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Die Amazonas-Region aus Sicht der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft

von Dr. Marcus Marktanner, Caetano Scannavino, Eugênio Scannavino, Dr. Jan Woischnik, Alexandra Paulus, Dal Marcondes, Caio Magri, Bruno Gomes, Socorro Pena

Impulse für Nachhaltige Entwicklung

Was ist der Beitrag des Modells der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft in der Diskussion um soziale, wirtschaftliche und umweltpolitische Herausforderungen der Amazonas-Region? Speziell vor dem Hintergrund der tiefen Wirtschaftskrise, die das Land in den vergangenen Jahren durchmacht, kann das Modell interessante Impulse für einen "dritten Weg" der Wirtschaftsordnung aufzeigen.

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Die Amazonas-Region aus Sicht der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft – Impulse für Nachhaltige Entwicklung

Policy Paper basierend auf Diskussionsimpulsen von Dr. Marcus Marktanner und Beiträgen der Teilnehmer eines von der Konrad-Adenauer-Stiftung Brasilien und der Nicht-Regierungs Organisation (NGO) Saúde e Alegria gemeinschaftlich organisierten Workshops, der vom 19. bis 22. Juni 2017 Vertreter verschiedener Sektoren – darunter Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Policymakers, Wirtschaftsvertreter und Journalisten – zusammen brachte, um wirtschaftspolitische Optionen für die sozio-ökologischen Herausforderungen der Amazonas-Region zu diskutieren.

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde in den 1930er Jahren entwickelt. Sie galt als Antwort auf die Krise des Kapitalismus der unregulierten Märkte und die vom aufstrebenden Sozialismus und Faschismus ausgehende Bedrohung politischer Freiheiten. Als Antwort auf die zunehmende Relevanz von Ökologie und globalen Umweltveränderungen für Wirtschaftsordnungen weltweit wurde das Modell später um diesen Aspekt ergänzt, sodass heute auch von Sozialer und Ökologischer Marktwirtschaft gesprochen wird.

Doch welche Bedeutung hat dieses Modell für die sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Herausforderungen der Amazonas-Region heute?

Das war die Hauptfragestellung des Workshops, der in der brasilianischen Amazonas-Stadt Santarém durchgeführt wurde – mitten in einem Land enormer Ungleichheiten, aber auch mit einem der weltweit größten Ressourcenreichtümer. Ein Land, das in den letzten Jahren eine profunde wirtschaftliche und politische Krise erlebt und dessen wirtschaftspolitische Lager sich polarisieren: Vertreter vollumfänglicher staatlicher Eingriffe stehen Verfechtern eines reinen Wirtschaftsliberalismus gegenüber.

Vor diesem Hintergrund kann das Modell der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft wertvolle Impulse bieten. Im Konzept der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft bietet weder der Staat noch der Markt allein die Lösung für sozioökonomische Probleme an. Die Rolle des Staates besteht darin, Marktversagen zu korrigieren und Chancengleichheit sicher zu stellen. Ziel ist es, durch Ordnungspolitik die Freiheit auf dem Markt so zu gestalten, dass die Marktfreiheit eine gleichmäßige Einkommensentwicklung und ökologisch nachhaltige Nutzung aller natürlichen Resourcen unterstützt.

Doch wie können in der Amazonas-Region Märkte für Gemeinwohl und nachhaltige Entwicklung sorgen, wenn doch zumindest einige multinationale Unternehmen die Ressourcen der Region in großem Stil wenig nachhaltig ausbeuten?

Eine erste Beobachtung ist, dass die reale Wirtschaftsordnung in Brasilien wenig mit den Empfehlungen einer Sozialen und Ökologische Marktwirtschaft gemein hat. Die Amazonas-Region leidet nicht unter zu viel Marktwirtschhaft, sondern zu wenig, und die in Brasilien vorherrschende Wirtschaftsordnung verstärkt die bestehenden sozialen Ungleichheiten und den ökologischen Raubbau.

