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Der Hitler-Stalin Pakt

Das Zusammengehen der beiden Diktatoren und seine weltgeschichtlichen Folgen

Ein Aufsatz von Herrn Dr. Gerhard Wettig.

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Der Hitler-Stalin Pakt

Das Zusammengehen der beiden Diktatoren und seine weltgeschichtlichen Folgen

Die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt schlug in der internationalen Öffentlichkeit ein wie eine Bombe. Zwar bezog die UdSSR mit dem Nichtangriffsvertrag nach Moskauer Lesart eine neutrale Position zwischen dem Deutschen Reich und den westeuropäischen Staaten Großbritannien (Britain) und Frankreich, doch war jedem politisch Denkenden klar, dass eine sehr weitreichende Vereinbarung mit einseitiger Ausrichtung worden war. Das entsprach sowjetischer Absicht, wie die interne Rede von der "Neutralität besonderer Art" erkennen lässt. Stalin gab Hitler den Weg frei zum Angriff auf Polen und erteilte London und Paris eine Absage, die mit seiner Regierung über den Aufbau einer Abwehrfront verhandelt hatten. Es war anzunehmen, dass er für diese Unterstützung der Aggressionspolitik einen Preis gefordert und erhalten hatte. Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs konnten sich ausrechnen, worin dieser bestand: Ihre Weigerung, der Roten Armee den Zugang zu ostmitteleuropäischen Ländern wie namentlich den baltischen Staaten zu gestatten, ohne dass deren Einverständnis und irgendein Erfordernis vorlag, hatte die Einigung mit der UdSSR verhindert.

Der Hitler-Stalin-Pakt veränderte die internationalen Verhältnisse von Grund auf:

• Erstens war das britisch-französische Bemühen um Konterung des deutschen Expansionsstrebens gescheitert. Stalin hatte das Deutsche Reich und die beiden westeuropäischen Staaten mit Erfolg gegeneinander ausgespielt und von Hitler erhalten, was ihm die andere Seite nicht zu geben bereit war.

• Zweitens öffnete Stalin Hitler den Weg zum Krieg gegen Polen und dessen westeuropäische Schutzmächte, indem er ihm die Sorge vor einem Zwei-Fronten-Krieg nahm. Dieser war aufgrund der Erfahrung im Ersten Weltkrieg für die deutsche Seite ein Alptraum. Niemals wieder sollte sich eine derartige militärische Situation wiederholen. Da Hitler und die deutsche Militärführung darin übereinstimmten, dass Polen rasch niederzuwerfen sein werde, war die Gefahr gebannt, als sich die UdSSR zu kriegerischer Abstinenz verpflichtete.

• Drittens hatte die Sowjetunion seit dem Scheitern ihrer Bemühungen Anfang der zwanziger Jahre keine Möglichkeit mehr gehabt, ihre Macht und ihr System auszudehnen. Sie sah sich von kapitalistischen Staaten umgeben, die sich mittlerweile so weit konsolidiert hatten, dass sie etwaigen Expansionsversuchen überlegenen Widerstand entgegensetzen konnten. Mit der Parole des "Sozialismus in einem Lande" hatte Stalin daraus die Konsequenz gezogen. Demnach herrschte bis auf weiteres "revolutionäre Ebbe". Nunmehr kehrte die "revolutionäre Flut" zurück; das sowjetische Eingedämmtsein war beendet. Stalin hatte erreicht, was er seit langem erhofft hatte: Die "zwischenimperialistischen (mezhimperialisticheskie) Widersprüche", das heisst die Konflikte zwischen den zu Imperialisten erklärten kapitalistischen Mächten, gingen in das Stadium des Krieges über. Der Erste Weltkrieg hatte dem Sozialismus in Russland zum Durchbruch verholfen; mit Hilfe eines zweiten großen Krieges würde der Sozialismus endgültig den Sieg erringen. In seinem Verlauf würden sich die auswärtigen Staaten gegenseitig so weit schwächen, dass die Sowjetunion den Streit mit überlegener Macht entscheiden konnte.

