Asset-Herausgeber

Veranstaltungsberichte

„Wirtschaft und Zivilgesellschaft – Partner für ein modernes Russland“

von Dr. Andreas Schockenhoff
Vortrag von Dr. Andreas Schockenhoff (MdB), Koordinator für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, den er am 22. Juni im Moskauer Hotel Baltschug-Kempinski auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer gehalten hat.

Asset-Herausgeber

Sehr geehrte Gäste, verehrte Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dass wir uns zu diesem wichtigen Thema austauschen können, dafür danke ich der deutsch-russischen Auslandshandelskammer und der Konrad-Adenauer-Stiftung, die es möglich gemacht haben. Dieser Austausch ist umso wichtiger, als wir uns in schwierigen Krisenzeiten treffen, die neue Fragen aufwerfen, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen.

Mit einigem Amüsement habe ich von einem russischen Verwaltungschef gelesen, der seinen Beamten kürzlich verboten hat, das Wort „Finanzkrise“ in den Mund zu nehmen. Die Krise finde „im Kopf und nicht in der Wirtschaft“ statt, war seine Begründung. Ich kann nur sagen, dass ich es umgekehrt erlebe. Die Wirtschaftskrise hat Deutschland fest im Griff - auch wir müssen inzwischen mit einem Rückgang des BIP von 6% für dieses Jahr rechnen – aber sie ist bis jetzt auch bei uns noch nicht in allen Köpfen angekommen. Ich selbst erlebe sie allerdings an allen Fronten – direkt als Abgeordneter, in meiner Region am Bodensee, die stark mittelständisch geprägt ist, aber auch als Vizefraktionsvorsitzender meiner Partei, wo ich täglich sehe, wie die internationale Finanzkrise alle Aspekte der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik berührt – und natürlich als Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, die von der Krise ebenfalls grundsätzlich betroffen ist. Innerhalb dieser Zusammenarbeit spielen die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen selbstverständlich eine zentrale Rolle. Auch wenn viele von Ihnen sich das vielleicht nicht bewusst machen sollten, so sind die meisten deutschen Unternehmen sog. „zivilgesellschaftliche Akteure“ und ich zähle sie damit zu den Partnern des Russland-Koordinators! Es ist also mehr als angebracht, dass wir mit einander ins Gespräch kommen!

Meine Sicht als Russland-Koordinator ließe sich so umschreiben: Erstens bedeutet die globale Finanz- und Wirtschaftskrise für Deutschland und Russland einen tiefen, vielleicht sogar historischen Einschnitt. Wie in anderen Staaten stellen sich neue Fragen nach den Grenzen staatlicher und wirtschaftlicher Macht und einem zukunftsfähigen Konsens zwischen Staat und Gesellschaft. Zweitens hat Russland die Krise jedoch nicht nur härter getroffen, sondern stellt es vor eine ungleich größere Herausforderung: die Wende zu einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung. Drittens: Die neuen Herausforderungen eröffnen neue Chancen für die deutsch-russische Zusammenarbeit. Dies wiederum schafft – viertens - neue Perspektiven für alle Ebenen der zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit, in der Wirtschaft und Zivilgesellschaft heute natürliche Partner sind.

Zu den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Ich würde sagen, die Krise hat uns näher gebracht, weil ein neues Bewusstsein über die gegenseitige Abhängigkeit entsteht und weil – vielleicht noch wichtiger - viele Politiker und Unternehmer bereits über das Ende der Krise hinausdenken. Deutschland bleibt Russlands wichtigster Handelspartner und Russland für Deutschland der „Boom-Markt Nummer 1“ (Wirtschaftswoche), der heute bereits rund 70.000 deutsche Arbeitsplätze sichert. Wenn Europas zweitgrößter Automarkt um 60% einbricht, leiden deutsche Arbeitnehmer in allen großen Autowerken. So war beim Opel-Rettungspaket der Zuschlag für den Zulieferer Magna mit seinen russischen Partnern Sberbank und GAZ, deren Konzept auf den russischen Markt setzt, wohl kein Zufall. (Lassen Sie mich dazu nur kurz sagen: Auch wenn der Einstieg bei Opel in Russland als „Coup“ gefeiert wurde, bleiben für die deutsche Öffentlichkeit viele Fragezeichen!)