In Brasiliens Amazonas-Region ist die Ausnahme leider die Regel: Eine Kultur der Illegalität dominiert, wodurch sozial und ökologisch nachhaltige Investitionen, die durch eine ideale Wettbewerbsordnung gestärkt würden, untergraben werden. Unternehmen, die zum Beispiel in nachhaltige Forstwirtschaft investieren, leiden unter ungleichem Wettbewerb, da sie mit den niedrigen Preisen für Produkte aus illegaler Abholzung nicht konkurrieren können. Langfristig haben umweltfreundliche Investitionen daher häufig keinen Bestand, denn noch immer wird mehr mit der Ausbeutung des Regenwalds verdient als mit dessen nachhaltiger Bewirtschaftung. Die Amazonas-Region leidet daher nicht unter Markt-, sondern Politikversagen.

Ein wichtiges Ziel des Seminars war es, ein besseres Verständnis der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft zu vermitteln. Dazu wurde eine Diskussionen darüber geführt, was das Modell der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft ausmacht, wie es sich von der brasilianischen Realität unterscheidet und inwiefern sie als Grundlage für Politikempfehlungen für die Amazonas-Region dienen kann.

Das Modell der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft basiert auf folgenden Grundfragen:

(1) Wie sollte der Staat organisiert sein?

(2) Wie sollte der Markt organisiert sein?

(3) Wann sollte der Staat in den Markt eingreifen?

(4) Wie sollten staatliche Eingriffe in den Markt gestaltet sein?

Im Modell der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft ist der Staat nach dem Prinzip der demokratischen Subsidiarität organisiert. Demnach sollten Probleme, die auf niedriger Instanz gelöst werden können, nicht in die Zuständigkeit einer übergeordneten Instanz fallen. Lokale Probleme sollten von lokalen Akteuren gelöst werden, und übergeordnete Probleme von übergeordneten Instanzen wie Bundesstaaten oder dem Staat als Ganzes. Erst wenn die Problemlösungskapazitäten niedriger Instanzen erschöpft sind, sollte die Unterstützung der nächsthöheren Instanz gesucht werden. Dieses Grundprinzip entspringt der Erkenntnis, dass Probleme am besten von den Akteuren gelöst werden, die am meisten von ihnen betroffen sind. Demokratische Subsidiarität stärkt bürgerschaftliches Engagement, optimiert die Gewaltenteilung (checks and balances) und steigert Transparenz.

Ohne demokratische Subsidiarität und die damit verbundenen politischen Freiheiten ist keine wirtschaftliche Freiheit möglich. Ebenso wie wettbewerblich organisierte Märkte knappe Ressourcen auf effiziente Art und Weise der privatwirtschaftlichen Produktion von Waren und Dienstleistungen zuteilen, erfordert auch die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Krankenhäuser, Schulen, Infrastrukturprojekte oder Mechanismen der Grundsicherung einen wettbewerblich organisierten politischen Markt, in dem Menschen über die Verwendung knapper Ressourcen abstimmen können, um dadurch das bestmögliche Gemeinwohl zu erzielen.

Die Diskussionen während des Workshops machten deutlich, dass die Lebensrealität in der Amazonas-Region kaum dem Prinzip der demokratischen Subsidiarität entspricht. In ihrer Geschichte erlebte die Region viel Ressourcenabbau, mit entsprechend negativen Konsequenzen für Umwelt und soziale Entwicklung. Auf der einen Seite versorgt die Amazonas-Region die Weltgemeinschaft mit Bioerzeugnissen, Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie sowie fundamentalen Umweltdienstleistungen für den Erhalt von Artenvielfalt, Wasserkreisläufen und globaler Klimaregulierung. Auf der anderen Seite erhält die Amazonas-Region bisher kaum Vergütungen für diese Leistungen. Die Erlöse aus der Vermarktung der ökonomischen Resourcen der Amazonas Region werden grösstenteils von multinationalen Unternehmen privatisiert, die sozialen Kosten des ökologischen Raubbaus und die damit verbundene Vernichtung der Lebensgrundlage der Menschen vor Ort lokal umgelegt. Die Akteure aus der Region spielen in der Debatte um die Gestaltung eines nachhaltigen Entwicklungsprojekts für die Region nur eine Nebenrolle.

