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Im Normierungswahn

Serie: „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (5)

Bachelor, Bologna-Prozess, Zentralabitur: Der Schriftsteller Burkhard Spinnen fürchtet sich davor. Er will auch weiterhin Äpfel mit Birnen vergleichen dürfen.

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Man kennt die Szene, auch wenn man den Film nie gesehen hat: Ein junger Lehrer für Literatur zerreißt in der ersten Stunde vor seiner neuen Klasse das vorgeschriebene Lehrbuch. Man kennt diese Szene, weil sie im Grunde die zentrale Allegorie jeder Form von Vermittlung ästhetischer Gegenstände ist. Denn einerseits sind Kunst und Kunstverstehen ohne Regeln nicht denkbar. Regeln sind die Bedingungen der Mitteilbarkeit, und Regeln artikulieren die besonders in der Kunst so wichtigen Maßstäbe für Gelingen und Qualität. Andererseits aber sind Regeln genau das, was Kunst im Gelingen hinter sich lässt; Regeln müssen permanent missachtet und überwunden werden, um Kunst nicht zu einer plagiatorischen und Kunstbetrachtung nicht zu einer bloß musealen Veranstaltung werden zu lassen.

Deshalb zerreißt der junge Lehrer mit großer Geste das Lehrbuch. Nicht weil alle Deutungen und Regeln darin schlecht wären, das sind sie nicht, sondern weil man sich der Kunst nur nähern kann – sei es schaffend, sei es betrachtend –, wenn man von vornherein auf die Eigenleistung des Verstehens und auf die individuelle Kreativität setzt. Meine Interpretation, und mag sie noch so fundiert und dreimal von der Sekundärliteratur abgesichert sein, bleibt blutleer, wenn ich sie als Leser oder Betrachter nicht mit meiner unvergleichlichen Seh- und Denkweise belebe, wenn sie nicht tief in mir ihren wesentlichen Grund hat. Literatur und Kunst zu verstehen erschöpft sich eben nicht in der Anwendung von Regeln – es ist vielmehr ein Kampf meiner Wahrnehmung und meines Intellekts mit den Wahrnehmungs- und Denkakten derer, die vor mir dasselbe Werk angeschaut oder gelesen haben.

Natürlich sind das Binsenweisheiten. Ich entschuldige mich dafür, sie hier wiederholt zu haben. Neun von zehn, die mit der Vermittlung von Geistigem beschäftigt sind, werden mir im Prinzip uneingeschränkt zustimmen. Im Prinzip, ja. – Aber dann gibt es da bekanntlich noch die Praxis.

 

Wie ein Prüfbogen vom Tüv

Und die Praxis der Vermittlung des Geistigen orientiert sich in einer fortgeschrittenen Demokratie wie der unseren nun einmal zunehmend nicht an der Individualität, sondern an der Kompatibilität von Lerninhalten sowie insbesondere an der Kompatibilität der Lernergebnisse. Anders ausgedrückt: Der Oberstufenschüler im demokratischen Staat hat ein Recht darauf, auch im Deutschunterricht kein Genie sein zu müssen. Er darf nicht einmal dazu ermuntert werden. Was einzigartig ist an ihm, das muss – besser: das darf – hinter dem zurückstehen, was ihn und seine Hervorbringungen mit anderen dergestalt vergleichbar macht, dass die Ergebnisse dieses Vergleichs auch von zuständigen Gerichten beurteilt und gutgeheißen werden können. Und auch der Lehrer im demokratischen Staat muss aus der Bredouille genommen werden. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass irgendwer in die Gefahr kommt, Äpfel mit Birnen vergleichen zu müssen.

Ein Blatt wie ein Prüfbogen vom Tüv. Oder, um das Zauberwort zu nennen: das Zentralabitur. Als Vater zweier Kinder darf ich momentan verfolgen, wie das Bemühen um die Gewährleistung einer weitestgehenden Kompatibilität von Lernerfolgen auch die geisteswissenschaftlichen Fächer erreicht. Auch die sind mittlerweile geprägt von der Tendenz, hin zum Zentralabitur all das zu unterlassen, was einer Individualisierung von Unterricht und Lernerfolgen Vorschub leisten könnte.

Ein Beispiel? Gerne: Mein Sohn schreibt eine Deutscharbeit und bekommt sie zurück mit einem eng bedruckten DIN-A4-Bogen, auf dem eine Vielzahl möglicher Teil- oder Detail-Interpretationen zu der Romanszene aufgeführt sind, die er in der Arbeit zu behandeln hatte. Mit Rotstift hat der Lehrer darin die Stellen markiert, an denen mein Sohn besonders nah an den Vorgaben war oder sie sogar genau getroffen hat. Das Blatt lag mir in der Hand wie der Prüfbogen vom Tüv. Was sagen wir dazu: Klasse! Denn so können die Schüler nicht nur genau sehen, welches Maß an „richtiger“ Interpretation sie geleistet haben; sie können überdies ihre eigenen Arbeiten mit denen anderer vergleichen und so das Zustandekommen der Note nachvollziehen.