• Viertens geriet Ostmitteleuropa einschließlich Finnlands in den Zangengriff der expansionistischen Großmächte westlich und östlich der Region. Aufgrund der geographischen Verhältnisse und der durch die Maginotlinie bestimmten Verteidigungsstrategie konnten Großbritannien und Frankreich Polen keinen wirksamen Beistand leisten. Die baltischen Länder, Finnland und Rumänien hatten nicht einmal politische Unterstützung zu erwarten, wenn der beginnende Krieg mit dem Deutschen Reich die beiden westeuropäischen Staaten voll in Anspruch nahm. Die baltischen Länder standen der neuen Lage angesichts ihrer besonders geringen Bevölkerung und der fehlenden strategischen Tiefe noch wehrloser gegenüber als die anderen Länder.

• Fünftens stiftete der Hitler-Stalin-Pakt Verwirrung unter den Anhängern beider Diktatoren. Hitler hatte sein Regime weithin mit der Mission des "Kampfes gegen den Bolschewismus" gerechtfertigt, während Stalin nach Abbruch des Kooperationsverhältnisses durch Deutschland seine Politik seit 1935 unter die Parole des "Kampfes gegen den deutschen Faschismus" gestellt und damit in der kommunistischen Bewegung (die sich nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt sah) begeisterte Zustimmung gefunden hatte. Wie sehr Stalin seine Anhänger vor den Kopf stiess, ist den Erinnerungen von Wolfgang Leonhard, damals ein 18jähriger Kommunist im sowjetischen Exil, zu entnehmen. Die Moskauer Kominternführung, die sonst stets mit dem bedingungslosen Gehorsam der auswärtigen Parteien rechnen konnte, brauchte längere Zeit, bis sie die Linie der vorgeblichen Äquidistanz zu beiden "Imperialismen" durchsetzen konnte, mit der faktisch Hitlers Eroberungskrieg unterstützt wurde.

Divergierende Interessen der beiden Diktatoren

Hitler und Stalin wirkten zwar auf der Grundlage der geheimen Protokolle zum Pakt zusammen, betrachteten sich aber nach wie vor als Antagonisten. Nur momentane Opportunität veranlasste sie dazu, sich bis auf weiteres wechselseitig zu unterstützen. Bei der Aufteilung Ostmitteleuropas in "Interessensphären", das heisst faktisch in Gebiete, die sie ihrer Herrschaft zu unterwerfen gedachten, waren beide bestrebt, den anderen zu übertölpeln. Als Stalin sich den Löwenanteil der ostmitteleuropäischen Beute gesichert hatte, triumphierte er, dass er Hitler über dem Tisch gezogen habe. Diesem ging es freilich darum, Zeit zu gewinnen, um zuerst Polen auszuschalten und dann dessen Verbündete im Westen zu besiegen. Ob die UdSSR zunächst ein grösseres Territorium erwarb, erschien unwichtig, denn was Deutschland jetzt nicht erhielt, würde er nach Erweiterung seiner Macht ohne Mühe erobern können. Stalin dagegen legte seinem Kalkül die Überlegung zugrunde, dass die Ausdehnung seiner Herrschaft auf möglichst viele Gebiete den entscheidenden Vorteil darstellte. Gemäss marxistisch-leninistischer Lehre sah die Ausbreitung des Sowjetsystems als geschichtlichen Auftrag und wollte zugleich die imperiale Tradition der Zaren fortsetzen. Damit würde er zudem eine günstige Ausgangsposition für den Waffengang gegen Deutschland erlangen, den er für unausweichlich hielt. Dabei dachte er freilich an eine ungleich längere Frist als die Zeitspanne bis Juni 1941. Die Absichten beider Diktatoren waren damit zwar gegeneinander gerichtet, doch ergänzten sich ihre Interessen, solange sie in Zeit versus Raum ihre Präferenzen sahen.

