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Menschenrechte in Russland

Die Institution des Menschenrechtsbeauftragten zwischen Soldatenschinderei und zivilgesellschaftlichem Engagement

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Menschenrechte in Russland. Die Institution des Menschenrechtsbeauftragten zwischen Soldatenschinderei und zivilgesellschaftlichem Engagement

Die Öffentlichkeit in Russland ist so empört wie schon lange nicht mehr. Der Präsident und der zuständige Minister fordern gründliche Untersuchungen, rasche Aufklärung und Verurteilung der Straftäter. Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Förderation ruft die Menschen zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf und fordert mehr Autonomie und Vollmachten. Menschenrechtsorganisationen und die neu gegründete Öffentliche Kammer der Nichtregierungsorganisationen beteiligen sich aktiv und lautstark an der Suche nach langfristigen Lösungsansätzen.

Der Skandal um den in der Sylvesternacht schwerst misshandelten Gefreiten Sytschow in der Panzerschule Tscheljabinsk, dem als Folge Beine, Genitalien und ein Finger amputiert werden mussten, hat mit neuer Vehemenz die extremen Missstände in den russischen Streitkräften ans Licht geführt. Er beleuchtet darüber hinaus aber auch das große Engagement vieler russischer Nichtregierungsorganisationen, die trotz einer oft durch Selbstzensur und staatlicher Kontrolle geplagten Presse, trotz der scharfen neuen Gesetze und der Kultur des Mundhaltens in der Armee Unrecht aufdecken und Konsequenzen herbeiführen. Und er zeigt die Notwendigkeit der Stärkung der bisher nicht über Beratungs- und Empfehlungskompetenzen hinausgehenden Institution des Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung.

Der Fall Sytschow wäre wohl – wie viele andere ähnliche Fälle landesweit – nie an die Öffentlichkeit gekommen, wäre nicht die Beharrlichkeit des Vereins „Komitee der Soldatenmütter“ gewesen. Eine Vertreterin hatte die örtliche Staatsanwaltschaft in Tscheljabinsk eingeschaltet; anschließend veröffentlichten Zeitungen Einzelheiten des erschreckenden Vorfalls. Dieser war bereits drei Wochen von den Leitern der Panzerschule und den Militärärzten vertuscht worden; auch Verteidigungsminister Ivanov erfuhr erst über die Presse von den Geschehnissen: er ordnete umgehend eine Untersuchung an.

Mittlerweile sind weitere Fälle der Rekrutenschinderei im ganzen Land ans Licht gekommen. Die Öffentlichkeit beginnt, die bereits von Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, wie den Soldatenmüttern, lange angezweifelten offiziellen jährlichen Statistiken des Verteidigungsministeriums über derartige Ereignisse im Lichte der Zahlen zu „Unfällen“ und „Selbstmorden“ zu hinterfragen:

Es gab im vergangenen Jahr 20.360 Verbrechens- und Disziplinarfälle in der ca. 830.000 Soldaten zählenden russischen Armee; nach Angaben des Militärstaatsanwalts wurden 16.000 Personen angeklagt, 550 Offiziere wurden wegen Rekrutenmisshandlung verurteilt. Registriert wurden 1064 Tode unter den Wehrdienstleistenden (nicht eingeschlossen sind die in Kampfhandlungen Umgekommenen) und 276 Selbstmorde . Die Soldatenmütter glauben, dass Misshandlungen mit Todesfolge oft als Dienstunfälle und Selbstmorde kaschiert werden; sie schätzen, dass nur jeder zehnte Misshandlungsfall aufgrund der Angst vor Vergeltung gemeldet wird. Die Dunkelziffer von Selbstmorden schätzen sie ebenfalls um ein vielfaches höher.

Entspricht dies den Tatsachen, so kann die in Russland allgemein als „Dedowschina“ bekannte Züchtigung als systematisches Problem in den Streitkräften angesehen werden. Auch der Vorsitzende der Öffentlichen Kammer, des neu gegründeten beratenden Organs aus Vertretern der Zivilgesellschaft beim Präsidenten, Rechtsanwalt Kutscherena, äußerte öffentlich den Verdacht, dass die „Dedowschina“ das „System (sei), auf dem die gesamte Disziplin der russischen Armee basiert“. Er hatte zusammen mit anderen Vertretern der Kammer Tscheljabinsk besucht, um sich ein Bild vom Vorgefallenen zu machen. „Keiner hat etwas gesehen, keiner etwas gehört“, so seine frustrierte Zusammenfassung von Treffen mit dortigen Wehrdienstpflichtigen: Einschüchterung und Mundhalten seien weiterhin an der Tagesordnung, um dem „Ansehen“ der Armee in der Bevölkerung nicht noch mehr zu schaden…

