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An der Schwelle eines „literarischen Zeitalters“?

von Prof. Dr. Michael Braun

Zu einigen Neuerscheinungen der deutschsprachigen Belletristik 2003

Burkhard Spinnen (KAS-Preisträger von 1999), der zu den wenigen Autoren gehört, die sich mit dem Job eines freundlichen Experten fürs Geschichtenerzählen nicht zufriedengeben, hat der aktuellen literarischen Szene in Deutschland ein kritisches, aber verhalten optimistisches Zeugnis ausgestellt: „Wir stehen an der Schwelle eines durch und durch literarischen Zeitalters! Laut und polternd müssen die Staatsstücke sein, und die Kabinettsnovellen sollten weniger von Kleist, etwas mehr dagegen von Boccaccio und das allermeiste vom Groschenheft haben. Doch zum Ausgleich dafür führen die Wege der jungen Dichterin und des jungen Dichters nicht mehr durch politische Enthaltsamkeit ins soziale Dauerabseits. Vielmehr erwerben sie in den Blechschmieden der ‚Daily Soaps‘ und in den Gagküchen der ‚Harald Schmidts‘ das Rüstzeug, mit dem sie, vielleicht nach einer kurzen Zwischenstation in der Popliteratur, bald schon zu Dramaturgen und Storylinern von Regierung und Opposition avancieren können“.

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Besser läßt sich der Wandel im Verhältnis von Literatur und Politik kaum in Worte fassen. Die literarische Avantgarde von gestern ist zum Alternativ-Dramaturgen der Politik von heute geworden. Jüngstes Beispiel: Florian Illies‘ Fortsetzung seines Bestsellers Generation Golf, Generation Golf zwei, porträtiert die Werte-Suche und das gemäßigte politische Engagement der mediensozialisierten Generation der jetzt Dreißigjährigen. Zeitgenössische Literatur, die auch politische Ansprüche stellt, erzählt von den Lügen in Zeiten von Krieg und Terror, von Vergangenheiten, die nicht vergehen. Daß dabei auch ein klassisches literarisches Thema wie die Liebe nicht zu kurz kommt, zeigt ein Blick auf die aktuellen Herbsterscheinungen der deutschen Belletristik, auf die im folgenden ein paar Streiflichter geworfen werden.

Zweierlei scheint vor der Buchmesse in Frankfurt freilich schon ausgemacht: zum einen ist die von Umsatzrückgängen stark gebeutelte Buchbranche, sind vor allem die kleinen und mittleren Verlagshäuser auf Verkaufserfolge dringend angewiesen, um über die Runden zu kommen; das Institut für Handelsforschung in Köln hat für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels im März einen Umsatzrückgang gegenüber dem Vorjahresmonat von 11,8 Prozent errechnet (vgl. Der Spiegel 24/2003, S. 154). Zum anderen kann die Literaturbranche aber – nach einem Rekordtief im Frühjahr – auf das „stärkste Programm seit langem“ (V. Hage) setzen. Dies wie auch der Erfolg neuer und bewährter Literatursendungen im Fernsehen stimmen zuversichtlich (Elke Heidenreichs neue Büchersendung Lesen! im ZDF, Jochen Hiebers Weimarer Salon im MDR).

‚Siebzig nicht verweht‘

Die bewährte Autorengarde der deutschen Nachkriegsliteratur tritt in selten geschlossener Formation mit neuen Titeln an: Günter Grass legt einen reich illustrierten Gedichtband (Letzte Tänze) vor, Walter Kempowski (KAS-Preisträger von 1994) schickt in seinem Roman Letzte Grüße dem vergangenen Jahrhundert ein Abschiedsgeschenk hinterher, der diesjährige Georg-Büchner-Preisträger Alexander Kluge hat in seinem Mammutwerk Die Lücke, die der Teufel läßt eine Sammlung von Prosatexten vorgelegt. Ein Fundbüro an einem deutschen Bahnhof wird in Siegfried Lenz‘ gleichnamigen Roman zur Wechselstube der Ängste und Hoffnungen der Menschen in der mobilisierten und überinformierten Moderne. Christa Wolfs Tagebuch-Journal Ein Tag im Jahr, in dem während des Zeitraums 1960 bis 2000 jedem 27. September ein eigenes Kapitel gewidmet wird, gibt Rechenschaft über das Leben der Autorin, über ihre Gedanken zu ökologischen und politischen Zeitfragen. Christa Wolfs Jahrestage sind Ausdruck einer „Pflichtübung“ der Autorin (Der Spiegel 37/2003, S. 192): zu verhindern, daß „unsere jüngste Geschichte, besonders die seit 1989, in Klischees zu erstarren“ droht.

