Kolloquium über die Grundsatzurteile des BVerfG - Auslandsbüro Marokko
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Das Ziel dieses "Studientages" war eine eingehende Auseinandersetzung mit der nunmehr auch auf Arabisch vorliegenden Publikation der kommentierten Grundsatzurteile des BVerfG in den Bereichen Menschen- und Bürgerrechte sowie Rechtsstaat. Diese über 800seitige Übersetzung, die Prof. Ahmed Soudani in jahrelanger Arbeit geleistet hat, findet sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik und in den Gerichten Marokkos sehr viel Aufmerksamkeit.
Eröffnet wurde der Studientag von Prof. Azzeddine Ghoufrane, dem Dekan der Fakultät für Wirtschafts-, Sozial- und Rechtwissenschaften in Rabat. Im Namen der KAS sprach anschließend Dr. Helmut Reifeld, Landesbeauftragter der KAS für Marokko, und Prof. Amal Imechrafi als Leiter des „Laboratoire de recherche en performance juridique et institutionnelle“.
Als Vertreterin des BVerfG war die Richterin, Frau Dr. Kessal-Wulf, angereist, um einleitend über die Bedeutung dieser Urteilsbegründungen primär für Deutschland aber auch darüber hinaus zu sprechen. Sie ging in ihrer Rede vor allem auf die Organisation des Bundesverfassungsgerichts und seine Rechte ein. Außerdem erklärte sie, wer unter welchen Voraussetzungen einen Rechtsstreit vor das Bundesverfassungsgericht bringen kann, und erläuterte die verschiedenen Aufgaben und Rollen des Gerichts. Dabei spielte vor allem der Schutz der Verfassung eine zentrale Rolle, welcher darin besteht, die administrativen und juristischen Entscheidungen sowie die Maßnahmen des Gesetzgebers zu beobachten und zu untersuchen. Hieraus ergaben sich zahlreiche Ansätze, an die die folgenden Sektionen anknüpfen konnten (der Impulsvortrag von Frau Dr. Kessal-Wulf hängt an).
An die Ausführungen von Frau Dr. Kessal-Wulf anknüpfend, gingen zahlreiche Teilnehmer
auf die Entwicklung der deutschen Verfassungsgerichtbarkeit, deren zentrale Rolle beim Aufbau des Rechtsstaats und deren Einfluss auf die Verfassungsgerichtbarkeit zahlreicher anderer Länder ein. Sie würdigten die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts als Richtschnur für die Gewaltenteilung, die Organisation der Institutionen, den Schutz der Freiheit und der Grundrechte sowie für sensible gesellschaftliche Fragestellungen. Sie gingen zudem auf die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Prinzipien ein, die vom Bundesverfassungsgericht hergeleitet wurden und die juristische Grundlage der deutschen Verfassung und deren Bezug zum Gesetz, zur Politik und zur Demokratie bilden.
Frau Dr. Kessal-Wulf unterstrich abschließend noch einmal die generelle Bedeutung der Entscheidungen des Gerichts zu Verfassungsfragen. Diese Entscheidungen sind mit Machtausübung verbunden und haben unter anderem einen Einfluss auf die Vorrechte des Bundes und der Länder. Sie können viele Bereiche betreffen: die Innen- oder Außenpolitik, die Politik der Parteien und ihre Programme sowie die Grundrechte und Freiheiten – zum Beispiel die Glaubensfreiheit, die rechtlichen Bestimmungen zur Abtreibung, und die Menschenwürde. All diese Themen wurden bereits vom Verfassungsgericht behandelt, das sich dabei sowohl auf eine am Individuum orientierte als auch auf eine juristische Herangehensweise stützte.
Der erste Teil der Veranstaltung wurde vom ehemaligen Präsident des marokkanischen Verfassungsrats, Dr. Mohammed Achergui, präsidiert. Die maßgeblichen Beiträge leisteten die Professoren Ahmed Soudani, Sobhallah Ghazi, Abdel Aziz Alqaraki, Hassan Tariq, Ahmed Bouz und Abdelkrim Elhoudaigui. Sie fokussierten sich auf die Lektüre des ersten Buches: „Föderalstaat und Rechtsstaat“ und unterstrichen die Bedeutung des Schutzes der Bundesverfassung und der fünf Grundpfeiler des deutschen Verfassungssystems: die Republik, den Föderalismus, die Demokratie, den Sozialstaat und den Rechtsstaat. Die Redner wiesen darauf hin, dass das Verfassungsgericht maßgeblich zum Schutz der Rechte und Freiheiten beiträgt. Zudem hoben sie noch einmal die Charakteristiken des Bundesverfassungsgerichts hervor und analysierten seine wichtigsten Urteile in verschiedenen Bereichen, wie der Verfassungsgerichtbarkeit, dem Rechtsschutz und der Definition von Pflichten und ihren Grenzen.
Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts und seine Zusammensetzung wurden ebenso diskutiert wie seine breiten Kompetenzen vor allem in Bezug auf die Einhaltungskontrolle der Grundrechte und der Freiheiten, aber auch auf Beschlüsse zur Versetzung und Pensionierung von Richtern, die Überwachung von Gerichtsentscheidungen und die Auflösung von Parteien. In der Diskussion wurde wiederholt die Einzigartigkeit der Gesetzgebung des Bundesverfassungsgerichts betont, da sie als inspirierende Quelle für die Gesetzgeber der Bundesrepublik und Europas sowie für andere Gerichte auf Bundes- und Länderebene dient.
Der zweite Teil der Veranstaltung war der Lektüre des zweiten Buches mit dem Titel „Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts: Grundrechte und Freiheiten“ gewidmet. Die Professoren Abdelkadr Alaaraari, Abdel-Jabbar Aarach, Ahmed Ajaoun und Hakima Hadri prägten diesen Teil und unterstrichen die Bedeutung der Rechtsprechung für Deutschland und den europäischen Raum. Sie gingen besonders auf die soziale Orientierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein, die sich in mehreren Entscheidungen niedergeschlagen hat, und zwar vor allem in den Urteilen zu den Grundrechten, zur Agrarproduktion, zu Staudämmen, zu historischen Monumenten und zu Einschränkungen des Eigentumsrechts, dessen soziale Funktion betont wird.
Im Bereich des Eigentumsrechts hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Prinzipien festgelegt:
- Das Eigentumsrecht ist ein Verfassungs- und Grundrecht und jede Gesetzgebung, welche dieses Recht angreift ist verfassungswidrig.
- Die soziale Funktion des Eigentums wird hervorgehoben. Der Gesetzgeber muss das Gleichgewicht zwischen Einzelinteressen und öffentlichen Interesse berücksichtigen.
- Die Judikative, speziell das Bundesverfassungsgericht, ist ein Garant für das Eigentumsrecht, welches ein Verfassungs- und Grundrecht ist.