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Länderberichte

Chiles „neue Normalität“

Mit dem Eintritt in die Phase der „neuen Normalität“ kehrt die Unsicherheit über die zukünftige Verfasstheit des Landes zurück.

Am 19. Juli verkündete der chilenische Staatspräsident Sebastián Piñera den Plan „Paso a Paso“ , mit dem die Regierung schrittweise den Übergang zur pandemiebedingten „neuen Normalität“ einleitet. Nach über 100 Tagen Quarantäne mit Ausgangssperre, 390.000 Infizierten sowie mehr als 10.000 an Folge einer Covid-19-Infektion Verstorbenen entfalten die Maßnahmen der Regierung ihre Wirkung. Zur „neuen Normalität“ gehören die Konfliktfelder der alten Normalität. Vor Ausbruch der Pandemie bestimmten die Debatte um Sozial- und Rentenreformen sowie die Diskussion um eine neue Verfassung die politische Agenda. Pandemiebedingt kommen nun der Einbruch der Wirtschaft und steigende Arbeitslosenzahlen hinzu. Darüber hinaus drohte in den letzten Wochen der Konflikt zwischen Mapuche-Gruppierungen und staatlichen Organen in der Region Araucania zu eskalieren. Angesichts dieser Gemengelage bleibt der Politik nicht viel Zeit zum Durchatmen. Chile befindet sich weiterhin im Dauerkrisenmodus.

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Kurswechsel in der Moneda?

Fünfzehn Monate vor der Präsidentschaftswahl in Chile bildete Präsident Sebastián Piñera am 28. Juli nochmals seine Regierungsmannschaft um. In seinem dritten Amtsjahr ist dies bereits die vierte Kabinettsumbildung. Mit vier neuen Ministern, die das Staatsoberhaupt und Chef der Regierung aus den Reihen der Regierungskoalition Chile Vamos in Kongress und Senat rekrutiert, reagiert der Staatschef auf interne Querelen innerhalb der Koalitionsparteien mit dem Ziel, die Reihen vor dem Superwahljahr 2021 mit Wahlen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, einschließlich der Präsidentschaftswahl im November zu schließen.

Neu ins Kabinett zogen die Senatoren Víctor Pérez (UDI) als Innenminister für Gonzalo Blumel (Evopoli) und Andrés Allamand (RN) als Außenminister für Teodoro Ribera (RN) sowie die beiden Kongress-Abgeordneten Jaime Bellolio (UDI) als Leiter der Regierungskanzlei für Karla Rubilar (RN) und Mario Desbordes (RN) als Verteidigungsminister für Alberto Espina (RN) ein. Karla Rubilar wechselt an die Spitze des Sozialministeriums für den ins Präsidialamt wechselnden Cristián Monckeberg (RN).

Insbesondere die Berufung der als konservative Hardliner geltenden Senatoren Victor Pérez und Andrés Allamand sorgt für Kritik. Beide Spitzenpolitiker des Regierungslagers lehnen das für den 25. Oktober angesetzte Plebiszit über eine Reform der Verfassung ab. Die Opposition kommentierte entsprechend den Umbau der Regierung als „derechización de la Moneda“, als Rechtsruck des Regierungspalastes, und Zugeständnis an den konservativeren Teil des Regierungslagers. Die in den zurückliegenden Wochen in Verhandlungen mit der Regierung stehenden moderaten Kräfte des oppositionellen Mitte-Links-Lagers gingen angesichts der umstrittenen Personalentscheidungen auf Distanz zum Regierungschef, der „mit einem Federstrich, die Illusion einer sozialen Rechten ausgelöscht habe“, so der Vorsitzenden der christdemokratischen Partei PDC, Fuad Chahin.

Die Neuaufstellung der Regierung in Schlüsselpositionen kommt zu einem Zeitpunkt, an dem es innerhalb der Regierungskoalition Chile Vamos - bestehend aus den Mitte-Rechts-Parteien Unión Demócrata Independiente (UDI), Renovación Nacional (RN), Evolución Política (Evópoli) und Partido Regionalista Independiente Demócrata (PRI) - zu politischen Verwerfungen kam im Umgang mit der bereits seit Oktober schwelenden und nun durch die Covid-Pandemie nochmals verstärkten sozialen und politischen Krise.