Martin Walser setzt mit seiner Notatensammlung Meßmers Reisen die 1985 publizierten Meßmers Gedanken fort. Rehabilitiert wird die Idee der ‚reinen Literatur‘ in der romantischen Tradition eines ‚Erzählens ohne Gepäck‘. Meßmers Reisen ist ein fiktives Tagebuch, ein Arbeitsjournal mit Erzählfragmenten, Bewußtseinsnotaten, Zeitreflexionen und poetischen Gedanken, die der Walser-Lesern wohlvertrauten Figur des einsamen Flaneurs neue Facetten hinzufügen.

Der Berliner KAS-Preisträger Hartmut Lange hat einen Band mit zwei Novellen (Leptis Magna) vorgelegt, die einmal mehr in meisterhafter, an Kleist geschulter Form ein novellistisches Grundthema des Autors variieren: den Einbruch des Rätselhaften in die Welt des Alltags und das Verschwinden der vertrauten Wahrnehmungs-maßstäbe.

Vergangenheiten, die nicht vergehen

Die Vergangenheit des deutschen und europäischen Jahrhunderts ist nach wie vor eine literarische Schatztruhe. Uwe Timms Roman Am Beispiel meines Bruders ist eine autobiografische Skizze des 1940 geborenen Autors über die nationalsozialistische Zeit. Im Mittelpunkt steht der Bruder des Autors, der sich freiwillig zur Totenkopfdivision der SS gemeldet hatte, 1943 schwer verwundet wurde und im Lazarett starb. Die undurchsichtige und paradoxe Situation der letzten Kriegsjahre auf Kreta behandelt Klaus Modicks Roman Der kritische Gast. Der Titelheld reist mit dem Geheimauftrag, die Kunstschätze der Insel dem Deutschen Reich zuzuführen, in das von Partisanenkämpfen zerrissene Land zur Zeit der Deutschen Besatzung, gerät dort zwischen die Fronten und schlägt sich schließlich auf die Seite der kretischen Freiheitskämpfer. In filmisch zugeschnittenen Szenenwechseln wird zugleich die Geschichte eines Hamburger Studenten erzählt, der in den siebziger Jahren auf die Insel fährt, um den Spuren des Schatzes zu folgen, aber dabei auf die Nazi-Vergangenheit seines Vaters stößt. Geschickt vernäht Modick die Genremuster von Agenten-, Abenteuer- und Zeitroman; Ergebnis ist eine hintergründige Zwei-Ebenen-Geschichte über eine Vergangenheit, die nicht vergeht.

Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder geht – vor dem Hintergrund der umstrittenen Wehrmacht-Ausstellung – aus der Sicht der Tochter der Frage nach, welche Rolle deren Vater im Krieg gespielt hat. Sten Nadolny Ullsteinroman setzt sich mit den Verquickungen von Unternehmens- und Familiengeschichte auseinander, passend zum hundertjährigen Jubiläum des Ullsteinverlages. Peter Härtlings Roman Leben lernen enthält Erinnerungen über die Kindheit des Autors im Krieg, über Flucht Neuanfang als Journalist und seine Karriere als Lektor, Verlagsleiter und erfolgreicher Autor (der Autor wird am 13. November siebzig Jahre alt). Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz hat einen Roman über die Wunden geschrieben, die die ostmitteleuropäische Geschichte nach 1989 hinterlassen hat. Liquidation ist ein an die Thematik von Kaddisch anknüpfender Roman über die Schwierigkeiten, den osteuropäischen ‚Geschichtsverlust‘ nach den epochalen Transformationen zu verarbeiten. Hans Joachim Schädlich meldet sich nach mehrjährigem Schweigen mit denkwürdigen Geschichten zurück. In der Form von Wechselgesprächen werden die freiwilligen oder erzwungenen Rollentausche von Menschen beim Wechsel politischer Systeme aufgearbeitet, etwa die Geschichte des hohen SS-Funktionärs und Himmler-Getreuen Schneider, der nach dem Krieg den Namen Schwerte annahm, seine eigene Frau wiederheiratete, ein zweites Mal promovierte und unter dem falschen Namen Schwerte als Germanistikprofessor und Rektor der Aachener Hochschule Karriere machte (Anders). Und schließlich beschäftigt sich Volker Hages Resümee der Debatte über die Literatur und den Luftkrieg mit den lange Zeit totgeschwiegenen Leiden der deutschen Zivilbevölkerung in der letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges.

