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Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Ungeachtet der gegenwärtigen Krise der Währungsunion bietet die EU ihren Mitgliedern langfristig große Chancen. Um verschwundenes Vertrauen in die europäische Einigung wieder aufzubauen, sollte eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen der Union im Fokus zukünftiger Entwicklungen stehen.

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Nach über 50 Jahren europäischer Integration mit vielen Höhen und Tiefen scheint sich die Europäische Union (EU) im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in einer schwierigen und krisenhaften Phase ihrer Entwicklung zu befinden. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes galt es, die EU über Reformen an eine veränderte Weltlage anzupassen. Die Anzahl der Mitgliedstaaten wuchs von zwölf auf derzeit 27, die Gemeinschaftswährung Euro wurde in 17 EU-Staaten eingeführt. Dieser dynamische Veränderungsprozess bekam seit Beginn der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 durch das Schnüren von Hilfs- und Rettungspaketen für überschuldete EU-Mitgliedstaaten eine neue Qualität.

Schon immer gab es Krisen und Stagnationsphasen in der EU. Meist konnten diese produktiv für die Weiterentwicklung der europäischen Integration genutzt werden. Vieles konnte bis heute verwirklicht werden oder strebt der Verwirklichung zu, was in der Gründungsphase in den 1950er-Jahren als Ziel und Vision für ein gemeinsames Europa formuliert wurde. Die Mitgliedstaaten bringen unterschiedliche Interessen in die Europäische Union ein. Gemeinsam leitet sie die Erkenntnis, dass es Probleme gibt, die sie nicht mehr allein lösen können. Die EU ist heute in so gut wie jedem Politikfeld aktiv, wenn auch mit unterschiedlicher Handlungskompetenz. Dies hat eine Europäisierung fast aller Politikfelder zur Folge; alle natio- nale Politik hat eine europäische Komponente.

Historische Spannungsfelder der EU

Die Geschichte der EU ist geprägt von Entwicklungen, Motiven und Interessen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen:

  • Vertiefung der europäischen Integration - geografische Ausdehnung der Fläche (Erweiterung);
  • Gemeinschaftliche Strukturen und Entscheidungsverfahren, eigens ausgebildete Organe (supranational) - Kooperation zwischen den Regierungen (intergouvernemental);
  • Wirtschaftsgemeinschaft - Politische Union;
  • Handlungsfähigkeit der EU - große Zahl an Mitgliedstaaten der EU und damit unterschiedlichster politischer und wirtschaftlicher Strukturen sowie Leistungsfähigkeit;
  • Effizienz des politischen Handelns der EU - Repräsentation jedes Mitgliedstaats in den Organen der EU;
  • Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander - Renationalisierungstendenzen (insbesondere bei Krisen);
  • Demokratisierung (Parlamentarisierung) der EU - Sicherung von Macht und Einfluss der Mitgliedstaaten;
  • transparente Organisations- und Regelungsstrukturen der EU - Ausnahmen unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten.
Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Auflösen lassen sich diese Spannungsfelder grundsätzlich nicht. Die Stärke der EU bestand immer darin, dass sie in krisenhaften Zeiten die Kraft aufbrachte, Strukturen und institutionelle Arrangements - auch unter Einbeziehung solcher Spannungsfelder - zur Lösung von Problemen zu finden. So konnte zum Zeitpunkt der Krisenbewältigung oder eines bestimmten Reformschritts zumindest das umgesetzt werden, was jeweilig in den Mitgliedstaaten durchsetzbar war; vorausgesetzt, dass es Mitgliedstaaten gab, die die Führung in dem Konzert übernahmen und die Vision einer immer engeren Union dabei nicht aus den Augen verloren. Mehrere kleinere Schritte einschließlich Umwegen führten dann zu dem Stand der Integration, der heute mit dem Vertrag von Lissabon erreicht wurde.

In den nächsten Jahrzehnten wird sich die Größe der EU - etwa in Bezug auf die Wirtschafts- und Innovationskraft sowie auf die Bevölkerungsentwicklung - relativieren, wenn man die Dynamik in China, Indien, Indonesien und Brasilien zum Vergleich heranzieht. Bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU geht es nicht nur um die Frage, ob die Union ihren Mitgliedstaaten helfen kann. Im Kern geht es vielmehr auch darum, welche Rolle und welchen Stellenwert die EU zukünftig in der Welt einnehmen wird.