Nachdem die Regierung angesichts niedriger Infektionszahlen im März und April zunächst zögerlich vereinzelte Maßnahmen ergriff, steuerte Präsident Sebastián Piñera in den folgenden Wochen um. Bis Juni brachte die Regierung Hilfsmaßnahmen im Umfang von 12 Milliarden US-Dollar auf den Weg, die u.a. 2,5 Millionen Lebensmittelpakete umfasste sowie finanzielle Unterstützung für Privathaushalte und Klein- und Mittelständische Unternehmen ausschüttete. Angesichts von über 390.000 Infizierten haftet der Regierung dennoch der Makel an, zu spät und nicht ausreichend auf die Krise reagiert zu haben.

Im Juli brachte die Opposition daher zusätzlich zu den von der Regierung umgesetzten Unterstützungsleistungen eine Gesetzesvorlage ins Parlament ein, die den Beitragszahlern in die gesetzlichen privaten Rentenkassen AFP die Entnahme von zehn Prozent ihrer bis dato eingezahlten Beiträge gestattet. Ziel der Gesetzesvorlage, die auch Stimmen aus dem Regierungslager fand, ist es, angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-Krise den Arbeitern und Angestellten eine zusätzliche finanzielle Unterstützung zu ermöglichen.

Was vordergründig als Hilfsmaßnahme etikettiert ist, legt unterschwellig die Axt an das bei großen Teilen der Bevölkerung ungeliebte obligatorische private Rentensystem an. Kritiker des in der Zeit der Militärdiktatur unter der Regie des damaligen Arbeitsministers José Piñera – eines Bruders des jetzigen Staatspräsidenten - eingeführten privatwirtschaftlich organisierten Rentensystems sprechen daher bereits von der „Pandemie der AFPs“ (Senatorin Yasna Provoste, PDC), von denen das Land nun endlich befreit werde.

Die Diskussion über das Gesetz in beiden Kammern war geprägt von harten verbalen Auseinandersetzungen und Vorwürfen, die zu einem Bruch im Regierungslager führte, das bis zur letzten Minute darum kämpfte, eine Zustimmung zu verhindern.

Feindbild AFP

Schon seit Jahren schwelt ein erbitterter politischer und gesellschaftlicher Streit um die Zukunft der Altersversorgung im Land. Im August 2016 brachte die Bewegung „No + AFP“ mindestens 600.000 Menschen auf die Straße, die gegen das ineffiziente Vorsorgesystem protestierten, das im Alter zu kleine Renten abwirft.

Zunächst galt das in den 1920er Jahren in Chile eingeführte Sozialversicherungssystem durchaus als vorbildlich. Von Beginn an existierten jedoch verschiedene Rentensysteme, die nach einem Umlageverfahren darauf ausgerichtet waren, unterschiedliche Berufsgruppen zu versorgen. Die Unterschiede zwischen diesen Systemen waren dabei nicht das Ergebnis einer gut durchdachten Politik der sozialen Sicherheit, sondern das Ergebnis von Lobbyarbeit und dem Druck von Interessengruppen. Bis in die 1970er Jahre gab es als Folge dieser Entwicklung über 30 öffentliche Pensionskassen mit zum Teil sehr deutlichen Unterschieden in den Leistungen, die die verschiedenen Arbeitnehmergruppen erhielten.[1]

Die sozial- und wirtschaftspolitisch unter dem Einfluss der „Chicago Boys“ stehende Militärregierung um General Augusto Pinochet stellte das in den 1970er Jahren aufgrund seiner „Unübersichtlichkeit und Differenziertheit der Beitragszahlungen sowie der Pensionsansprüche“[2] bereits in der Kritik stehende öffentliche Pensionssystem auf ein von privaten Pensionsfonds (Administradoras de Fondos de Pensiones, AFP) verwaltetes individuelles Kapitaldeckungsverfahren um.

Mit dem privaten Rentensystem wurde eine Versicherungspflicht eingeführt, gemäß derer jeder Arbeitnehmer ab einem bestimmten Mindesteinkommen zehn Prozent seines Einkommens in den vom ihm ausgewählten Pensionsfonds einzahlen muss. Mit dem Erreichen des Pensionsalters - bei Männern 65 Jahre, bei Frauen 60 Jahre -, besteht die Möglichkeit, den Wert des Pensionskontos an eine Versicherung zu überschreiben, welche eine jährliche lebenslängliche Rente bezahlt, oder der Arbeitnehmer kann die Rente direkt vom Pensionsfonds erhalten und einen Teil seiner Ersparnisse noch bei ihm belassen und diese zu einem späteren Zeitpunkt abrufen.