Lügen in Zeiten des Krieges

Der KAS-Literaturpreisträger Norbert Gstrein hat schon mit seinen Büchern Register (1992) und Die Englischen Jahre (1999) bewiesen, wie gut er das Nachdenken über die Möglichkeiten des Erzählens im Medienzeitalter mit einer spannenden Geschichte verbinden kann. Sein Roman Das Handwerk des Tötens ist, angelehnt an die Ermordung eines Stern-Reporters und seines Fotografen im Kosovo 1999, eine Studie über das Verhältnis der Kriegswirklichkeit zur literarischen Darstellung. Traumatisierte Menschen, Geisterdörfer, zerstörte Landschaften zeigen an, dass die inneren und äußeren Wunden, die der Krieg geschlagen hat, noch lange nicht verheilt sind. In einem verwickelten Perspektivenspiel löst der Autor die Frage, ob sich die von Lügen, Intrigen und Desinformationen entstellte Kriegsgeschichte überhaupt noch rekonstruieren laßt: Leitend sind Skrupel gegen eine spektakuläre Kriegsberichtserstattung und einen Investigationsjournalismus, der eine wirklichkeits-getreue und genaue Darstellung des Krieges eher verhindert als unterstützt. In dem Gestrüpp von Legenden und Lügen, von Helden- und Opfergeschichten – so das Resümee von Gstreins Roman – ist es kaum möglich, zum historischen Kern des Geschehens vorzudringen. Darüber hinaus vermag Gstrein auch Kritik an den kroatischen Kriegsteilnehmern zu üben, ohne sich – wie sein Landsmann Peter Handke – auf die Seite der simplifizierenden Verteidiger Serbiens zu stellen.

„Erklär mir, Liebe!“

Die Rätsel und Risiken der Liebe haben einen beachtlichen Teil der Herbstliteratur inspiriert. Das verrät schon der barockisierende Titel von Botho Strauß‘ neuem Buch, Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich, einer Geschichte über Liebesverrat und Liebesbetrug. Auch Hanns-Josef Ortheil hat ein Buch über Die große Liebe geschrieben. Arnold Stadlers kubanische Liebesgeschichte Eines Tags, vielleicht auch Nachts verfolgt die Liebesvergangenheit eines Mannes, der eines Tages am Strand von Havanna tot aufgefunden wird. Der Bachmann-Preisträger 2001 Michael Lentz legt mit Liebeserklärung das Protokoll einer winterlichen Liebesreise durch Deutschland vor – und zugleich Fragmente einer zeitgenössischen Sprache der Liebe. Dieter Kühns versgetreue Neuübertragung des Versromans Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg komplettiert das Mittelalter-Quartett des Verfassers und versetzt den Leser in jene Zeit, in der (höfische) Liebe und erotische Leidenschaft noch zwei grundverschiedenen Sphären angehörten.

Liebesromane haben auch Roland Koch (Ins leise Zimmer), Thorsten Becker (Sieger nach Punkten), Birgit Vanderbeke (Geld oder Leben) und Monika Maron (Geburtsort Berlin) geschrieben. Gerhard Henschels Die Liebenden, ein Briefroman über den Zeitraum 1940 bis 1993, erzählt anhand authentischer Dokumente eine fünfzigjährige Liebesgeschichte und erinnert an jene Zeiten, in denen das private Schreiben in Briefen noch als eine lebenswichtige Kommunikationsform verstanden wurde.

