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Länderberichte

100 Tage Quarantäne in Peru

von Nicole Stopfer, Dr. Andrés Hildebrandt

Strenge Maßnahmen, nüchternes Ergebnis

Seit 100 Tagen herrscht in Peru eine aufgrund des Coronavirus verhängte strenge Quarantäne. Die Ausgangssperre hat vor allem die komplexe Lage des Landes mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Lücken und geographischen und kulturellen Unterschieden ans Licht gebracht. Trotz aller auf internationaler Ebene anfangs gelobten Bemühungen hat die Pandemie institutionelle Schwächen Perus aufgezeigt, welche nun auch zunehmend Auswirkungen auf die Mittelschicht des Landes haben.

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Status Quo an Tag 100

Auf internationaler Ebene war Peru eines der ersten Länder Lateinamerikas, das strenge Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 traf. Am 16. März war eine Pflichtquarantäne verhängt und sukzessive durch weitere restriktive Maßnahmen ergänzt worden. Trotzdem zeigen die Zahlen an Tag 100 ein nüchternes Bild: die Gesamtzahl der Infizierten liegt bei 257.447, die Zahl der Todesfälle bei 8.223. Damit ist das Andenland hinter Brasilien das am schlimmsten von der Corona-Krise betroffene Land in der Region; weltweit liegt es auf Platz 7.

Die durch die peruanische Regierung ergriffenen Maßnahmen haben ihre geplanten Ziele scheinbar verfehlt. Der Grund dafür liegt jedoch nicht nur in der schwierigen globalen Konjunktur; die Ursache ist vor allem in den seit Jahren bestehenden und nun erneut zu Tage getretenen strukturellen Probleme zu suchen.
 
Peru vor COVID-19:  ideale Bedingungen für das Scheitern?

Im Jahr 2014 erhielt Peru die Einladung, an einem Länderprojekt der OECD teilzunehmen, welches den Weg für eine permanente Mitgliedschaft ebnen sollte. Zahlreiche von der OECD in Auftrag gegebene Studien stellten postwendend erste wirtschaftliche Fortschritte fest. Unter anderem konnte die Armutsrate bis zum Jahr 2018 dank eines stabilen Anstiegs des Bruttoinlandsproduktes auf 20.5 % gesenkt werden. Dennoch blieben dem Land zahlreiche Hausaufgaben zu erfüllen: Produktivitätssteigerung, Verringerung sozialer Ungleichheit sowie die Stabilisierung einer prekären Mittelschicht. Letztere, so eine der OECD Studien, könne bei einer Verlangsamung der Wirtschaft, “sehr leicht erneut in Armut zurückfallen”. Eine solche Situation scheint mit der Coronoa-Pandemie nun gegeben zu sein. Die Mittelschicht, zu der im Jahr 2019 immerhin 42,9% der Peruaner zählten, droht von der aktuellen Konjunkturabschwächung schwer getroffen zu werden.  

Ein weiterer Faktor, der die rasante Verbreitung der Pandemie erklären kann, ist die hohe Informalität des peruanischen Arbeitsmarktes. Ende 2019 arbeiteten 71,1%  der Peruaner im informellen Sektor. Vor diesem Hintergrund scheinen die Erfolgsaussichten der getroffenen Isolierungsmaßnahmen im Vorhinein fragwürdig gewesen zu sein. Je länger die Quarantäne dauerte, desto größer war die Zahl der Menschen, die gezwungen war ihre Wohnungen zu verlassen um ihr tägliches Brot zu verdienen.

Gleichzeitig haben die strengen Ausgangssperren die ohnehin bereits von Ungleichheit geprägten Bevölkerungsgruppen getroffen. Ungefähr zwölf Prozent der Peruaner leben in Haushalten in denen die Vorgabe des „social distancing“ aufgrund von Platzmangel schlichtweg nicht möglich ist; von den knapp drei Prozent der in extremer Armut lebenden Bevölkerung lebt die Mehrheit in ländlichen, abgeschotteten Gebieten; und weitere 25% identifizieren sich als indigene Bevölkerungsgruppe,  welche ohnehin beschränkten Zugang zu ärztlicher Versorgung und grundlegenden Dienstleistungen wie Wasser oder Strom besitzt. Mit Einzug der Pandemie in Peru ist dieser Teil der Bevölkerung nicht nur dem Virus sondern auch mangelhaften Informationen zu Mitteln über passende Präventionsmaßnahmen ausgesetzt.

