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Einzeltitel

„Atemschaukel“ und „Dämmerschoppen“

von Prof. Dr. Michael Braun
Neuerscheinungen der KAS-Literaturpreisträger

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„Bücher, Bücher, aber nichts zum Lesen!“ So kann man angesichts der aktuellen belletristischen Produktion ausrufen. Von den über 90.000 Büchern, die jährlich auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen, gehört jedes sechste zur sogenannten schönen Literatur, die seit der Aufklärung mit wachsenden Zahlen das Marktsegment zwischen wissenschaftlicher und „trivialer“ Literatur besetzt hat. An die 6.000 Romane erscheinen jedes Jahr, 150 werden für den Deutschen Buchpreis eingereicht, der sich als derzeit genauestes Instrument für einen mehrheitsfähigen Lesegeschmack etabliert hat. Vor dieser Masse strecken selbst professionelle Kritiker die Waffen. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, die Klasse zu bestimmen, etwa in einer Musterung der Neuerscheinungen der Literaturpreisträger. Was haben sie zur Frankfurter Herbstbuchmesse beizutragen?

An der Spitze steht Herta Müllers Roman „Atemschaukel“. Er ist auf der Longlist, seit dem 16.9. auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2009 nominiert. Es geht in dem Buch der KAS-Preisträgerin (2004) um die Deportation eines jungen Rumäniendeutschen Anfang 1945 in ein sowjetisches Arbeitslager. Das Besondere des Buches ist, wie Herta Müller das Lagerleben in die literarische Erinnerung bringt: nicht dokumentarisch, sondern durch sprachliche Verdichtung und dichterische Anreicherung. Die einzelnen Kapitel gehen von den Dingen aus, sie sprechen vom „Hungerengel“, von den „Kalkfrauen“, dem „Blechkuss“, der „Tageslichtvergiftung“. Jedes dieser Worte enthält eine Welt, das Gedächtnis von Arbeitskolonne und Abendappell, von der Schinderei im Schlackekeller, von der Langeweile als „Geduld der Angst“, von „Sehnsuchtskrankheit“ und Heimweh als dem „Hunger nach dem Ort, wo ich früher einmal satt war“. Ein Manifest der Erinnerung und der Sprachkunst!

Der aktuelle Literaturpreisträger Uwe Tellkamp legt seinen ersten Lyrikband vor. Aber Achtung: Die „Reise zur blauen Stadt“ ist keine Sammlung von Dresden-Gedichten, sondern ein lyrisches Epos in vierzig Kapiteln, das den Leser tief in die deutsche Geschichte und an ihre realen und magischen Orte entführt.

Ein politisch brisantes Werk ist die Dokumentation „Der Fall Dreyfus“ von Louis Begley (KAS-Literaturpreis 2000). Der in der heutigen Ukraine geborene amerikanische Schriftsteller und pensionierte Rechtsanwalt Begley hat den „Fall Dreyfus“ aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert in einer minutiösen Studie aufgearbeitet. Der Fall gilt als die Geburtsstunde des modernen Intellektellen, der sich in Dinge einmischt, die ihn von Haus aus nichts anzugehen scheinen; Zola schrieb 1895 einen anklagenden Beschwerdebrief an den Präsidenten der Republik. Doch Begley geht es nicht nur um den historischen Fall von Verleumdung, Justizirrtum und staatlich toleriertem Antisemitismus, der seinerzeit die geistig-politische Welt in Dreyfusards und Antidreyfusards spaltete. Es geht ihm auch um die jüngeren Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte im amerikanischen „Kampf gegen den Terror“.

Sein lyrisches Vermächtnis hat der 2007 verstorbene Walter Kempowski (KAS-Preisträger 1994) überliefert. Erstmals können wir nun seine Gedichte lesen. Der Gedichtband „Langmut“ ist ein ebenso einfaches wie eindringliches Lebenserinnerungsbuch, das auf die geistig-künstlerische Kraft des Menschen gegen stumme Trauer und Verzweiflung setzt.

Der KAS-Preisträger 1997, Thomas Hürlimann, dessen Vater-Roman „Der große Kater“ derzeit mit Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt wird, ist bekannt als virtuoser Erzähler und humorvoller „Verhängnisforscher“. Der Band „Dämmerschoppen“ vereinigt seine besten Novellen und Erzählungen, darunter auch eine nicht ganz so bierernste Beschreibung der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia. Der Band beschließt das letzte Herbstprogramm des kürzlich geschlossenen Ammann Verlags, der 1981 mit Hürlimanns erstem Buch („Die Tessinerin“) eine weithin erfolgreiche Verlagsgeschichte begann.

Ein Novellist von Gnaden ist auch Hartmut Lange (KAS-Preisträger 1998). Er hat die Gattung, die lange im Schatten der Kurzgeschichte stand, zum Leuchten gebracht. Drei neue Novellen („Der Abgrund des Endlichen“) bringt der Diogenes Verlag 2009 heraus. Es sind abermals kunstvoll gewendete Geschichten vom Verschwinden, vom Abschied und vom unstillbaren Transzendenzbegehren des Menschen.

Lohnenswerte Lektüre gibt es also genau 50 Jahre, nachdem die deutsche Literatur mit Grass, Böll und Johnson endgültig den Anschluss an die Moderne fand, allemal. Und wer nach weiteren aktuellen Titeln sucht, dem können aus der Longlist des Deutschen Buchpreises vor allem zwei Bücher empfohlen werden: Terézia Moras spannender und lehrreicher Roman über einen Globalisierungsverlierer, der nur im Internet zu sich selbst kommt („Der einzige Mann auf dem Kontinent“, Luchterhand), und Sibylle Lewitscharoffs Roman „Apostoloff“ (Suhrkamp), eine grimmige, aber auch erzkomische Reise durch die bulgarische Vergangenheit und die europäische Gegenwart.

 

 

 

 

 

  • Louis Begley: Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte. Übersetzt von Christa Krüger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009.
  • Hartmut Lange: Der Abgrund des Endlichen. Drei Novellen. Zürich: Diogenes, 2009.
  • Herta Müller: Atemschaukel. Roman. München/Wien: Hanser, 2009. 302 S., 19,90 €
  • Alfred Kittner: Briefe an Wulf Kirsten. Aachen: Rimbaud, 2009.
  • Uwe Tellkamp: Reise zur blauen Stadt. Frankfurt a.M.: Insel, 2009

 

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

erscheinungsort

Sankt Augustin Deutschland