Die Übereinstimmung begann sich nach wenigen Monaten abzuschwächen. In Berlin war man unangenehm über die Raschheit und Radikalität überrascht, mit der Stalin die ihm zugestandenen Vorteile wahrnahm und stellenweise sogar darüber hinausging. Hitler nahm zwar, nachdem er sich mit dem Kreml über die Ausreise der Deutschbalten geeinigt hatte, keinen Anstoss an der Brutalität des Vorgehens in den baltischen Ländern, war aber verärgert, weil ihm die UdSSR bei der Aufteilung Litauens nur einen kleinen Zipfel liess, und wertete den Umstand, dass Rumänien nicht nur, wie in den geheimen Protokollen vorgesehen, zur Abtretung Bessarabiens, sondern auch der nördlichen Bukowina veranlasst wurde, als Anzeichen sowjetischer Balkan-Ambitionen. In dieser Region aber wollte er das alleinige Sagen haben. In Moskau dagegen rief die rasche Eroberung des westeuropäischen Festlands durch die Wehrmacht im Frühjahr und Frühsommer 1940 Erschrecken hervor. Das Deutsche Reich hatte damit ohne grössere Mühe eine enorme Machtposition gewonnen, statt, wie erwartet und erhofft, in einen kräftezehrenden Krieg ohne militärische Entscheidung verwickelt zu werden. Stalin veranlasste daraufhin die kommunistischen Parteien in den besetzten Ländern zu dem Angebot an die deutschen Behörden, sie gegen die Zusicherung minimaler Existenzrechte voll zu unterstützen. Nachdem die deutsche Seite dies abgelehnt hatte, legte er eine Linie fest, welche die Zusammenarbeit mit sowohl den Besatzern als auch den Widerstandsgruppen offenhielt. Stalin verfolgte seine Expansionsziele weiter, vor allem auf dem Balkan und am Schwarzen Meer, suchte aber zugleich Berlin durch Erfüllung aller Wünsche nach Lieferung von Rohstoffen und Energie zufriedenzustellen. Bis zur letzten Minute war er davon überzeugt, auf absehbare Zeit den offenen Konflikt mit Hitler vermeiden zu können.

Die geheimen Protokolle als Quelle sowjetischer Verlegenheit in der Anti-Hitler-Koalition

Nachdem der deutsche Überfall die UdSSR zum Verbündeten der Westmächte gemacht hatte, war das vorangegangene Zusammengehen mit Hitler gegen den Westen für den Kreml naturgemäss peinlich. Es entsprach den Usancen des sowjetischen Regimes, unangenehme Sachverhalte propagandistisch schönzureden oder durch Verschweigen zu tabuisieren. Der Vertrag vom 23. August 1939, dessen Existenz sich nicht in Abrede stellen liess, wurde - unter Leugnung des Umstandes, dass sich die UdSSR damit faktisch auf die Seite Hitlers und seiner Kriegspolitik gestellt hatte - als kluge Massnahme hingestellt, mit der Stalin seinem Land Zeit zur Vorbereitung auf die bevorstehende faschistische Aggression verschafft habe. Jeder Hinweis auf Absprachen über eine Aufteilung der ostmitteleuropäischen Region wurde strikt vermieden. Auf entsprechende Vermutungen oder Angaben des Auslands reagierte man mit der Anschuldigung, dass es sich um Verleumdungen durch Feinde des Sowjetstaates und des Sozialismus handele. Der Anschluss Ostpolens, der baltischen Länder und der anderen Gebiete an die UdSSR war vorgeblich zu deren Schutz vor faschistischer Aggression und auf Wunsch der jeweiligen Bevölkerung erfolgt.