Dennoch, Umfragen zufolge wächst die Unzufriedenheit mit den Streitkräften in der Bevölkerung nach dem Fall Sytschow rapide: einer landesweiten Umfrage zufolge waren im Dezember 2005 nur 38% dem Militär gegenüber kritisch eingestellt, Ende Januar bereits 54% .

In den ersten Wochen ihrer Tätigkeit ist es der Öffentlichen Kammer gelungen, pessimistischen Einschätzungen über ihren Sinn und ihre Effektivität zumindest soweit entgegenzulaufen, in dem es gelang, die Medien wiederholt auf sich aufmerksam zu machen. Mittlerweile hat sie auf einer Sitzung Anfang Februar unter Beteiligung von Vertretern des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums eine zivile Untersuchungskommission gefordert und dazu aufgerufen, Wege zu finden, die Situation in den Streitkräften für Wehrdienstleistende grundlegend zu verbessern.

In diesem Zusammenhang werden auch andere Akteure, die in letzter Zeit durch einen angeblichen Spionageskandal stark in Verruf geratenen Nichtregierungsorganisationen (NROs), in ihrer Rolle als Experten- und Interessenvereinigungen vermehrt beachtet. Sie verstärken den Druck auf die Regierungsstellen, Reformen nicht nur auf kosmetische Weise kurzfristig anzukurbeln. NROs wie z.B. die Soldatenmütter sind aber auch weiterhin der Öffentlichen Kammer trotz ihres kürzlichen Engagements gegenüber kritisch eingestellt und vermuten hinter deren lautstarken Kundgebungen auch ein Maß an Effekthascherei und Unprofessionalität. Denn von einem koordinierten Vorgehen mit regionalen und lokalen Organisationen, die spezifische Kenntnisse von der Situation vor Ort hätten, ist die Kammer in ihrem Vorgehen noch weit entfernt.

NROs haben zurzeit in Russland einen schweren Stand: trotz ihrer schieren Menge (es gibt rund 450.000 im Lande tätige Organisationen) geraten sie immer mehr unter die misstrauischen Augen der Behörden, welche diese Vereinigungen häufig als Herausforderer, Konkurrent, oder zumindest als missliebigen, stets kritisierenden Herausforderer sehen. In diesem Zusammenhang ist die Schaffung der Öffentlichen Kammer zu sehen, deren Zusammensetzung weitestgehend vom Kreml beeinflusst wurde und im Wesentlichen keine Rücksicht auf die eigentliche Rolle, Bedeutung und Kompetenz ihrer Vertreter nimmt. Viele NROs arbeiten neben-, anstatt miteinander, und machen sich auf Grund ihrer häufig geringen Professionalisierung selbst das Leben schwer.

Immerhin, der Menschenrechtsbevollmächtigte der Russischen Föderation, Lukin, und seine Behörde sind auf die enge Zusammenarbeit mit NROs zum Monitoring und zum Schutz von Menschenrechten, sowie zur Aufdeckung und Aufklärung von Verletzungen angewiesen. In seiner jetzigen Form - sowohl verfassungsrechtlich als auch auf einem eigenen Gesetz gestützt - besteht das Amt des Menschenrechtsbeauftragten seit 1998. Mittlerweile gibt es regionale Ombudsmänner in etwa einem Drittel der insgesamt 88 administrativen Regionen der russischen Föderation. Allerdings ist deren Machtfülle und Kompetenzreichweite eingeschränkt.

Obwohl die Ombudsmänner in ihren täglichen Geschäften kein Blatt in ihrer Kritik vieler örtlicher, regionaler und nationaler Regierungsstellen vor den Mund nehmen, wird ihre Stimme in der Öffentlichkeit bisher jedoch in sehr geringem Maße wahrgenommen. Zur landesweiten Situation in den Kasernen äußerte sich Ombudsmann Lukin nach dem Fall Sytschow nicht zum ersten Mal, aber auch diesmal nahm die Presse seine auf der offiziellen Homepage veröffentlichten Aussagen nicht auf. Erniedrigungen und Züchtigungen sind zum Alltag in der Militärausbildung geworden, so Lukin. Auch seitens seiner Behörde werden Untersuchungen zur landesweiten Praxis der „Dedowschina“ geführt.