Einstellungen der Bevölkerung

Die Zustimmung zur europäischen Einigung hat im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unterschiedliche Phasen durchlaufen: Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges überwog die Aufbruchstimmung. Der Wunsch nach einer Überwindung nationalistischer Kleinstaaterei beflügelte das Integrationsprojekt. Auch wenn die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft vor allem ein Projekt der politisch-gesellschaftlichen Eliten war, so fand sie doch die Grundzustimmung in der Bevölkerung der beteiligten europäischen Staaten. Das fortschreitende Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten und die auch geografisch immer größer werdende EU schufen eine enorme Regelungsdichte und Unübersichtlichkeit der Strukturen. Der wachsende Einfluss der EU im Alltagsleben, besonders spürbar in Wirtschaft, Wettbewerbsregeln und Rechtsnormen, der prozesshafte Charakter der "EU im Werden", das sich in den letzten Jahren verstärkende Empfinden, dem Zwang eines sich ausweitenden und nicht mehr beherrschbaren Finanztransfers innerhalb der EU zu unterliegen, sowie das latente Unbehagen, die Politik sei den Kräften der Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklungen machtlos ausgeliefert, rufen bei vielen Menschen zunehmend ein Gefühl der Verunsicherung hervor.

Die Gründe für die stetige Weiterentwicklung der EU, nämlich Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa zu verwirklichen, verlieren im Bewusstsein der Bevölkerung an Wirkungsmacht. Heute stehen darüber hinaus die Nebenerscheinungen der europäischen Integration im Blickpunkt der Kritik: die Undurchschaubarkeit der Entscheidungsvorgänge, die - zum Teil vermutete - mangelnde demokratische Legitimation europapolitischer Institutionen und Entscheidungen, unklare politische Verantwortlichkeiten, das Empfinden, wenig Einfluss auf europapolitische Entscheidungen nehmen zu können, sowie der Anschein von Überbürokratisierung, welcher von "Brüssel" ausgeht.

Einige Umfrageinstitute haben als Folge eine Renationalisierung des Denkens festgestellt, das den Europa-Gedanken von innen her aushöhle. Auch wenn eine grundsätzliche Systemkrise bislang nicht diagnostiziert wird, sei der Vertrauensschwund gegenüber der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr zu übersehen. In der Tendenz nehme die europa-freundliche Zustimmung ab, der Solidaritätsgedanke sei in den Hintergrund geraten. Die EU muss heute mehr denn je und auch mehr als nationale politische Systeme um die Gunst der Bürgerinnen und Bürger ringen. Es gibt keinen Vertrauensvorschuss, und die generelle Zustimmung zur europäischen Einigung ist kein Selbstläufer mehr.

Politik muss Entscheidungen vorantreiben, die nicht von vornherein eine Mehrheit in der Bevölkerung haben. Aber Politik kann auch nicht eine längere Zeit gegen den Mainstream der Meinungen in der Bevölkerung durchgesetzt werden. Von Vorteil für das Politikhandeln ist es, wenn realistische Ziele formuliert sowie konkrete Projekte konzipiert werden und der Nutzen bestimmter Entscheidungen den Bürgerinnen und Bürgern einsichtig gemacht werden kann. Das Projekt der EU ist nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes noch genauso wichtig und richtig wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die nationale wie die europäische Politik müssen für die Notwendigkeit des europäischen Projekts in einer globalisierten Welt werben, es begründen, erklären und so verlorenes Vertrauen wieder aufbauen.

Zukunftsperspektiven

Die Zukunft der EU ist nicht voraussehbar. In der Vergangenheit hat die Union die an sie gestellten Herausforderungen stets gemeistert. Die EU war lange Jahre Friedens-, Wachstums- und Wohlstandgarant - dies kann sie nur bleiben, wenn die Mitgliedstaaten sich als eine Interessengemeinschaft verstehen, die politische Ziele gemeinsam verfolgt, füreinander einsteht und die gleiche Richtung der Entwicklung anstrebt (zum Beispiel Schuldenbegrenzung und -abbau). Nur in der Summe ihrer Mitgliedstaaten kann die EU das politische und wirtschaftliche Gewicht entfalten, um im Konzert der Welt mitzuspielen. Der Mehrwert der EU-Mitgliedschaft liegt auch darin, dass die Staaten gemeinsam wesentlich mehr Gewicht in die Waagschale werfen können als jede Nation für sich. Dazu ist es vonnöten, dass neben der Wirtschafts- und Währungsunion die Politische Union vorangetrieben wird.

Es wird sich zeigen, ob die EU die Kraft hat, neue sinngebende Projekte anzupacken und ihre Rolle in der Welt strategisch klug wahrzunehmen. Der Kitt, welcher bis 1989 das europäische Gefüge zusammenhielt, ist brüchig geworden: Es gilt mehr denn je, in der Gegenwart die Zukunft zu begreifen. Hier bietet die EU große Chancen, denn sie erprobt seit nunmehr 55 Jahren das friedliche Miteinander und hat dafür Mechanismen und Regeln ausgebildet. Diese Erfahrungen können sich bei der Bewältigung der Anforderungen einer globalisierten Welt positiv auswirken. Der Vertrag von Lissabon enthält eine ganze Reihe von Möglichkeiten für die EU, sich weiterzuentwickeln. Dabei muss in Zukunft ein besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der europäischen Einigung gerichtet werden.

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Bundeszentrale für politische Bildung

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Berlin Deutschland