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Länderberichte

Parlamentswahlen in Russland

von Dr. Lars Peter Schmidt †, Dr. Irina Ochirova

Ergebnisse und Bewertung

Russland hat am 04. Dezember 2011 einneues Parlament gewählt. Die regierendePartei Einiges Russland hat deutlichStimmen verloren, erreicht dennochknapp die absolute Mehrheit.

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Das Ergebnis

ist eine deutliche Schlappe für die derzeit

regierende Elite Russlands. Das vorläufige

Wahlergebnis sieht wie folgt aus:

Einiges Russland – 49,54%; KPdRF –

19,16%; Gerechtes Russland – 13,22%;

LDPR – 11,16%; Jabloko – 3,3%; Patrioten

Russland – 0,97%; Rechte Sache –

0,59% Die Opposition und Wahlbeobachter

der OSCE gehen von Wahlmanipulationen

in den großen Städten und einigen

Regionen aus.

Die am 4. Dezember 2011 gewählte Duma

erfährt in dieser Legislaturperiode nicht nur

auf Grund ihrer veränderten Zusammensetzung

eine Erneuerung, auch die personelle

Zusammensetzung der Fraktionen wurde

teilweise grundlegend verändert. So

verblieben nur 170 von 315 Abgeordneten

der Partei Einiges Russland (ER) auf der

Wahlliste. Neue, überwiegend junge Abgeordnete

sind dazu gekommen.

Während des Wahlkampfes setzten die Parteien

unterschiedliche Akzente. Die ER stellte

ihre beiden Führungsfiguren, Putin und

Medwedew, in den Vordergrund und betonte

die Stabilität der Politik und Wirtschaft des

Landes.

Die von der ER thematisierte Stabilität wurde

von den gegnerischen Parteien aufgegriffen

und als Stagnation stigmatisiert. Insgesamt

dominierte der Slogan „Wählt egal

wen, Hauptsache nicht ER“ den Wahlkampf.

Ein weiterer Schwerpunkt war die starke

Fokussierung auf Gerechtigkeitsaspekte und

soziale Probleme. Die Parteien verzichteten

weitgehend auf nationalistische Rhetorik,

mit Ausnahme der Liberal-Demokratischen

Partei Russlands (LDPR). Insgesamt war der

Wahlkampf im Vergleich zum Jahr 2007

langweilig und nichtssagend. Eine Konfrontation

der jeweiligen Spitzenkandidaten fand

nicht statt, ebenso gab es keine offenen

Diskussionen mit den Wählern.

Im Vorfeld der Wahl schwankte das prognostizierte

Ergebnis von unabhängigen Instituten

für Einiges Russland zwischen 45

und 52 Prozent. Das tatsächliche Wahlergebnis

bestätigt die Umfragen. Dies

schränkt den Vorwurf der massiven Wahlmanipulation

ein.

Mit dem Verlust von knapp 14 Prozent der

Stimmen verliert Einiges Russland seine

zweidrittel Mehrheit im Parlament. Eine eigenständige

Verfassungsänderung ist nicht

mehr möglich. Die Ursachen für diesen Vertrauensverlust

der russischen Wähler sind

vielfältig. Zum einen liegen sie in der Wirtschaftskrise,

die Russland dank den vorher

angehäuften Währungs- und Goldreserven

einigermaßen verkraften konnte, die jedoch

eine strukturelle Schwäche der russischen

Wirtschaft aufzeigte, die die Regierung bislang

nicht beseitigten vermochte. Zum anderen

liegen sie in der allgemeinen Stagnation

der politischen Entwicklung und der Unzufriedenheit

der Russen. Diese entwächst

der Differenz zwischen den propagierten

Zielen und vermeintlichen Erfolgen von ER

und der tatsächlichen Lage im Land. Die Bestrebung

der Machtpartei, eine möglichst

große Kontrolle auszuüben und die Administration

landesweit in die Partei einzubinden,

macht sie ebenfalls angreifbar. Die Ineffektivität

und der nicht gelungene Abbau

der Korruption und der Bürokratie werden

ER angelastet.