Im Allgemeinen berichten die Medien nach Einschätzung des Menschenrechtsbeauftragten zu wenig über die Situation der Menschenrechte im Land. Obwohl es in den Regionen teilweise unabhängige Medien gibt, sind diese oft nur an „kommerziell profitablen“, d.h. Sensationsmeldungen, interessiert, so ein regionaler Ombudsmann. Medien können auch in Russland, das zeigt der Fall Sytschow, das entscheidende Momentum geben, um Aufklärung und Wiedergutmachung zu erwirken. Vorfälle von Verletzungen der menschlichen Würde v.a. bei älteren Menschen und bei Kindern, sowie bei geistig und physisch behinderten Personen, finden kaum Beachtung in der Öffentlichkeit.

Lukins Institut kann aber auch positive Entwicklungen im Lande beobachten: Die Bürger werden sich stärker ihrer Rechte bewusst, von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der Klagen und Beschwerden, die bei ihm und seinen regionalen Vertretern eingehen, erheblich. Auch Publikationen von staatlicher und nicht-staatlicher Seite zum Thema Menschen- und Bürgerrechte nehmen zu. Die Behörde führt mehrmals jährlich auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in Kindergärten Mal- und in Schulen und Universitäten Aufsatzwettbewerbe zum Thema Menschenrechte durch.

2005 verzeichnete die Behörde insgesamt rund 30.000 eingegangene Beschwerden. Diese betreffen vornehmlich die Verletzung sozialer Rechte, wie z.B. das Recht auf angemessenen Lebensraum, das Recht auf eine angemessene Rente, etc. Erstaunlich aber, so ein Vertreter Lukins, dass verhältnismäßig wenig Klagen von Seiten von Journalisten und von Seiten der Armee eingehen: Hier also scheint sich der Verdacht von Fachleuten zu bestätigen, dass nicht alle Fälle von Misshandlungen und anderen Verletzungen der individuellen Rechte tatsächlich gemeldet und geahndet werden.

Der Menschenrechtsbeauftragte und sein Apparat versuchen hier, mit eigenen Untersuchungen und Fragebögen an diverse Staatseinrichtungen (Innenministerium, Verteidigung, Grenzschutz, etc.) auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Regionen Missstände aufzuklären. Allerdings existiert bei den bestehenden Ombudsmann-Ämtern noch keine vollständige Verzahnung und kein reibungsloser Austausch wichtiger Informationen: so gibt es beispielsweise keine einheitlichen Standards und Formulare zur Erfassung, Archivierung und Weitergabe elementarer Statistiken wie Anzahl, Art, oder Quelle von registrierten Beschwerden.

Über die Einführung eines Wehrdienstbeauftragten, wie es ihn in Deutschland gibt, wird nachgedacht, um die spezifischen Probleme in den Streitkräften abzudecken. Generell bleibt aber das Verhältnis zu und die Zusammenarbeit mit den Regierungsstellen weiterhin kompliziert. Die langjährige Vorsitzende der bereits über 30 Jahre im Lande tätigen Moskauer Helsinki-Gruppe, Alexejewa, beobachtet darüber hinaus – völlig abgesehen von der Situation in Tschetschenien - eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in der russischen Gesellschaft in den letzten Jahren. Sie betont, dass ohne ausländische Unterstützung die Arbeit und das Überleben vieler heimischer Menschenrechtsorganisationen überhaupt nicht möglich sei. Und gerade diese prekäre Balance sei durch die neue NRO-Gesetzgebung bedroht, so Alexejewa.