Die angelsächsischen Verbündeten kannten jedoch die geheimen Vereinbarungen. Die USA hatten von Existenz und Inhalt der Protokolle bereits 1939 durch einen Hitlergegner in der deutschen Botschaft zu Moskau erfahren - was vermutlich die Grundlage dafür bildete, dass sie die Annexion der baltischen Länder niemals anerkannten. Auch den Briten war die tatsächliche Sachlage klar. Während des Zweiten Weltkriegs kamen sie zudem in den Besitz eines Mikrofilms der Protokolle. Gleichwohl hielten es beide Mächte um der Bündnissolidarität willen für richtig, von ihrer Kenntnis nichts verlauten zu lassen. Während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, als die Politik des NS-Regimes öffentlich zur Diskussion stand, war die amtliche Moskauer These nicht länger aufrechtzuerhalten. Wie sehr sich auch das sowjetische Personal bemühte, die Protokolle liessen sich nicht aus den Aussagen der Angeklagten und Zeugen heraushalten. Die Einflussnahmen auf die westliche Seite verhinderten nur Erwähnungen im offiziellen Prozessbericht. In der Presse erschienen jedoch Artikel, die zum Teil sehr genaue Angaben enthielten. Nach Ende des Prozesses wurde sogar der Text des Protokolls vom 23. August 1939 publiziert, dem freilich die amtliche Bestätigung versagt blieb. Im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges erwog das Foreign Office in London Anfang 1947 eine Veröffentlichung, doch brachte erst das amerikanische State Department im Januar des folgenden Jahres einen Dokumentenband "Nazi - Soviet Relations" heraus, der unter anderem die geheimen Protokolle vom 23. August und 28. September 1939 enthielt.

Die sowjetische Reaktion war heftig. Die amtliche Nachrichtenagentur TASS publizierte eine umfangreiche Erklärung "Geschichtsfälscher", die später auch als Broschüre erschien. Solange Stalin lebte, waren die deutsch-sowjetischen Vereinbarungen über die Aufteilung Ostmitteleuropas stets ein absolutes Tabu. Die Mitarbeiter des Außenministeriums wurden auf strikte Geheimhaltung verpflichtet, als ihnen die Protokolle im April 1949 zur Aufbewahrung im Archiv übergeben wurden. Unter Khrushchev wurde das Tabu gelockert. Außenminister Gromyko wies 1957 intern darauf hin, die Leugnung der Existenz der Protokolle lasse sich angesichts entgegenstehender Tatsachen kaum aufrechterhalten. In der amtlichen "Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges" von 1960 gab es erstmals Andeutungen zu den getroffenen Übereinkünften. Gleichwohl durfte von den Protokollen weiterhin keine Rede sein. Die sowjetischen Historiker hatten daher in internationalen Diskussionen über das Thema regelmässig einen schweren Stand.

Erst unter Gorbachev begannen ernsthafte interne Erörterungen darüber, ob man am bisherigen Standpunkt festhalten solle. Hochrangige Funktionäre (wie insbesondere Aussenminister Shevardnadze und Gorbachevs Berater Aleksandr Jakovlev) und Historiker (wie Vladislav Dashichev und Roi Medvedev) setzten sich dafür ein, die Wahrheit nicht länger zu verschweigen. Schon vorher hatte Aleksandr Nekrich die Vorgänge unverblümt dargestellt - freilich um den Preis, dass seine Werke nur im westlichen Ausland erscheinen konnten. Der Widerstand vonseiten der Vertreter des "alten Denkens" war jedoch ausserordentlich gross. Vor allem die führenden "Germanisty" im Außenministerium, Valentin Falin und Vladimir Semënov, und einschlägig verbundene Historiker wie Lev Bezymenskij bestanden darauf, dass dieses Geheimnis nicht preisgegeben werden könne. Der Öffentlichkeit erklärte man, es seien keine Originale zu finden. Erst 1989 wurden die Dokumente nach zähem internen Ringen "gefunden". Die konservativ-ideologische Seite errichtete bis zum Zusammenbruch der UdSSR 1991 weiterhin Barrieren gegen eine volle Anerkenntnis der Wahrheit. In den russischen Schulbüchern findet sich auch heute noch kaum etwas über die politischen Zusammenhänge des Hitler-Stalin-Pakts.