Vor allem die junge Generation in Russland

hat es verstanden, einen Missbrauch der

administrativen Ressourcen zu Gunsten von

ER eingesetzten Bürokraten und die Einseitigkeit

staatlicher Medien zu erkennen, und

lehnt diese entschieden ab. Die sowjetische

Art des Wahlkampfes von ER kam bei jüngeren

Wählern und bei der neu entstandenen

Mittelschicht ebenfalls nicht an. Insgesamt

verloren Partei und Führung an Charisma

und ihre Aussagen an Überzeugungskraft.

Die russische Mittelschicht ist mit der

geschaffenen Stabilität allein nicht mehr zufrieden

und fordert mehr politische Partizipation

ein. Die Torpedierung der Partei

Rechte Sache durch die Kremladministration

und die befremdlich wirkende Rochade der

beiden Führungsfiguren führten bei dieser

Wählerschaft zur Frustration und wachsenden

Unmut. Während sich die Prioritäten

der russischen Bürger mit der Verbesserung

der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen

gewandelt haben, stagniert die Partei

und setzt weiter auf überholte Parolen.

Die Erfolge der Opposition können größtenteils

mit der allgemeinen Proteststimmung

der russischen Bevölkerung erklärt werden.

Sie hatte aber auch wenig Möglichkeiten,

sich in einem von ER dominierten Parlament

durch ihre Arbeit hervorzutun. Ihr Erfolg

verdient aber auch Respekt, angesichts der

immensen Mittel die ER zur Beeinflussung

der Wahl aufgebracht hat.

Die Kommunistische Partei der Russischen

Föderation (KPdRF) stellt die zweitstärkste

Fraktion in der Duma. In Anbetracht dessen,

dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung

Russlands die einzige wirkliche Opposition

während der letzten Legislaturperiode

darstellten, waren sie die erste Anlaufstelle

für die meisten Proteststimmen. Ihr Erfolg

hat seinen Ursprung in der allgemein empfundenen

Ungerechtigkeit in Russland und

der Nostalgie der Russen nach der vermeintlichen

sozialen Absicherung der Sowjetzeit.

Die kommunistische Ideologie und

Vergangenheit der Partei stößt dagegen auf

eine breite Ablehnung innerhalb der russischen

Gesellschaft.

Einen überraschenden und immensen

Stimmenzuwachs erhielt die Partei Gerechtes

Russland. Vor der Wahl bezweifelten die

meisten Beobachter ihren Einzug ins Parlament

und sahen die Partei in der Bedeutungslosigkeit

versinken. Die klare Positionierung

als Oppositionspartei und ihre Distanzierung

von ER seit dem Frühjahr 2011

verschafften ihr doppelt so viele Stimmen,

wie bei der letzten Wahl. Durch eine der

KPdRF ähnliche Ausrichtung, jedoch ohne

den kommunistischen Unterbau, hat die

Partei jetzt eine Chance sich als eine ernstzunehmende

Oppositionspartei mit einer

sozialdemokratischen Ausrichtung in Russland

zu etablieren.

Die LDPR konnte wie gewöhnlich die rechts

und nationalistisch ausgerichteten Wähler

mobilisieren.

Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien

gelang es, wie schon bei der Wahl

2007, nicht die Sieben-Prozent-Hürde zu

überspringen. Ihr Bild im Vorfeld der Wahlen

war eher durch Streit und Konzeptionslosigkeit

geprägt. Tatsächlich verbinden die

meisten Russen vor allem mit liberalen Parteien

wie Jabloko das Chaos der 1990er

Jahre und machen sie bis heute in vollem

Umfang dafür verantwortlich, so dass sie als

Wahlalternative bisher nicht in Betracht gezogen

werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen,

dass die russische Parteienlandschaft dabei

ist sich zu diversifizieren. Auf der einen Seite

findet man eine weitgehend konsolidierte

aber immer noch populistische Linke, auf

der anderen Seite eine weitgehend sozialkonservative

Rechte mit der ER. Rechtsaußen

steht die ultranationalistische LDPR.