Bereits in der Vergangenheit stand das rein privat finanzierte Rentensystem in der Kritik. Zum einen liegt dies an den kleinen Renten – im Durchschnitt für Männer 290.070 CLP (ca. 370,-Eur), für Frauen bei 176.856 CLP (ca. 230,-Eur) -, die auch nach über dreißig Einzahljahren kaum zum Überleben reichen.[3] Zum andern standen die AFPs wiederholt in den Schlagzeilen wegen der hohen Gehälter ihres Führungspersonals sowie nachgewiesenem Missmanagement. Darüber hinaus sehen viele Chilenen in den AFPs wie in der aktuellen chilenischen Verfassung von 1980 das letzte Relikt der Militärdiktatur, das es endgültig abzustreifen gilt. Entsprechend stand nicht zuletzt die Abschaffung des ungeliebten privaten Rentensystems im Mittelpunkt der Demonstrationen, die seit dem 18. Oktober des vergangenen Jahres das Land in seinen Grundfesten zu erschüttern drohen.

Seit November 2018 befindet sich bereits ein Gesetzesvorhaben in den parlamentarischen Ausschüssen mit dem Ziel, das Rentensystem in Gänze zu verbessern.[4] Allerdings haben die politischen Verhandlungen erst nach den Vorgängen vom Oktober/November 2019 Fahrt aufgenommen. Seit März liegt ein erster konkreter Vorschlag des Finanzministeriums auf dem Tisch, der eine Erhöhung der Rentenbeiträge um 6 Prozent auf 16 Prozent vorsieht. Diese zusätzlichen Beiträge sollen ausnahmslos vom Arbeitgeber eingezahlt werden, allerdings bis zum Jahr 2032 mit einem jährlichen staatlichen Zuschuss von 0,5 Prozent. Finanzminister Ignacio Briones führte in der Vorstellung des Reformvorschlags aus, dass bei Verabschiedung des Gesetzes in der vorgelegten Form und mit der bereits beschlossenen Anhebung der Mindestrente der chilenische Staat bis zum Jahr 2032 3,7 Milliarden US-Dollar in die Rentenkassen investieren wird.

Trotz der langen Ausarbeitungszeit von 18 Monaten und des durch die Massenproteste des vergangenen Jahres gestiegenen Drucks, eine tragfähige Reform des Rentensystems auf den Weg zu bringen, scheinen die Verhandlungspositionen von Regierung und Opposition noch nicht miteinander kompatibel. Während Vertreter der Regierungskoalition den Entwurf als „historisch“ (Senator David Sandoval, UDI) bezeichneten, stellen die Vertreter der Oppositionsparteien die Reformfähigkeit der AFPs als solches in Frage.

Ein Gegenvorschlag der Opposition sieht daher vor, die zusätzlich 6 Prozent erhobenen Beitragszahlungen in einem neuen Instrument zu hinterlegen: einem fiktiven Konto, das von einer neu einzurichtenden staatlichen Organisationseinheit verwaltet wird. Dabei handelt es sich um ein spezielles Register, das es ermöglicht, diesen Beitrag mit den künftigen Leistungen, die der Arbeitnehmer erhalten wird, zu verknüpfen. Die Idee ist, dass diese Ressourcen kollektiv investiert werden sollten, wobei Gewinne und Verluste geteilt werden. Im Gegensatz zu den individuellen Kapitalisierungskonten, die es heute in den AFPs gibt, sind bei den fiktiven Konten die eingetragenen Vermögenswerte nicht Eigentum des Arbeitnehmers in dem Sinne, dass diese Mittel nicht vererbbar sind und nicht entnommen werden können.

Auf dem Weg zur Volksabstimmung über die Verfassungsreform

Nicht nur in der Diskussion um das Rentensystem liegen die Positionen der politischen Lager noch weit auseinander. Für den 25. Oktober ist die Volksbefragung (Plebiscito[5]) über die zukünftige Verfassung Chiles angesetzt, als Reaktion auf eine der zentralen Forderungen während der Proteste vom Oktober/November des vergangenen Jahres.

In einem überparteilichen nationalen Übereinkommen verständigte sich unter dem Eindruck der landesweiten, teilweise von Gewalt begleiteten Proteste („estallido social“) die Regierung mit fast allen Parteien der Opposition auf eine Volksbefragung zur Ausgestaltung einer zukünftigen Verfassung, die die während der Zeit der Militärdiktatur im Jahr 1980 erlassene Verfassung ergänzen bzw. ersetzen soll. Der ursprünglich für den April vorgesehene Termin war aufgrund der Gesundheitskrise in den Oktober verschoben worden.

Am 25. Oktober werden die wahlberechtigten Chilenen nun vor zwei Fragen gestellt: 1.) Wollen Sie eine neue Verfassung? 2.) Wie soll das verfassungsgebende Organ zusammengesetzt werden?