In Brasilien wie in anderen Staaten des Amazonas-Regenwalds weisen die Regenwald-Gebiete die niedrigsten Sozialindikatoren auf, mehrheitlich unterhalb der nationalen Durchschnittswerte. Bisher kann der Regenwaldschutz nicht mit den kurzfristigen Gewinnen des aktuellen Wirtschaftsmodells konkurrieren. Die Kultur der Illegalität „subvenioniert“ die nicht-nachhaltige Nutzung des Regenwaldes, und „sanktioniert“ seine nachhaltige Nutzung. Die umweltpolitische Frage der Amazonas-Region lässt sich zudem nicht ohne sozialpolitische Instrumente lösen. Umweltzerstörungen sind ein globales Problem, doch kurzfristig sind marginalisierte Bevölkerungsteile am stärksten betroffen, etwa durch Wegfall ihrer Subsistenzgrundlage, Wasserverschmutzung und Verbreitung von Krankheiten. Dazu kommt, dass der Staat besonders in den Peripherien soziale Grundsicherung nicht oder nicht in ausreichendem Maße gewährleistet. Die Kosten der Bewahrung der Biodiversität fallen lokal an, ihr Nutzen ist hingegen global.

Marktwirtschaftliche Prinzipien sind im Kern Sozialpolitik. So sind wichtige Grundvoraussetzungen für eine funktionierende Marktwirtschaft klare Eigentumsrechte an produktiven Resourcen und Haftungsregeln. Je dezentralisierter Eigentumsrechte vergeben werden, umso nachhaltiger kann die Nutzung der knappen Resourcen gestaltet werden. Sozialpolitik in der Amazonas Region sollte daher idealerweise mit einer Stärkung der Mitbestimmungsrechte der lokalen Bevölkerung und ihrer demokratisch legitimierten Interessenvertreter an ökonomischen Entscheidungen beginnen. Gleichzeitig müssen Haftungsregeln für die illegale Nutzung des Regenwaldes verschärft und zum Schutz der lokalen Bevölkerung effektiv umgesetzt werden.

Auf dem Weg hin zu mehr demokratischer Subsidiarität und einer den Interessen und Bedürfnissen der Menschen vor Ort dienenden sozialen und ökologisch nachhaltigen Marktwirtschaft liegen komplexe Herausforderungen. Zudem sind die Gebiete der Amazonas-Region stark miteinander verbunden, handelt es sich doch um interdependente Flusseinzugsgebiete und Ökosysteme. Die Konsequenzen einer in einem Gebiet getroffenen Entscheidung reichen weit über ihren Ursprung hinaus. Es ist entscheidend, dass die Bevölkerung der Amazonas-Region mehr Rechte erhält und gleichzeitig mehr Dialog- und Kooperationsformen auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene geschaffen werden. Ohne einen solchen Richtungswechsel wird kein Fortschritt zur Bewahrung der natürlichen Ressourcen und Artenvielfalt möglich sein, ohne welche die Existenzgrundlage der lokalen Bevölkerung, das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsteile in der Region und die politische Stabilität gefährdet sind.

In der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft wird der Staat häufig mit dem Schiedsrichter eines Fußballspiels verglichen, der dafür sorgt, dass sich alle Spieler an die Regeln halten. Der Staat greift nur dann korrigierend ein, wenn eindeutig feststellbares Marktversagen auftritt – etwa im Fall ungleicher sozialer Entwicklung, Missbrauch von Marktmacht oder Umweltzerstörung. Alle drei Formen des Marktversagens treten in der Amazonas-Region auf. Problematisch ist, wenn der Staat nicht über die ausreichende politische Integrität verfügt, um dieser Funktion nachzukommen, sondern als parteiisch angesehen wird.