Wie ich verstehe, ist die Stimmung der deutschen Wirtschaft in Moskau trotz spürbarer Absatzeinbußen weiter positiv. Kaum eine der fast 6.000 hier registrierten deutschen Firmen plant einen Rückzug, zeigt eine neue Studie der Wirtschaftswoche.. Trotz großer Klagen über fehlende Rechtssicherheit, Korruption, Bürokratie und komplizierte Steuerregeln setzen die meisten Unternehmen auf die großen Chancen des Russlandgeschäfts. Schon heute überwiegt bei vielen deutschen und russischen Großunternehmen der Versuch, jenseits der Krise neue langfristige Perspektiven im Russlandgeschäft aufzubauen – das unterstreicht vor allem die Einigung von Siemens mit dem Nuklearkonzern Rosatom auf eine strategische Zusammenarbeit in der Kernenergietechnik. Dieses Signal sollte auch der Besuch der 230(!)-köpfigen Rekorddelegation aus „meinem“ Bundesland Baden-Württemberg unter Leitung von Ministerpräsident Oettinger Ende Mai setzen. Die hochrangigen Gespräche und vor allem das Richtfest für das große neue „German Center“, das Anfang 2010 eröffnet werden soll – das war mehr als “business as usual” und unterstrich ebenfalls den Versuch, auf die „Krise als Chance“ zu setzen.

Doch machen wir uns nichts vor: Noch ist dieser Tag nicht abzusehen. Allein im Januar/Februar ging der deutsch-russische Handel um fast 50% zurück - noch hält der Trend an. Deutsche Exporte im Wert von rund 2,5 Mrd. Euro sind wegen Finanzierungsproblemen russischer Partner in Gefahr – und mit ihnen 4.000 deutsche Arbeitsplätze. Noch hat die russische Regierung den Vorschlag des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, einen Garantiefonds für notleidende russische Unternehmen einzurichten, nicht realisiert. Allgemein hat sich die Auftragslage für deutsche Unternehmen in Russland erheblich verschlechtert; viele Projekte, auch in den strategisch wichtigen Hochtechnologie- und Energiesektoren, sind auf Eis gelegt oder gänzlich storniert. Grundsätzlich hofft die deutsche Wirtschaft - ebenso wie die deutsche Politik – darauf, dass die Krise in Russland dazu führt, viele der nötigen Strukturreformen durchzuführen, die Russland bislang versäumt hat. Noch überwiegt indes die Skepsis. Bisher zeigen sich ganz andere Tendenzen: protektionistische Maßnahmen, sinkende Investitionen und eine weitere Konzentration wirtschaftlicher Macht beim Staat. Auch die erneute Verzögerung bei den WTO-Verhandlungen ist kaum ein Zeichen für einen „neuen Aufbruch“, wie ihn Bundesminister Steinmeier jüngst gefordert hat.

Wie also trotzt Russland der Krise - der ersten „echten kapitalistischen und globalen Krise“, die das „neue Russland“ durchmacht? Auf dem jüngsten Petersburger Wirtschaftsforum wurde laut darüber geredet, dass man bereits wieder den Champagner kaltstellen könnte. Dass es dafür zu früh ist, wie auch Präsident Medwedew klar unterstrich, zeigte die überstürzte Reise von Ministerpräsident Putin in den kleinen Ort Pikáljowo, von dem noch nicht viele gehört hatten. Laut der Zeitung „Moskówskij Komsomólez“ war nicht das hochrangig besetzte Petersburger Wirtschaftsforum, sondern Pikaljowo mit seinen 300 protestierenden Arbeitern Putins wichtigstes Reiseziel in diesem Jahr, vielleicht sogar seiner ganzen Zeit als Regierungschef, wie die Zeitung meinte. Denn auch wenn Umfragen klar zeigen, dass die russische Bevölkerung der politischen Führung weiter vertraut, gibt es, wie Experten meinen, Dutzende weiterer Pikalkowos, vor allem sog. Monostädte, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, in denen sich Proteste entzünden können.