Neben den sozioökonomischen Bedingungen erschweren institutionelle Altlasten der peruanischen Demokratie die aktuelle Fähigkeit des Staates, den Herausforderungen der Pandemie gerecht zu werden.

Vor allem Korruption ist ein endemisches Problem in Peru. Laut Transparency International belegt das Land Platz 101 von 180 auf einer zu Korruption geführten Liste und sticht vor allem im öffentlichen Sektor hervor: Korruption kostet den peruanischen Staat circa 4,3 Milliarden Euro, was etwa zehn Prozent des jährlichen Haushalts ausmacht. Im aktuellen Corona-Kontext wurden seit Anfang der Quarantäne bis zum 4. Juni 700 Ermittlungsverfahren eingeleitet, wovon etwa die Hälfte Fälle von Veruntreuung öffentlicher Gelder sind.
   
Nicht zuletzt befindet sich Peru in einem unvollendeten Dezentralisierungsprozess. Im Jahr 2002 wurden 25 Regionen mit politischer und wirtschaftlicher Autonomie und je eigener Verwaltung geschaffen. Im Laufe der Jahre und nun im Kontext der Pandemie der COVID-19 Pandemie lassen diese jedoch Zweifel an ihren tatsächlichen Fähigkeiten, die Ansteckungen zu verhindern und Wirtschaft zu reaktivieren, aufkommen. Schon im Jahr 2019 verfehlten die Regionen das Ziel, 80% ihres geplanten Haushalts tatsächlich auszuführen. Im Durchschnitt führten die Regionen nur 59.2% ihres jährlichen Budgets aus. Bei den Gemeinden belief sich der Anteil auf 61.7%.

Eine Quarantäne mit guten Absichten

Die strikten Quarantänemaßnahmen sowie das beachtliche wirtschaftliche Hilfspaket waren einzigartig in Lateinamerika. Präsident Martin Vizcarra signalisierte dadurch seit März die Absicht seiner Regierung, die Gesundheit der Peruaner jeglichen wirtschaftlichen Herausforderungen vorzuziehen.

Dank der im Laufe der letzten Jahrzehnte gewonnenen makroökonomischen Stabilität standen der Regierung die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung, welche die potenziellen Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs auf die schwächsten Gesellschaftsgruppen zu lindern versuchte.

Die von Wirtschaftsexperten oft gelobte makroökonomische Stabilität, welche sich vor allem durch die internationalen Reserven und peruanische Währungsstabilität auszeichnet, zeigt jedoch erhebliche Mängel wenn es um Investitionen beim Gesundheitssystem, der Infrastruktur sowie den Dienstleistungen geht; diese Lücken haben ohne Zweifel zur Zuspitzung der Pandemie beigetragen. So hat beispielsweise lediglich ein Drittel der Haushalte Zugang zu Wasser und Kanalisation und besitzt einen Kühlschrank.

Auch die Verteilung der finanziellen Beihilfen lief nicht komplett reibungslos. Familien in extremer Armut und andere Gruppen waren oftmals in den Datenbanken nicht registriert, was zumindest teilweise auf die bürokratisierte Aufgabenteilung für das Registrierungsverfahren und entsprechende Verifizierung zwischen den nationalen, regionalen und lokalen Behörden zurückzuführen ist. Ebenfalls wurden Korruptionsfälle – staatliche Beamte kassierten unrechtmäßig Beihilfen ab – gemeldet. Auch soll laut Medienberichten die Webseite für die Verteilung der Beihilfen von Hackern angegriffen worden sein.

Dies sind nur einige der Faktoren die erklären, warum die von der Regierung im März verabschiedeten Maßnahmen trotz ihrer strikten Vorschriften – besonders in den ersten Wochen – nur nüchterne Ergebnisse erzielt haben.

Bleibt nur die Reaktivierung?

Drei Monate strikter Quarantäne haben sich erheblich auf die peruanische Wirtschaft ausgewirkt. Wirtschaftsexperten rechnen mittlerweile mit einem Rückgang des BIP um 15% für 2020. Erst im Jahr 2022 könne die Wirtschaft das Wachstumsniveau von 2019 wieder erreichen.