Befürworter und Gegner des Verfassungsprozesses bringen sich seit Wochen in Stellung. Allerdings verlaufen wie auch bei der Reform des Rentensystems die Frontlinien nicht ganz eindeutig zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Einigkeit besteht in beiden Lagern darin, dass die bestehende Verfassung einer Überarbeitung bedarf. Allerdings geht den Gegnern des Plebiszits – den Vertretern des „Rechazo“ – die Ausarbeitung einer gänzlich neuen Verfassung auf „leerem Papier“ (hoja en blanco) zu weit, da sie eine Reform des bestehenden Gesetzestextes für ausreichend erachten. Die Parteien der Opposition unterstützen geschlossen den Versuch, eine neue Verfassung zu entwerfen und haben sich zur Kampagne „Yo Apruebo“ (Ich stimme zu) zusammengeschlossen.

Fazit

Chile tritt mit stabil fallenden Infektionszahlen seit Anfang August in die Phase der „neuen Normalität“ ein. Dies bedeutet, dass die Kindergärten, Schulen und Universitäten nach wie vor geschlossen und größere Menschenansammlungen verboten bleiben, allerdings eine schrittweise Rückkehr zum öffentlichen Leben mit den entsprechenden Einschränkungen und Sicherheitsvorkehrungen ermöglicht werden soll. Mit dieser erfreulich positiven Entwicklung setzt sich Chile im regionalen Vergleich nach anfänglich düsteren Prognosen von der Lage in den Nachbarländern deutlich ab. Brasilien, Argentinien und Peru etwa zeigen nach wie vor eine hohe Zahl an täglichen Neuinfektionen. Für Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Mit der Adaption des öffentlichen Lebens an die pandemieabhängigen Umstände folgt die Rückkehr zur politischen und sozialen Unsicherheit, die die politische Agenda seit dem 18. Oktober 2019 beherrscht.

Während sich die Wahlkampflager für das „Rechazo“ bzw. „Apruebo“ angesichts des nahenden Plebiszits vom 25. Oktober formieren, diskutieren die Regierenden auf nationaler und auf lokaler Ebene, wie Gewaltexzesse wie aus dem Vorjahr unterbunden werden können. Ausschreitungen wie im Mai im Stadtbezirk El Bosque oder wie jüngst in Peñalolén und Estación Central mit Straßenbarrikaden und Anschlägen auf den öffentlichen Personennahverkehr geben einen Vorgeschmack darauf, was drohen könnte, sobald der letzte Schritt des Fünf-Stufen-Plans zur „neuen Normalität“ vollzogen ist.

Mit dem Herannahen des Wahltages des Plebiszits, der zeitlich eng mit dem Jahrestag des Beginns der Ausschreitungen vom 18. Oktober 2019 zusammenfällt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch die politischen Debatten erneut eine gewaltsame Fortsetzung auf den Straßen der Hauptstadt und in anderen Landesteilen finden könnten. Es bleibt zu hoffen, dass die Demonstrationen friedlich verlaufen und sich die politischen Akteure ihrer immensen Verantwortung bewusstwerden und unabhängig vom politischen Lager in der Hitze des Wahlkampfgefechts kein zusätzliches Öl ins Feuer gießen.

Seit dem Ende der Militärdiktatur waren die Chancen noch nie so groß, der wirtschaftlichen Entwicklung Chiles eine angemessene  sozialpolitische Komponente folgen zu lassen.  Dies bedarf allerdings echter Zugeständnisse und Anstrengungen auf allen Seiten, das Abrücken von Maximalforderungen mit dem Ziel, tragfähige Kompromisse zu erreichen. Dreißig Jahre nach dem beispielgebenden friedvollen Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie kann Chile seine Erfolgsgeschichte fortschreiben und zeigen, wie das Land gestärkt aus der sozialen, politischen und sanitären Krise hervorgeht. Ausgemacht ist dies allerdings noch lange nicht.

 

[1] Ruiz-Tagle, Joaquin Vial & Castro, Francisca: The Chilean Pension System, OECD Working Papers, 1998, S. 4ff.

[2] Jäger, Johannes: Die Privatisierung des Pensionssystems in Lateinamerika: Ursachen und Folgen des Experiments in Chile, SRE-Discussion 60, Wien 1998, S. 2.

[3] https://www.spensiones.cl/portal/institucional/594/w3-article-13808.html

[4] http://www.senado.cl/appsenado/templates/tramitacion/index.php?boletin_ini=12212-13

[5] https://www.bcn.cl/procesoconstituyente/plebiscito2020

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Andreas Michael Klein

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Leiter des Regionalprogramms Politikdialog Asien

andreas.klein@kas.de +65 6603 6162

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