Auch die Institution des Menschenrechtsbeauftragten sieht die eigenen Befugnisse und Einflussmöglichkeiten stark begrenzt durch die gegenwärtige Gesetzeslage. Das Amt des Ombudsmannes ist der Verfassung und dem Gesetz nach nominell unabhängig, de facto aber wird sein Budget durch den vom Parlament (und der dort dominierenden Partei „Einheitliches Russland) beschlossenen Jahreshaushalt gestellt. Dementsprechend erscheint in der Praxis der Status des Menschenrechtsbeauftragten nicht unantastbar und ihre Tätigkeit als unbeeinflussbar. Darüber hinaus ist das Amt des Menschenrechtsbeauftragten in der Bevölkerung offensichtlich noch nicht allgemein bekannt und anerkannt, da die große Mehrheit der Bürger Russlands kein Vertrauen in die Rechtssprechenden Organe und in den Rechtsstaat haben. Notwendig ist neben der Durchsetzung rechtsstaatlicher Normen und der Bekämpfung der ausufernden Korruption vor allem die Aktivierung der Zivilgesellschaft - darin sind sich sowohl Menschenrechtsbeauftragter als auch nicht-staatliche Organisationen wie das Helsinki-Komitee und die Soldatenmütter einig. Das bestimmende Element hierbei ist die möglichst frühzeitige Herausbildung eines Bewusstseins der eigenen Grundrechte und Achtung der Menschenwürde der Mitmenschen in der jungen Generation.

Was nun tatsächlich zu einer grundlegenden Verbesserung der Situation in den Kasernen führen kann und wie weit reichend die notwendigen Reformen sein müssen: darüber ist man sich weiterhin uneins. Militärexperten halten den Übergang zu einer Berufsarmee für unabdingbar, solange es der Regierung nicht gelingt, der korrumpierten Einberufung Wehrdienstleistender entgegen zu treten: Einflussreiche Eltern kaufen ihre Söhne von der Wehrdienstpflicht frei, wohingegen jene Mütter, die ihren Sohn zum Wehrdienst gehen lassen, nicht wissen, ob sie diesen je wieder sehen werden. Dieses lukrative Geschäft des Freikaufens und der bekannten Praxis der „Vermietung“ von Soldaten als Arbeits- oder Schutzkräfte außerhalb der Militäreinrichtungen erklärt ebenfalls, warum die Mehrheit der Entscheidungsträger – entgegen der öffentlichen Meinung – in den Streitkräften und in der Politik gegen grundlegende Reformen sind.

Auf seiner diesjährigen Pressekonferenz im Januar hatte Präsident Putin sich für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen, allerdings mit einer verkürzten Dienstzeit von bisher zwei Jahren auf ein Jahr, und mit weniger „Schlupflöchern“ für Kriegsdienstverweigerer.

Die Panzerschule in Tscheljabinsk wird aufgelöst, dies aber, versichert das Verteidigungsministerium, aufgrund der vorgesehenen Umstrukturierung der Streitkräfte, nicht aufgrund des Vorfalls des Gefreiten Sytschow. Über seinen Fall hält sich übrigens hartnäckig das Gerücht, er sei in der Sylvesternacht nicht nur misshandelt, sondern auch vergewaltigt worden. „Aber das“, so eine der Soldatenmütter, „würde der Generalstab nie zugeben, um dem Ansehen des Militärs nicht noch weiter zu schaden“. Offensichtlich besteht die „bewährte“ Tradition des Vertuschens und Verschweigens nichtsdestotrotz weiterhin.

Die Außenstelle Moskau der Konrad Adenauer Stiftung befasst sich bereits seit Beginn ihrer Tätigkeit 1991 in Russland mit der Situation der Menschenrechte. Insbesondere seit 2005 unterhält sie einen engen Kontakt zum Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation und seiner regionalen Vertreter. Mit dieser Institution führt die KAS problemspezifische Veranstaltungen in Moskau und in den Regionen durch. Um die Stellung von Menschenrechtsorganisationen und Ombudsleuten vis-a-vis Politikern und anderen Entscheidungsträgern zu stärken und diese öffentlichkeitswirksam zu unterstützen, nehmen die Veranstaltungen zu dieser Thematik zunehmend einen Arbeitsschwerpunkt der KAS ein.

So fand im vergangenen Jahr eine internationale Konferenz zu Monitoring und Menschenrechten in Moskau statt: Erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Staaten der G US trafen sich die Menschenrechtsbeauftragten der Präsidenten der GUS-Staaten zu einer internationalen Konferenz zu diesem Thema. Dabei standen internationale Erfahrungen des Monitoring von Menschenrechten und die Menschenrechtssituation in den einzelnen Staaten der GUS im Mittelpunkt der Gespräche. Darüber hinaus wurde 2005 eine Seminarreihe zu Menschenrechtsmonitoring initiiert, die in diesem Jahr in verschiedenen Teilen des Landes fortgesetzt wird.

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