Es ist wohl zu erwarten, dass die neue zusammengesetzte

Duma die russische Politik

nicht entscheidend verändern wird. Doch

kann eine jetzt gestärkte Opposition selbstbewusster

und unabhängiger agieren und

mehr Druck auf die Regierungspartei ausüben.

Die namentliche Zusammensetzung der

Duma ist noch nicht bekannt und wird erst

nach der offiziellen Verkündigung des Wahlergebnisses

veröffentlicht. Dies liegt vor allem

am komplizierten Wahlverfahren und einer besonderen Berücksichtigung der Regionallisten.

Die erstmalig für 5 Jahre gewählte Staatsduma

der 6. Wahlperiode (seit 1991) muss

sich laut der Art. 99 der Verfassung der RF

nicht später als am 30. Tag nach der offiziellen

Veröffentlichung zusammenfinden.

Optimistischen Einschätzungen zur Folge

könnte die erste Sitzung bereits am 26.

oder 27. Dezember 2011 stattfinden.

Vorläufiges Ergebnis der Parlamentswahlen

in Russland am 4.12.2011 bei

96% der ausgezählten Wählerstimmen

Die vorläufige Sitzverteilung in der Staatsduma

bei dem aktuellen Wahlergebnis wäre

folgende (Ergebnis 2007): 238 (315) Sitze

bei Einiges Russland, 92 (57) bei Kommunisten,

64 (38) bei Gerechtes Russland und

LDPR bekäme 56 (40) Sitze im russischen

Parlament.

Die Reaktionen der russischen Presse zu

den Dumawahlen variieren erheblich. Während

die regierungsfreundlichen Medien

(Rossijskaja Gazeta) sich auf die Beschreibung

des Wahlverlaufes und vorläufige positive

Meldungen der GUS-Wahlbeobachter

konzentrieren, üben die oppositionellen Zeitungen

starke Kritik in der Einschätzung der

Fairness der Wahlen. So warf „Nowaja Gazeta“

der Regierungspartei „Einiges Russland“

zahlreiche Wahlmanipulationen vor.

Auch die OSCE-Wahlbeobachter meldeten in

ihrem Bericht häufige Verstöße bei den Parlamentswahlen,

vor allem während der

Stimmenauszählung. Am Tag nach der Wahl

gab es in Petersburg und Moskau Proteste

wegen der Wahlverstöße.

Für Empörung im Internet sorgten die am

Wahltag verübten Hacker-Angriffe auf Internetseiten

einiger regierungskritischer

Medien, wie der Zeitung „Kommersant“,

Zeitschrift „The New Times“, Radiosender

„Echo Moskvy“, und auf die Webseite von

Live Journal. Unter diesem Angriff litt besonders

die Assoziation „Zur Verteidigung

der Rechte der Wähler“ (Golos), die auf ihrer

Homepage eine „Karte der Verstößen“

gegen das Wahlgesetz veröffentlichte. Ihre

Website wurde ebenfalls mit DDoS angegriffen

und komplett lahmgelegt. Die Legitimität

von Golos und ihrer finanziellen Quellen

wurden durch einige Abgeordnete der

Staatsduma schon im Vorfeld der Wahlen in

Frage gestellt. Ein Moskauer Gericht hatte

die Gruppe wegen Verstöße gegen die

Wahlordnung mit einer Geldstrafe belegt

und die Schaffung eines negativen Bildes

von ER bei den Wählern vorgeworfen.

Zwar gelten zur Beurteilung einer demokratischen

Wahl, hinsichtlich ihrer Fairness und

der daraus abgeleiteten Legitimität, überall

die gleichen Anforderungen, jedoch muss

man die länderspezifischen Unterschiede

und vor allem den geschichtlichen Kontext

immer mit berücksichtigen. Das Verlangen

nach einer starken und damit autoritären

Führung ist in Russland immer noch verbreitet,

die negative Erfahrung der 1990er Jahre

tritt dabei als zusätzlicher Multiplikator

auf. Insofern findet das heutige politische

System in Russland auch weiterhin bei breiten

Bevölkerungsteilen seine Zustimmung.