Zuletzt eine persönliche Leseempfehlung aus der englischsprachigen Romanwelt: Louis Begleys Roman Schiffbruch erzählt auf ebenso spannende wie abgründige Weise die Geschichte einer amour fou, die sich zwischen einem renommierten amerikanischen Schriftsteller und einer französischen Journalistin auf wechselnden Schauplätzen abspielt – von Paris über New York und eine Insel in der Ägäis bis zum tragischen Finale auf Martha’s Vineyard. Ein mit geschliffener Ironie gezeichneter Roman der guten Gesellschaft, ein Sittenbild der intellektuellen ostamerikanischen Oberschicht wie auch des postmodernen Literaturbetriebs und ein empathisches Porträt liebender und leidender Menschen: Der Roman von KAS-Preisträger Louis Begley, der am 6. Oktober 70 Jahre wird, zeugt von der – wie der Autor schreibt – verzweifelten, aber nicht hoffnungslosen Suche des Menschen „nach einem guten Leben“.

PD Dr. Michael Braun, Leiter des Referats Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung

Neuerscheinungen im Überblick (Auswahl)

Romane, Erzählungen, Essays

Askan, Katrin: Wiederholungstäter. Erzählungen. Berlin Verlag.

Becker, Torsten: Sieger nach Punkten. Roman. Suhrkamp.

Grünbein, Durs: Warum schriftlos leben. Aufsätze. Suhrkamp.

Gstrein, Norbert: Das Handwerk des Tötens. Roman. Suhrkamp.

Katharina Hacker: Eine Art Liebe. Roman. Suhrkamp.

Hage, Volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literatur und den Luftkrieg. S. Fischer.

Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. Roman. Deutsche Verlagsanstalt.

Henschel, Gerhard: Die Liebenden. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt.

Härtling, Peter: Leben lernen. Roman. Kiepenheuer & Witsch.

Kempowski, Walter: Letzte Grüße. Roman. Knaur Verlag.

Kertesz, Imre: Liquidation. Roman. Suhrkamp.

Kluge, Alexander: Die Lücke die der Teufel lässt. Prosatexte. Suhrkamp.

Koch, Roland: Ins leise Zimmer. Roman. Kiepenheuer & Witsch.

Kühn, Dieter: Tristan und Isolde. S. Fischer.

Lange, Hartmut: Leptis Magna. Zwei Novellen. Diogenes.

Lentz, Michael: Liebeserklärung. Protokoll. S. Fischer.

Lenz, Siegfried: Fundbüro. Roman. Hoffmann und Campe.

Nadolny, Sten: Ullsteinroman. Ullstein Verlag.

Maron, Monika: Geburtsort Berlin. Roman. S. Fischer Verlag.

Modick, Klaus: Der kretische Gast. Roman. Eichborn Verlag.

Hans Joachim Schädlich: Anders. Roman. Rowohlt.

Schimmang, Jochen: Die Murnausche Lücke. Roman. Wunderhorn Verlag.

Stadler, Arnold: Eines Tags, vielleicht auch Nachts. Roman. Jung & Jung.

Strauß, Botho: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Hanser Verlag.

Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Roman. Kiepenheuer & Witsch.

Vanderbeke, Birgit: Geld oder Leben. Roman. S. Fischer.

Waberer, Keto von: Der Schattenfreund. Liebesgeschichten. Berlin Verlag.

Walser, Martin: Meßmers Reisen. Prosaband. Suhrkamp.

Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr. Tagebuch. Luchterhand.

Lyrik

Enzensberger, Hans Magnus: Geschichte der Wolken. Gedichte. Suhrkamp.

Grünbein, Durs: Schnee. Suhrkamp.

Grass, Günter: Letzte Tänze. Gedichte. Steidl Verlag.

Hamann, René: Neue Kokons. Gedichte. Lyrikedition 2000.

Kunze, Reiner: Wo wir zu Hause das Salz haben. Nachdichtungen. S. Fischer.

Lyrik von Jetzt. Hrsg. von Björn Kuhligk und Jan Wagner. Dumont Verlag.

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1. Oktober 2003
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

erscheinungsort

Sankt Augustin Deutschland