Angesichts der düsteren Wirtschaftsaussichten beschloss die peruanische Regierung eine schrittweise Reaktivierung der Wirtschaftstätigkeiten in vier Phasen, welche die Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen zu jeder Zeit garantieren sollte.  Die zwei ersten Phasen wurden bereits umgesetzt. Die dritte soll Ende Juli initiiert werden. Die anfänglichen erheblichen Verzögerungen können sowohl auf die strukturelle Langsamkeit der peruanischen Verwaltungskultur als auch auf die übertriebenen bürokratischen Hürden in der Planung der ersten Phase zurückgeführt werden. Dabei muss gesagt werden, dass die Genehmigungsprozesse für Unternehmen und Branchen in der zweiten Phase erheblich erleichtert wurden.

Generell ist zu beobachten, dass die Debatte um die Reaktivierung der peruanischen Wirtschaft eine auf technische Fragen konzentrierte gewesen ist, welche stetig versucht, ein Gleichgewicht zwischen der Eindämmung der Krankheit und der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Stabilität für Millionen von Peruanern zu finden. Dennoch ließen die ein oder anderen unwahrscheinlichen und ideologisch geprägten Vorschläge sowohl von Exekutive als auch von Seiten des Kongresses, nicht auf sich warten.

Andererseits und trotz der Herausforderungen für das peruanische Bildungssystem, das den präsenziellen Schulunterricht auf unbestimmte Zeit verschieben musste, kann die neue in Radio und TV ausgestrahlte Fernsehsendung „Aprendo en Casa“ (Ich lerne von zu Hause) als ein Beispiel schneller Implementierung und praktischer Umsetzung gesehen werden. Gleichzeitig erinnert die Entscheidung der Regierung, den Schulunterricht in ländlichen Gebieten ohne Zugang zum Internet und in denen es kein Ansteckungsrisiko durch die COVID-19 gibt, wiederaufzunehmen, deutlich daran, dass in Peru immer noch riesige Ungleichheiten bestehen.

Trotz aller Bemühungen hat die peruanische Regierung an Popularität eingebüßt. Während die Zustimmungsraten für Präsident Vizcarra im März und April bei fast 90% lagen, sanken seine Zustimmungswerte im Juni und liegen derzeit bei 70%. Dabei sind 42% der Peruaner der Meinung, „dass die Regierung in Bezug auf das Gesundheitssystem tut, was sie im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten eben kann.“ In Bezug auf die Reaktivierung der Wirtschaft stimmen 39% den bisherigen Maßnahmen zu, wenngleich ein klares Bewusstsein für die gemachten Fehler besteht.

Eine neue Normalität?

Peru ist nur ein Beispiel in Lateinamerika dafür, wie die Corona-Pandemie seit langem bestehende, strukturelle Probleme wieder aufgedeckt hat. Angesichts dieser Situation scheint es wenig sinnvoll, blind für eine Rückkehr zur Normalität zu plädieren. Vielmehr ist es an der Zeit, Strukturen zu erarbeiten und zu fördern, die eine gerechtere soziale Teilhabe aller Bevölkerungsschichten in der Gesellschaft ermöglichen.

Gleichzeitig betonen einige Experten wiederholt, dass die Zahl der Todesfälle ohne strenge Quarantäne nach 100 Tagen durchaus bei 100,000 und die der Infizierten allein in Lima bei 900,000 gelegen hätte. Und dank der finanziellen Beihilfen und der schrittweisen Reaktivierung der Wirtschaft wurde der totale Kollaps verhindert. Dennoch: 100 Tage später hat sich Peru noch lange nicht von den Auswirkungen der Corona-Krise erholt, das Land steckt vielmehr mittendrin. Auch ist eine Fortsetzung der strengen Quarantänemaßnahmen unwahrscheinlich, nicht zuletzt da diese zunehmend im direkten Widerspruch zur weiteren Reaktivierung der Wirtschaft steht.

Jenseits der aktuellen Herausforderungen scheinen im Andenland, zurecht auch mit Blick auf die Wahlen im Jahr 2021, Themen wie eine gerechtere Verteilung von Wohlstand, Zugänge zu grundlegenden Dienstleistungen sowie die Regulierung bestimmter wirtschaftlicher Praktiken eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen.

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Nicole Stopfer

Nicole Stopfer bild

Leiterin Regionalprogramm Energiesicherheit und Klimawandel Lateinamerika

nicole.stopfer@kas.de +51 1/320 2870

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