Trotzdem bleibt die Russische Föderation

ein, zumindest in seiner Grundausrichtung,

demokratischer Staat, wenn auch mit erheblichen

Defiziten. Der Rechtsnationalismus

und seine Instrumentalisierung für den

Wahlkampf werden von den meisten Parteien

entschieden abgelehnt. Rechtsnationalistische

Auswüchse stellen aber eine zunehmende,

im Westen kaum wahrgenommene

Gefahr, für den russischen Staat dar.

Vor dem Hintergrund des geschichtlichen

Kontextes müssen auch die Parlamentswahlen

in Russland betrachtet werden. Einerseits lässt sich sagen, dass die Wahlen Defizite

nach westlichen Standards aufwiesen.

Vor allem die Berichterstattung, im immer

noch eine große Rolle spielenden staatlichen

Fernsehen war klar einseitig. Andererseits

waren alle registrierten Parteien per gesetzlicher

Quote, im Gegensatz zu 2007, im

staatlichen Fernsehen vertreten und eine

systematische, großflächige Wahlmanipulation

wurde bisher nicht festgestellt. Es

mangelte auch nicht an alternativen Informationsquellen.

Wie bei keiner Wahl zuvor

in Russland diente das Internet für eine

Vielzahl von Russen als unabhängige Informationsquelle,

auf der in Blogs und sozialen

Netzwerken über die Wahlen debattiert

wurde. Das Internet ist in Russland bei weitem

nicht nur einer Minderheit vorbehalten,

das Land hat jüngsten Statistiken zur Folge

die meisten Internetnutzer in Europa, noch

vor Deutschland. Auch die russische Tagespresse

bot ein differenziertes und weitgehend

objektives Bild. Selbst die schärfsten

Kremlkritiker, wie der inhaftierte Chodorkowski,

sind vor den Wahlen in den landesweit

vertriebenen Printmedien zur Wort gekommen.

Bei der Analyse der Dumawahlen sollte man

berücksichtigen, dass ER innerhalb der RF

tatsächlich von einem Großteil der Bevölkerung

unterstützt wird und bei all ihren Defiziten

auch einige Erfolge aufweist. Das

Überwinden der ersten Welle der Wirtschaftskrise,

die positive wirtschaftliche

Entwicklung des Landes, enorme Einkommenssteigerungen

im letzten Jahrzehnt,

Verbesserungen im sozialen und medizinischen

Bereich und der inneren Sicherheit,

eine Reform und Modernisierung der Streitkräfte

und Erfolge bei der Terrorbekämpfung

sind aus Sicht der Mehrheit der russischen

Wähler Erfolge der Politik von ER,

weshalb sie für eine Mehrheit wählbar

bleibt.

Die tatsächliche Regierungsbildung erfolgt

erst nach der Präsidentschaftswahl am 04.

März 2012. Ihre Zusammensetzung bleibt

abzuwarten. Im Vorfeld der Wahl kündigte

der zukünftige Ministerpräsident Medwedew

eine breit aufgestellte und junge Regierung

an. Diese Regierung wird auf eine erstarkte

Opposition treffen und zu Eingeständnissen

bereit sein müssen. Tatsächlich bietet der

Verlust der zweidrittel Mehrheit durch die

ER der Opposition eine Chance der Regierungspartei

bei wichtigen Reformfragen Zugeständnisse

abzuringen.

Einen Ausblick auf die zukünftige russische

Außenpolitik konnte man bereits während

des Wahlkampfes erhalten. Das Projekt einer

Eurasischen Union soll dabei einen

Kernpunkt – mit Schaffung einer gemeinsamen

Wirtschaftzone – bilden. Dabei wurde

deutlich, dass sich die russische Politik in

Zukunft stärker auf den post-sowjetischen

Raum konzentrieren wird. Die EU als Partner

verliert jedoch nicht an Bedeutung.

Russland bleibt weiterhin abhängig von seinen

Rohstoffexporten und benötigt Europa

als Partner bei der Modernisierung seiner

Wirtschaft.

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