Tatsächlich hat sich - nach ersten Hoffnungen, dass Russland den Sturm als „Insel der Stabilität“ überleben könne - schnell gezeigt, dass es im Gegenteil härter betroffen ist als die meisten Länder. Die Zahlen sind alarmierend – Sie kennen sie gut genug. Mich besorgt vor allem der Rückgang der Industrieproduktion, zuletzt monatlich um 17% mit steigender Tendenz, der Rückgang inländischer Investitionen, v.a. im Bereich Infrastruktur, aber auch der ausländischen Investitionen, um ganze 30% im ersten Quartal 2009, und die massive Kapitalflucht, die westliche Experten für dieses Jahr auf bis zu 180 Mrd. $ schätzen. Diese Entwicklungen gefährden nicht nur viel von der wirtschaftlichen und politischen Aufbauarbeit der letzten Jahre, sondern v.a. die ehrgeizige Modernisierungsagenda 2020 des Tandems Medwedew-Putin.

Sorgen bereiten mir vor allem die sozialen Folgen der Krise. Auch in Deutschland bedroht die Krise den gesellschaftlichen Zusammenhalt, vielleicht mehr als wir bisher wahrnehmen. Doch die Folgen des wirtschaftlichen Rückgangs treffen Russland, wo das soziale Netz noch brüchig und im Aufbau begriffen ist, ungleich härter. Dabei sehe ich, wie gesagt, den Schlüssel für Russlands Zukunft in seiner inneren Entwicklung. Doch schon heute sind - nach ILO-Normen – bereits 7,7 Mio. Menschen in Russland arbeitslos, d.h. 10,2% der Bevölkerung. Der Wirtschaftswissenschaftler Yewgenij Gontmacher schätzt die Zahl sogar auf 20 Mio., da sich viele Menschen nicht arbeitslos melden. Dazu kommt eine geschätzte Zahl von bis zu 7 Mio. Russen, die in nächster Zeit aus anderen GUS-Republiken zurückkehren könnten, ebenfalls auf der Suche nach Arbeit. Schon heute ist der Anteil der Menschen, die unter dem offiziellen Existenzminimum leben – der in den letzten Jahren auf fast 15% zurückgegangen war – wieder auf 25% gestiegen. Das sind 35 Millionen Menschen! Der Aufbau einer langsam entstehenden Mittelklasse – deren Anteil die russische Führung bis 2020 auf 50% erhöhen wollte - scheint damit zumindest erst einmal gestoppt.

Stattdessen nehmen die sozialen Probleme, die schon vor der Krise gravierend waren, durch die Wirtschaftskrise nun alarmierend zu. Allein die Korruption geht durch den wirtschaftlichen Rückgang keinesfalls zurück, sondern hat sogar dramatisch zugenommen, bevor die Bekämpfungsmaßnahmen des russischen Präsidenten je greifen konnten – viele von Ihnen erleben dies sicher in Ihrem Alltag. (Nach Angaben des Innenministeriums gab es im ersten Quartal 2009 ein Drittel mehr korruptionsrelevante Straftaten als ein Jahr zuvor!). Ein größeres Destabilisierungspotential haben aber vor allem die wachsenden sozialen Gegensätze, der Anstieg von Kriminalität, Fremdenfeindlichkeit und extremistischen Tendenzen und vor allem die weiter zurückfallende Gesundheitsfürsorge.

Dieser Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung wird inzwischen auch von der russischen Führung erkannt und diskutiert – ein wichtiges Novum. Deutlich zeigt sich dies in der neuen russischen Sicherheitsdoktrin, die einen weit umfassenderen Katalog sozialer Probleme auflistet, als ich hier skizziere, und die diese offen als „Gefahren für die nationale Sicherheit“ bezeichnet! Dieselbe Sicherheitsdoktrin unterstreicht aber auch die Agenda eines selbstbewussten Russland, das weiter anstrebt, zu einer der fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt aufzusteigen. Auch das Ziel, den Rubel als internationale Reservewährung durchzusetzen, wird wieder hochgehalten. Doch ein nüchterner Blick gebietet zu sehen, dass Russland erst einmal andere Aufgaben hat. Derzeit führt Russland vor allem in der G-20-Gruppe als größter Verteiler von Staatshilfen. Spätestens 2010 wird es wieder Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten aufnehmen müssen. Für viele Vertreter der Eliten wird dies kein einfacher Schritt sein, nachdem Russland sich durch die Rückzahlung aller Auslandsschulden und den Aufbau seines Stabilitätsfonds in den letzten Jahren neue Handlungsspielräume geschaffen hat.