Grundsätzlich hat der Workshop gezeigt, dass viele der Grundprinzipien der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft als Grundlage für die Vereinbarung von Umweltschutz, sozialer Inklusion, Wirtschaftswachstum und Regionalentwicklung dienen können.

Dazu ist jedoch nötig, dass Brasilien, besonders das wirtschaftliche und meinungsbildende Zentrum des Landes auf der Achse Rio de Janeiro – São Paulo – Brasília, die Herausforderungen, Potenziale und Kulturen der Amazonas-Region versteht. Nur so wird Brasiliens Bevölkerung die Amazonas-Region nicht mehr als Belastung und Quelle von Konflikten begreifen, sondern vielmehr als Chance. Besonders in Zeiten des Klimawandels, der low-carbon-Economy, internationaler Abkommen über die Verteilung von Umweltdienstleistungen hat die Amazonas-Region eine enorme strategische Bedeutung.

Die Amazonas-Region stellt eine einzigartige Möglichkeit dar, ein innovatives und nachhaltiges Entwicklungsmodell zu schaffen, das die Grundrechte der lokalen Bevölkerung berücksichtigt, ihr sozioökonomisches Entwicklungspotenzial unterstützt, und gleichzeitig ein stimulierendes Geschäftsklima für Investoren schafft, die auf der Suche nach nachhaltigen und regional verantwortungsvollen Investitionsmöglichkeiten sind.

Die erhöhten direkten Kosten eines solchen Prozesses werden im Vergleich zu den niedrigen direkten Kosten der illegalen Nutzung des Regenwaldes außerhalb jeglichen marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens mittel- bis langfristig durch die sozialen, umweltbezogenen und wirtschaftlichen Dividenden aufgewogen werden. Zudem werden diese Dividenden nicht vorübergehend, sondern dauerhafter Natur sein, für die lokale Bevölkerung, das Land und die Weltgemeinschaft.

Der größte Teil des Amazonas-Regenwalds liegt auf brasilianischem Staatsgebiet. Daraus ergibt sich für das Land nicht nur eine immense Verantwortung, sondern auch ein exklusives Privileg: Der Weg, den Brasilien in dieser Frage zukünftig beschreitet, bedeutet nicht nur eine Weichenstellung für die zukünftigen Entwicklungslinien des Landes, sondern auch für seine internationale Rolle im globalen Einsatz für Nachhaltigkeit.

Autoren:

Marcus Marktanner, Professor für Volkswirtschaftslehre, Kennesaw State University, USA

Caetano Scannavino Filho, Koordinator, Projekt Saúde e Alegria

Eugenio Scannavino Netto, Koordinator, Projekt Saúde e Alegria

Jan Woischnik, Büroleiter, Konrad-Adenauer-Stiftung Brasilien

Alexandra Steinmeyer, Trainee, Konrad-Adenauer-Stiftung Brasilien

Dal Marcondes, Leiter, Instituto Envolverde

Caio Magri, Präsident, Instituto Ethos für Unternehmen und soziale Verantwortung

Bruno Gomes, Partner, Humana - Nachhaltigkeitsdienstleistungen; Technischer Sekretär, Lateinamerikanische Dialoggruppe Bergbau und nachhaltige Entwicklung

Socorro Pena, Studiengangsleiterin Öffentliche Verwaltung und Regionalentwicklung, Bundesuniversität Westliches Pará; Vizepräsidentin, Sociedade para a Pesquisa a Proteção do Meio Ambiente (dt. Vereinigung für Umweltschutz und –forschung)

Unterstützung:

Joci Aguiar, Präsidentin, REDE Grupo de Trabalho Amazônia (Arbeitsgruppe Amazonas); Hauptkoordinatorin, Rede Acreana de Mulheres e Homens (Netzwerk Männer und Frauen des Bundesstaats Acre)

Herausgabe und Koordination:

Alexandra Steinmeyer, Trainee, Konrad-Adenauer-Stiftung Brasilien

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