überwältigenden Erfolgsquote im Norden und Westen des Subkontinents. Nach dem Machterhalt in Assam wird deutlich, dass sie aus dem alten Stereotyp, als Hindi-Herzland-Partei gesehen zu werden, ausgebrochen ist. Sie scheint sich nun im Nordosten dauerhaft niedergelassen zu haben und befindet sich offenbar auch im Süden durch den Sieg in Puducherry auf dem Vormarsch.

Die Wiederwahl der BJP in Assam zeigt, dass sie trotz massiver Kontroversen wie dem CAA an der Macht bleiben kann, indem sie der Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl vermittelt, für Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung zu stehen und zu sorgen. Dies ist auch ein bedeutendes Zeichen im Hinblick auf die nächsten nationalen Parlamentswahlen, denn die aktuellen Wahlen haben der von der Kongresspartei geführten Opposition gezeigt, dass es kein leichtes Unterfangen sein wird, die von der BJP im ganzen Land geführte Politik herauszufordern – trotz der zahlreichen Kontroversen, welche die BJP umgeben. Diese Wahlen haben auch gezeigt, dass die massiven Wirtschaftsreformen der BJP großes Vertrauen zu genießen scheinen. Die Partei wird weiterhin von der Mehrheit der mehr als 1,3 Milliarden Bürger als eine Partei mit wirtschaftlichem Sachverstand wahrgenommen.

Doch angesichts der verheerenden zweiten Welle der Pandemie und der Bilder von Tausenden von Toten, die täglich um die Welt gehen, könnte das hartnäckige Beharren der BJP auf der Durchführung der Wahlkundgebungen in Westbengalen bei vielen Wählern in ganz Indien einen bleibenden Vertrauensschaden hinterlassen haben. Ob dies einen Einfluss auf die Parlamentswahlen 2024 haben wird, bleibt abzuwarten.

Im Hinblick auf die Wahlen in Westbengalen muss man bedenken, dass das Ergebnis zwar weit hinter den Erwartungen der BJP zurückgeblieben ist, die Partei jedoch auch nicht schlecht abgeschnitten hat. In Westbengalen ist die BJP nun die einzige Kraft, die es in Zukunft mit der AITC aufnehmen kann. Die Kongresspartei scheint keinerlei Bedeutung in Banerjees Staat zu spielen. Die Bundesstaatswahlen mit den ausgesprochen negativen Ergebnissen für das von der Kongresspartei geführten Mahajot-Bündnis und den guten Ergebnissen für die Regionalpartei in Westbengalen und Kerala zeigen zudem, dass sich das Kräfteverhältnis in der Opposition zwischen dem Kongress und den Regionalparteien weiter in Richtung der Regionalparteien neigt, wobei die individuelle Stärke der Kongresspartei immer weiter eingeschränkt zu seien scheint.

Als derzeit einzige weibliche Ministerpräsidentin in Indien ist Banerjee auch die einzige Führungspersönlichkeit, die nun gegen alle drei großen nationalen politischen Strömungen angetreten ist und bestanden hat – zuerst kämpfte sie jahrzehntelang gegen die Linke und verdrängte sie 2011 von der Macht; sie kämpfte gegen die BJP und besiegte sie in den diesjährigen Wahlen und sie kämpfte gegen die Kongresspartei und besiegte diese in den 1990er Jahren.

Banerjee geht aus diesen Wahlen als eine der mächtigsten regionalen Führungspersönlichkeiten Indiens hervor und könnte als mögliches Bindemittel für die Einheit, vor allem unter allen politischen Kräften, die nicht der BJP angehören, dienen. Eine solch starke Oppositionseinheit, gespickt mit regionalen Parteien und angeführt von der Kongresspartei, auch auf nationaler Ebene schmackhaft zu machen, wird auch stark davon abhängen, wie Banerjee mit der massiven Herausforderung des rapiden COVID-Anstiegs in ihrem Bundesstaat in den nächsten Monaten umgehen wird.

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