„Russland wird diesem Sturm trotzen“, bekräftigte Präsident Medwedew gerade wieder in einem Interview mit der Zeitung „Kommersant“. Immer offener spricht der Präsident an, was inzwischen in Expertenkreisen, aber vor allem auch in den Medien offen diskutiert wird: dass Russland die Krise so stark getroffen habe, weil es die Diversifizierung seiner Wirtschaft versäumt habe; dass die Bildung großer Staatsholdings in eine Sackgasse geführt habe und die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen endlich Vorrang haben müsse und die Staatsbürokratie das größte Hindernis für Diversifizierung und Innovation sei.

„Ohne erfolgreiches Unternehmertum wird unser Staat keine Zukunft haben“, erklärte der Präsident bei seinem jüngsten Treffen mit Wirtschaftsvertretern am „Tag des Unternehmers“. Das Leben als freier Unternehmer in Russland sei aber so schwierig, dass viele junge Leute lieber in den Staatsdienst als in die Wirtschaft gingen.

Eine Studie der Unternehmensberater von McKinsey, die der Sberbank zur Seite stehen, hat der russischen Führung kürzlich einen scheinbar einfachen Weg vorgezeichnet: das Land müsse nur die Arbeitsproduktivität um jährlich 6% erhöhen, um trotz der Krise das Ziel zu erreichen, sein pro-Kopf- Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahr 2020 auf 30,000 US-$ zu erhöhen. Voraussetzung dafür seien drei Dinge: ein klarer Wille zur Veränderung, eine verbesserte Rechtslage und unbehinderte Wettbewerbsbedingungen. Diese drei Faktoren, davon bin ich ebenfalls überzeugt, werden erstens über Russlands Zukunftsfähigkeit entscheiden und sind zweitens ein gemeinsames Anliegen von Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Ich sprach eben bewusst von einem „scheinbar einfachen Weg“ – vor allem wenn man hinterfragt, wie die Chancen für eine Realisierung dieser drei Faktoren stehen.

Wille zur Veränderung. Wir können nur hoffen, dass die russischen Eliten diesen Willen aufbringen werden. Jedoch fällt mir auf, um wie viel skeptischer russische Experten, wie so oft, bei dieser Frage sind. Das gilt besonders für eine viel diskutierte Studie des INDEM-Instituts, die diverse Szenarien für die Entwicklung des Landes durchspielt. Unter fünf möglichen Szenarien erscheint den Experten die Möglichkeit eines „Smart Russia“ – also eines Russland, das genau auf Rechtsstaatlichkeit und Wettbewerb setzt, nur verschwindend klein (2%!). Als wahrscheinlichste Option wird - mit 56% - der Weg in eine „Entwicklungsdiktatur“ gesehen, also ein autoritär-dirigistisches Modell nach dem Pinochet-Muster gesehen, gefolgt - mit 37% - von dem wenig hoffnungsvolleren Szenario eines sogenannten „stagnierenden Russland“ mit einer passiven Bevölkerung, das chronisch instabil bleibt. Auch eine dramatische Zuspitzung der Wirtschaftskrise würde keinesfalls die Aussichten auf ein „Smart Russia“, sondern nur die Möglichkeit unkontrollierter Unruhen und einer revolutionären Situation erhöhen.

Auch wenn ich solche pessimistischen Szenarien sehr genau im Auge behalten muss, weil ich sie nicht ausschließen kann, glaube ich an ein „Smart Russia“! Nicht weil ich dem alten Klichée anhänge, dass man „an Russland einfach glauben muss“, sondern weil ich auf drei Faktoren setze: den Pragmatismus der Eliten, das Potential der russischen Gesellschaft und die Einsicht, dass alles andere Russland keine Zukunftsperspektive bietet. Bestätigt sehe ich mich durch die zunehmend differenzierte und offene Debatte, die heute unter den politischen – und vor allem den wirtschaftlichen- Eliten über den Kurs Russlands geführt wird und die ich mit großem Interesse verfolge. Daraus lese ich eine wachsende Bereitschaft, den Realitäten ins Gesicht zu sehen: den Grenzen der „Rohstoffmacht“ Russland, den Defiziten und Strukturmäng eln der russischen Wirtschaft und der Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen.