Der Hitler-Stalin-Pakt in der sowjetischen Historiographie

Die sowjetische Geschichtsschreibung wurde von den Vorgaben des Kreml bestimmt und machte sich daher die Rechtfertigungsthese zu eigen, dass es Stalin um eine Atempause zur Vorbereitung auf die künftige deutsche Aggression ging. Dem Vorwurf westlicher Historiker, die UdSSR habe durch die Vereinbarung mit Hitler die Abwehrfront gegen dessen Aggressionspolitik aufgebrochen, suchte sie durch Reihe willkürlich aufgestellter Behauptungen zu entkräften. Es hiess etwa, Großbritannien und Frankreich hätten insgeheim zusammen mit Deutschland die Aufteilung der Sowjetunion beabsichtigt, was Stalin nur durch den Nichtangriffsvertrag habe verhindern können. Dadurch seien, wie A.M. Deborin schrieb, die "weitere imperialistische Aufteilung von Staaten und die Versklavung von Völkern verhindert" worden. Nach der These von I.M. Majskij wurde die "Sphäre der Ausweitung des deutsch-polnischen Konflikts" begrenzt.

Andere erklärten, der Vertrag habe der faschistischen Aggression erstmals "eine klare Grenze gesetzt". "Dank der har ten Position" Moskaus sei 1939 die von den Deutschen geplante Eroberung, Besetzung und Annexion der baltischen Staaten verhindert worden. Stalins Entscheidung, sich mit Hitler statt mit den westlichen Regierungen zu einigen, wurde auch darauf zurückgeführt, dass dieser die UdSSR als gleichberechtigten Partner behandelt habe. Er habe Konzessionen mit Konzessionen beantwortet, wie sich besonders deutlich in den Vereinbarungen über die baltischen Länder gezeigt habe. Generell wurde betont, dass sich die Sowjetunion nicht fremdes Gebiet angeeignet habe, sondern als Befreier aufgetreten sei. Die Wiedervereinigung der ehemaligen russischen Westgebiete mit der UdSSR habe historische Gerechtigkeit hergestellt. Die - zum Teil oben genannten - sowjetischen Historiker, die nicht in die amtliche Apologetik einstimmten, sondern sich einen unabhängigen Blick bewahrten, konnten ihre Aufassungen nur im Westen publizieren. Nachdem der Kreml die Existenz der geheimen Protokolle endlich zugegeben hatte, bemühten sich die Vertreter der offiziellen Linie, ihnen eine freundliche Deutung zu geben. Diese Tendenz, die das imperiale Ausgreifen Stalins rechtfertigen soll, hat sich in letzter Zeit verstärkt. Waren anfänglich sogar Autoren wie etwa Mikhail Semiriaga, die grundsätzlich dem Sowjetsystem positiv gegenüberstanden, bereit gewesen, den Gewaltcharakter des Vorgehens in den baltischen Ländern einzuräumen, ist nunmehr in den Darstellungen, die mit höherer Auflage erscheinen, von "Befreiung" die Rede.

Zur internationalen Geschichtsschreibung

Als Entscheidung, die das Tor zum Zweiten Weltkrieg öffnete, hat der Hitler-Stalin-Pakt unter den Historikern sehr grosses Interesse gefunden. Wegen der Vielzahl der einschlägigen Publikationen kann hier nur auf eine kleine Auswahl Bezug genommen werden. Unter seriösen Autoren, auch solchen in Russland wie beispielsweise Leonid Gibianskii und Vladimir Volkov, ist unstrittig, dass die den Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich folgende territoriale Ausdehnung der UdSSR ohne Zustimmung der betroffenen Staaten und Völker erfolgte und auf Gewalt und Unterdrückung beruhte. Kontrovers ist dagegen, wann Stalin den Entschluss zum Zusammengehen mit Hitler fasste und welche Motive dafür bestimmend waren. Eine Minderheit - Ingeborg Fleischhauer und Gabriel Gorodetsky - glauben, dass Stalin eigentlich gegen Hitler auf die Seite Grossbritanniens und Frankreichs treten wollte und erst durch deren fehlende Bereitschaft zum Eingehen auf seine Wünsche dazu bewogen wurde, den Vertrag mit Deutschland zu schließen. Demnach war er grundsätzlich zur Bildung einer Abwehrfront gegen das offensive NS-Regime und zur Beteiligung an der Verteidigung Polens bereit, machte aber zur Bedingung, dass die UdSSR für ihren Einsatz eine Gegenleistung erhalten müsse.