Nüchternheit und Realismus, wie sie auch aus der neuen Sicherheitsstrategie sprechen, sind die beste Basis für „neues“ und pragmatisches Denken. Immer mehr Menschen scheinen zu verstehen, dass Russland als „einsame Macht“, wie es im letzten Jahr oft genannt wurde, seine Stellung in der Welt nicht behaupten und vor allem seine eigenen inneren Probleme nicht lösen kann. Zwei der größten Herausforderungen, vor denen das Land steht, verleihen den Debatten dabei eine wachsende Dringlichkeit: die ungelöste demographische Krise – einem neuen UN-Bericht zufolge wird die russische Bevölkerung bis 2050 um 26 Millionen, wenn nicht sogar um 34 Millionen Menschen, also um ein Viertel zurückgehen- sowie die rapide Entvölkerung weiter Landesteile im Osten. Mir scheint, dass große Teile der heutigen Wirtschaftseliten verstanden haben, dass Russland für seine Zukunftsfähigkeit in erster Linie zwei Dinge braucht: Investitionen - inländische und ausländische - und die Partizipation und freie Gestaltungsmöglichkeit einer gut ausgebildeten und engagierten Bevölkerung. Dieser Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen wird gerade unter den jüngeren Wirtschaftseliten immer offener diskutiert. Ein Beispiel ist das jüngste Krasnojarsker Wirtschaftsforum, wo die Forderung im Mittelpunkt stand, dass der Staat in Krisenzeiten neben der Wirtschaft auch auf die Gesellschaft als „dritte Säule“ setzen müsse. Diese und viele andere Stimmen sind Grund genug, dass ich meine Hoffnungen weiter auf ein „Smart Russia“ setze, das die richtigen Weichen für seine Zukunft stellt.

Doch zurück zur Studie von McKinsey. Ihr zweites Kriterium ist eine verbesserte Rechtslage in Russland. Auch im Rechts- und Justizbereich, den der Präsident von Anfang an zur „Chefsache“ erklärt hat, bleibt die Situation widersprüchlich. Gerade hier gilt, was ich immer wieder beobachte, dass Russland sich in verschiedenen Geschwindigkeiten entwickelt. Es gibt hoffnungsvolle Entwicklungen, im Wirtschaftsbereich oder im Strafvollzugssystem. Dem stehen jedoch besorgniserregende Entwicklungen gegenüber, u.a. die Einschränkung der Geschworenengerichtsbarkeit, die unaufgeklärten Morde an Journalisten und Menschenrechtlern, die Verschärfung von Strafen für Delikte im Zusammenhang mit terroristischen Akten, aber auch die neue Regelung für die Ernennung des Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Vor allem bei einer Reihe von Strafverfahren drängt sich der Eindruck politischer Einflussname auf Staatsanwaltschaft oder Gerichte auf. Das bekannteste – wenn auch nicht einzige – Beispiel ist der Fall des früheren Yukos-Vorstandsvorsitzenden Michail Chodorkowski. In Deutschland und insbesondere im Deutschen Bundestag besteht die Sorge, dass dieser Prozess nicht den rechtsstaatlichen Bedingungen entspricht, zu denen Russland sich verpflichtet hat. Das Verfahren wird als Testfall für die vom russischen Präsidenten angemahnte Glaubwürdigkeit der russischen Justiz gesehen. Das offene Ansprechen dieser Sorgen sehe ich als Unterstützung des Kurses des russischen Präsidenten im Kampf gegen „Rechtsnihilismus“ und für mehr Rechtsstaatlichkeit.

Zum dritten Kriterium besserer Wettbewerbsbedingungen. Wie im Rechtsbereich geht es auch hier nicht nur um ordnungspolitische Fragen. Grundsätzlich sehe ich Russlands Modernisierung nicht als technischen Prozess, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für jedes der vier „I“ von Präsident Medwedew – Institutionen, Innovation, Investitionen und Infrastruktur - braucht Russland das aktive Engagement seiner Menschen. Modernisierung erfordert nicht nur Investitionen und know how. Modernisierung erfordert auch, dass der Staat freiheitliches Handeln und Gestalten sicherstellt durch Rechtsstaatlichkeit, durch deutlich weniger Korruption und Bürokratie, durch mehr Pluralismus in Politik und Gesellschaft. Viele Erklärungen des Präsidenten deuten auf ein neues Verständnis im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. So erklärte er in seinem Interview mit der „Nowaja Gazeta“, Russland sei erst dabei zu lernen, die Zivilgesellschaft als „die andere Seite des Staates“ zu akzeptieren. Die Zivilgesellschaft sei eine „feedback-Institution“ innerhalb des Staates, die „die sozial bewussten und aktiven Menschen“ vereine – besser kann es kaum definieren.

Auch hier ist die Bilanz bisher widersprüchlich, doch immerhin gibt es erste konkrete positive Signale, wie die Freilassung der Ex-Yukos Anwältin Swetlana Bachmina, die Mandatsverlängerung des Menschenrechtsbeauftragten Lukin, vor allem aber des „Rates für die Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechten“ unter der Leitung von Ella Pamfilowa. Das Wichtigste aber: nur zwei Monate nach seinem ersten Treffen mit dem Rat hat Präsident Medwedew einen Entwurf für ein überarbeitetes NGO-Gesetz in der Duma eingebracht, das die Vorschriften für die Registrierung und Kontrolle von Nicht-Regierungsorganisationen vereinfachen soll.

Eine substantielle Verbesserung des NGO-Gesetzes, die mir seit 2006 ein wichtiges Anliegen ist, ist der zweite Testfall für die Glaubwürdigkeit der vom russischen Präsidenten thematisierten Reformen. Der NGO-Sektor ist die Basis eines sich entwickelnden Dritten Sektors in Russland, der für die Zukunft entscheidend ist. Ich gestehe, ich bin ein großer Fan nicht nur der deutschen, sondern besonders der jungen russischen „nicht-kommerziellen Organisationen“. Mit beiden habe ich zum Thema zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit einen neuen Austausch angeregt, vor wenigen Wochen in Berlin und nun in Moskau, wo ich morgen die Mitglieder des sogenannten „Pamfilowa-Rates“ und andere russische NGO-Vertreter zu einer Expertenrunde eingeladen habe.

Ich kann Ihnen nur raten, einige Vertreter dieser bunten neuen Landschaft näher kennenzulernen. Mehr als die sogenannte russische Mittelklasse, die vorwiegend aus Staatsbeamten besteht, stehen sie für mich für das „private Aufblühen“, von dem der Schriftsteller Viktor Jerofejew spricht. Seit den 90er Jahren, die heute von vielen nur als chaotisch und demütigend gesehen werden, war ein Netz von fast 500.000 NGOs entstanden. Davon sind 230.000 NGOs geblieben, die sich trotz erschwerter Rahmenbedingungen erstaunlich vital behauptet haben. Für mich sind sie Ausdruck der Bereitschaft, wieder „von unten“ Mitverantwortung zu übernehmen, von der im „System Putin“ viel verloren gegangen ist, aber auch der Einstellung eines „Ich-will-auch-besser-leben“, die sich laut Viktor Jerofejew „aus dem Würgegriff des Staates befreit hat wie ein Huhn aus den Fängen des Bauers“.

Viele dieser Organisationen arbeiten heute weitgehend selbstständig, kompetent und professionell. Für deutsche Initiativen und Vereine sind sie oft anerkannte Projektpartner – gemeinsam bilden sie ein wichtiges Fundament der deutsch-russischen zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit. Anders als oft angenommen, wird indes nur ein kleiner Teil – nur 8% - der russischen NGOs maßgeblich durch westliche Finanzgeber unterstützt. Die rechtliche Unsicherheit, der hohe bürokratische Aufwand und vor allem das offene Misstrauen der Behörden haben in den letzten Jahren wenig dazu beigetragen, zivilgesellschaftliche Engagement zu fördern. Doch wie so oft in Russland, ist auch hier vieles trotzdem seinen Weg gegangen. Zumindest nimmt die Zahl hauptamtlicher und freiwilliger Mitarbeiter langsam, aber stetig zu. Beeindruckend ist auch die Flexibilität, mit der viele russische NGOs auf die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen reagieren und ihre Tätigkeitsfelder erweitern. Noch sind nur 5% der Russen in zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv (in Deutschland ist es jeder dritte). Doch neue politische Rahmenbedingungen, in denen NGOs als Partner bzw. „Verbündete“ der politischen Führung angesehen werden, und eine neue Gesetzgebung, die gemeinnütziges Engagement fördert, könnten dies schnell ändern.