Die grosse Mehrheit der Historiker - etwa Aleksandr Nekrich, Mikhail Semiriaga, Jonathan Haslam, Geoffrey Roberts, Bianka Pietrow-Ennker und Laure Castin-Chaparro - vertritt die Ansicht, dass Stalin von Anfang an auf die deutsche Option hinarbeitete. Es sei ihm darum gegangen, die UdSSR aus der Lage einer von außen her eingedämmten, an offensivem Vorgehen gehinderten Macht zu befreien mit dem doppelten Ziel, Macht und System auszudehnen und in der Außenwelt Krieg zu stiften. Die Grundlage der Zusammenarbeit sei das gemeinsame Interesse an der Veränderung des Status quo gewesen. Jan Lipinsky vermeidet eine klare Stellungnahme, doch legt seine Darstellung den Schluss nahe, dass die zweite Auffassung als sehr wahrscheinlich zutreffend anzusehen ist. Dagegen meint Donal O'Sullivan, Stalin habe lange Zeit zwei Optionen nebeneinander verfolgt, bis klar war, welche davon für ihn vorteilhafter war.

Ich will versuchen, aus der bisherigen Diskussion der Historiker ein Fazit zu ziehen. Gegen die Ansicht von Ingeborg Fleischhauer und Gabriel Gorodetsky spricht generell, dass die UdSSR in der gesamten Zwischenkriegszeit eine Anti-Status-quo-Macht war, die nur durch die internationalen Machtverhältnisse an der aktiven Verfolgung offensiver Bestrebungen gehindert wurde. Vor diesem Hintergrund ist es wenig wahrscheinlich, dass der Kreml für die Verteidiger des Status quo Partei ergreifen wollte. Man mag einwenden, dass Stalin gehofft haben könnte, expansive Ziele im Einvernehmen mit den Regierungen in London und Paris zu erreichen, als er diese vor die Wahl stellte, entweder seine Forderungen zu akzeptieren oder machtlos gegenüber Hitler dazustehen. Das aber erscheint aus zwei Gründen wenig plausibel. Zum einen war auch dann, wenn sich die Briten und Franzosen unter dem Druck der Lage zum Eingehen auf sowjetisches Verlangen entschlossen, zu erwarten, dass sie mit Zugeständnissen weit mehr geizen würden als Hitler, der keine humanitären Hemmungen kannte. Zum anderen war, wie interne Aussagen vor und nach 1939 belegen, Polen in der Sicht Stalins ein zutiefst feindseliges Land, an dessen Verteidigung folglich kein Interesse bestand. Der mehrfach geäußerte interne Kommentar der sowjetischen Führung zum Verlauf der Verhandlungen mit Grossbritannien und Frankreich, diese wollten lediglich die UdSSR für ihre Zwecke ausnutzen, macht den prinzipiellen Gegensatz der Interessen auf beiden Seiten deutlich.

Demgegenüber war der Wille, den Status quo zu beseitigen, ein starkes einigendes Band zwischen Moskau und Berlin. Dagegen schien die militärische Austragung des Macht- und Systemkonflikts, von dem beide Seiten grundsätzlich ausgingen, vorerst nicht aktuell. Stalin hatte schon früher die Bereitschaft bekundet, dem momentanen Interesse am Zusammengehen mit Deutschland gegen den Westen Vorrang gegenüber langfristigen Erwägungen einzuräumen: Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 hatte er noch zwei lange Jahre trotz aller Zurückweisung am Willen zur beiderseitigen Zusammenarbeit festgehalten und sich nicht daran gestört, dass das NS-Regime im Innern einen scharf "antibolschewistischen" Kurs verfolgte, die kommunistische Partei zerschlug und deren Mitglieder und Anhänger brutal verfolgte. In gleichem Sinne handelte er auch 1939, als er deutsche Kommunisten, die in der UdSSR Zuflucht gesucht hatten, bedenkenlos ihrem Erzfeind auszulieferte.

Gerhard Wettig

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Herausgeber

Grundlage für den Vortrag von Herrn Dr. Wettig am 23. August 2005 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga.

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Lettland Lettland