Parallel dazu hat auch das philanthropische Engagement in Russland in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt, der bei uns wenig bekannt ist. Das russische Mäzenatentum, das im 19. Jahrhundert in den aristokratischen Familien und später in der altgläubigen Moskauer Kaufmannschaft eine Blüte erlebte, wurde in der kommunistischen Zeit völlig zerschlagen. Doch mit der Wende lebte es wieder auf, auch wenn es oft mit einem zweifelhaften Image behaftet blieb, das mit Korruption, Schattenwirtschaft und Geldwäsche verbunden war. Der Fall Chodorkowski und eine verschärfte Gesetzgebung trugen weiter dazu bei, soziales Engagement zu marginalisieren. Trotzdem machten vor der Krise Zuwendungen der „Corporate charity“ in Russland rund 1,5 Mrd. $ – nicht viel, wenn man an die Forbes-Liste denkt, aber ein vielfacher Anstieg im Vergleich zu den frühen 90er Jahren. Inzwischen gibt es 12 größere russische Privatstiftungen, die professionell und transparent arbeiten und vor der Krise zwischen 1- 36 Mio. $ jährlich für soziale und kulturelle Zwecke ausgaben, sowie Dutzende kleinere mit Budgets von einigen 10-100.000 US-$. Bei vielen Unternehmern gehörte es bis vor kurzem zum guten Ton, sich ein gewisses Maß an „corporate social responsibility“ auf die Fahnen zu schreiben. Immer öfter setzten Firmen dabei auf eine Zusammenarbeit mit den nicht-kommerziellen Organisationen. Dies unterstrich auch der Vorstandsvorsitzende von Sewerstal, Alexej Mordaschów, als er in diesem Jahr in Berlin den Dr. Friedrich Joseph Haass-Preis erhielt. Um die wichtigsten strategischen Probleme Russlands in Angriff zu nehmen, erklärte er, bedürfe es einer gemeinsamen Anstrengung von drei Seiten: von Staat, Privatwirtschaft und Non-Profit-Organisationen. Die Preissumme stiftete er einem von eben diesen drei Partnern getragen Projekt – einer Kinderstiftung in seiner Heimatstadt Tscherepówez.

Sie sehen: Auch in Russland beginnen Wirtschaft und Zivilgesellschaft sich als Partner zu sehen. Russland kann davon nur profitieren. In Deutschland ist das

funktionierende Dreieck Staat-Wirtschaft-Dritter Sektor unverzichtbar für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Nach allen Studien ist der Dritte oder „Non-Profit-Sektor“, der in Deutschland rund 6 Prozent des BIP ausmacht und ca. 1,4 Millionen Menschen beschäftigt, ein wesentlich effizienterer und flexiblerer Anbieter sozialer Dienstleistungen als staatliche Institutionen. Der Staat hat dies längst erkannt und setzt v.a. in der Sozialpolitik klar auf den Dritten Sektor als seinen wichtigsten Partner.

So lassen Sie mich zum Ende wiederholen: Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind für mich auch natürliche Partner für ein modernes Russland. Sie sind die Basis für ein „Smart Russia“! Aus diesem Grund ist mir eine bessere Vernetzung der deutschen Unternehmen mit dem – deutschen und russischen - NGO-Sektor ein besonderes Anliegen. Noch gibt es meiner Ansicht nach zwischen unseren Wirtschaftsvertretungen und deutschen Stiftungen, Vereinen und Initiativen, die in Russland engagiert sind, zu wenige Berührungspunkte, manchmal sogar Vorurteile und Berührungsängste.

Deshalb möchte ich mit einigen konkreten Vorschlägen schließen:

1.Das bestehende „Fremdeln“ ist in erster Linie ein Problem der gegenseitigen Wahrnehmung. Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollten sich ebenfalls als „Verbündete“ sehen - mit einem gemeinsamen Anliegen und gemeinsamen Interessen. Die deutsche Wirtschaft sieht sich auch als Übermittler westlicher Standards und Normen – zu diesen gehört ebenfalls die Vernetzung mit einem kompetenten Dritten Sektor. Als „Koordinator“ sehe ich es als meine Aufgabe, genau diese Vernetzung zu unterstützen. Ein neues Forum soll mein neuer Newsletter sein, der „KO-RUS-KURIER“ , der seit diesem Monat per Internet Informationen über neue Initiativen und Möglichkeiten der zwischengesellschaftlichen Kooperation anbietet und den auch Sie in Bälde abrufen können.

2.Auch für die Zusammenarbeit mit russischen Stiftungen sollte die Krise als Chance genutzt werden. Nach Angaben des „Donors Forums“ in Moskau hatten Anfang 2009 rund 80% der russischen Unternehmen langfristige Pläne im Bereich „corporate social responsibility“. In knapperen Zeiten könnte vieles durch Synergieeffekte und „joint ventures“ auch im Stiftungsbereich gerettet werden. Wie der Magnat Mordaschów in Berlin sagte, ist dieses Engagement gerade in Krisenzeiten „besonders relevant“. Internationale Studien zeigten, dass „sozial verantwortliche Unternehmen eine höhere Profitabilität und Wertsteigerung erzielen und weniger anfällig sind für die negativen Auswirkungen des globalen wirtschaftlichen Wandels“. Es ist sicher in unserem gemeinsamen Interesse, dieses Denken aktiv zu unterstützen.

3.Alles ist möglich. Das Spektrum gemeinsamer Projekte ist heute praktisch grenzenlos. Offiziell hat die russische Regierung die Themen Energieeffizienz, Gesundheit und Verwaltungsmodernisierung zu Kernbereichen der Zusammenarbeit mit Deutschland erhoben. Allein dies eröffnet eine breite Vielfalt neuer Themen- und Projektbereiche. Vor allem im Umweltbereich, der in den letzten Putin-Jahren zunehmend marginalisiert wurde, ist zwischen den Umweltministern eine „neue Etappe der Kooperation“ eingeläutet worden. Gerade hier haben wir Deutschen einen klaren „Mehrwert“, der von direkter Relevanz für den NGO-Sektor ist. Wir haben nicht nur technisch viel zu bieten, sondern wissen vor allem, dass Umweltschutz nicht nur „von oben“ gemacht wird, sondern nur durch breites gesellschaftliches Umdenken, also auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu realisieren ist.

4.Besonders möchte ich am Ende noch einmal für eine lokale Zusammenarbeit von Unternehmen und gemeinnützigen Initiativen plädieren, d.h. in der konkreten Nachbarschaft und Umgebung, vor allem in den Regionen. Dabei geht es meist nicht um spektakuläres Kultur-Sponsoring oder aufwändiges Eventmanagement, sondern um praktisches gesellschaftliches Engagement für und mit den Menschen „vor Ort“. Für praktisch jede Thematik und Region gibt es deutsche Vereine und Organisationen, die Kontakte, Kompetenz und Ortskunde zu bieten haben. Dabei gibt es nichts, was es nicht gibt, wie ich in den letzten Jahren erlebt habe: direkte Sozialhilfe von „Tür zu Tür“, wie ein bekannter Verein heißt, Projekte für alte Kirchenmusik und neue Heiltherapien, Initiativen für jugendliche Strafgefangene, lokale Bibliotheken oder den Ausbau des sogenannten Great Baikal Trail, eines bereits 400 km langes Wanderwegenetzes, das von Freiwilligen gebaut, gepflegt und verbunden worden ist. Lassen Sie sich inspirieren – ich helfe Ihnen gerne bei der Vermittlung von Information und Kontakten!

Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Asset-Herausgeber

comment-portlet

Asset-Herausgeber

Über diese Reihe

Die Konrad-Adenauer-Stiftung, ihre Bildungsforen und Auslandsbüros bieten jährlich mehrere tausend Veranstaltungen zu wechselnden Themen an. Über ausgewählte Konferenzen, Events, Symposien etc. berichten wir aktuell und exklusiv für Sie unter www.kas.de. Hier finden Sie neben einer inhaltlichen Zusammenfassung auch Zusatzmaterialien wie Bilder, Redemanuskripte, Videos oder Audiomitschnitte.

Bestellinformationen

erscheinungsort

Moskau Russland

Asset-Herausgeber