Und was sage ich dazu? Ach, ich würde gerne auf ein Pult steigen und diese DIN-A4-Tüv-Bögen zerreißen. Eine Legitimation dafür habe ich nicht, das weiß ich. Das Verfahren ist „transparent“ und „gerecht“, es sichert „Vergleichbarkeit“ und „Objektivität“. Na logisch! Aber: Es wird dem Wesen all dessen nicht gerecht, was in den Geisteswissenschaften vermittelt und was von ihnen erstrebt wird. Gegenstand der Geisteswissenschaft sind die großen Akte eigenständigen Denkens und Empfindens – und genau dies soll den Betrachtern und Lesern nahegebracht werden. Was zur Folge hat, dass – na, logisch – die besten Ergebnisse einer solchen Anstrengung eben nicht so Tüv-mäßig zu beurteilen sind. Ein einziger ganz und gar eigener Satz kann die Enumeration von lauter richtigen Sätzen wegfegen. Trifft einer nur das Wort, sind alle Listen Makulatur!

Statt Freiheit des Geistigen: Bürokratisierung. Ich habe die Entwicklung hin zu diesem Zentralabitur kommen sehen. Von Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre habe ich an einer Universität Germanistik unterrichtet. Und vor mir saßen damals im Schnitt 40 junge Damen und Herren, die zwar noch kein Zentralabitur gemacht hatten, aber schon zu dem Zeitgeist gehörten, der eine solche Veranstaltung anstrebte. Denn von den 40 flehten mindestens 35 Stunde für Stunde schweigend um ein Regularium, das sie durch dieses mehr oder minder ungeliebte und bloß aus Entscheidungsarmut, wenn nicht aus Panik vor den Naturwissenschaften ergriffene Studium tragen sollte. Währenddessen stand ich hinter einem Pult, auf das zu steigen ich mich nie getraut habe, und warb dito Stunde für Stunde flehentlich fürs Selberdenken.

Meistens allerdings vergeblich. In meiner Sprechstunde saßen mir 20-Jährige gegenüber, die nicht hören wollten, dass einer, wenn er es denn kann, alles (für ihn) Wesentliche über ein Gedicht auf acht Seiten sagen darf. Sie wollten vielmehr wissen, wie viele Seiten sie mindestens schreiben mussten, um einen Schein zu bekommen! Manchmal kamen diese Kinder – ja Kinder! – mir vor, als seien sie durch eine Gehirnwäsche gegangen: Ausgerechnet die große Verheißung der europäischen Aufklärung: das Selbst-denken-Dürfen – für sie schien das ein Fluch zu sein. Ich sage das freimütig: Als ich, ohne meine Habilitation zu beenden, vor zwölf Jahren die Universität verließ, war ich heilfroh, nicht mehr Menschen begegnen zu müssen, die schon ob ihrer Jugend eigentlich für eine radikale Freiheit des Geistigen eintreten müssten, tatsächlich aber eine Bürokratisierung der Geisteswissenschaften beförderten. (Der Fairness halber will ich aber hinzufügen, dass mir der Abschied von den anderen zehn Prozent, also vom Club der toten Dichter, sehr schwer gefallen ist.)

 

Was die Welt zusammenhält

Sprechen wir von Geist und Sprache, der Energie und Dynamik des Denkens. Die Frösche wollten einen König. Zuerst bekamen sie einen Stock, dann die Schlange. Jetzt höre ich längst nur noch: Bologna. Bachelor. Master. Ich rede mit den damaligen Kolleginnen und Kollegen, die an den Universitäten geblieben sind. Und mein Eindruck ist der: Damit jemand hier oder dort studieren und dann anderswo seine Buchstaben behalten darf, wird billigend in Kauf genommen, dass über all der Kompatibilisierung der Studieninhalte und -abschlüsse die wesentlichen Studienziele freundlich winkend am Horizont verschwinden. Alles geht unter in den Debatten zum Verbraucherschutz der Studierenden.

Und schlimmer noch: Eine Geisteswissenschaft, die sich dergestalt demokratisch (was hier leider bloß heißt: kundenfreundlich) geriert, wird außerstande sein, Protagonisten hervorzubringen, die den Wert ihres Tuns auch außerhalb der ach so engen Institutsmauern repräsentieren können. Was dringend nötig wäre. Denn wer, wenn nicht die Geisteswissenschaften, könnte in einer sich zunehmend spezialisierenden und diversifizierenden Gesellschaft die Absicht aufrechterhalten, von dem zu sprechen, was „die Welt im Innersten zusammenhält“? Also vielleicht: von Geist, von Sprache. Doch wer heute in Deutschland einen geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl bekommt, braucht ihn, um sich darauf von der gewaltigen Erschöpfung zu erholen, die daher stammt, dass er sich 20 Jahre lang durch Seminare und Kolloquien, Gremien, Ausschüsse und Kommissionen, oder sagen wir: durch eine Wüste der Anpassung und Nivellierung, geschleppt hat.

Ich kann daher die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen verstehen, wenn sie sich, um nicht alle Integrität zu verlieren, auf sehr spezielle Forschungsgebiete zurückziehen, in denen sie nach dem Prinzip des cuius regio, eius religio ruhig und unangefochten agieren können. Allein, so wird man keiner, der sich mit Erfolg öffentlich gegen die Austrocknung der Geisteswissenschaften wird wehren können. So wird man keiner, der gegen den Terror des Drittmittel-Rankings ansprechen kann. Und keiner, der wiederum Schüler hat, die nur darauf brennen, demnächst vor ihren Schülern das Lehrbuch zerreißen zu dürfen!

Ich weiß, das Folgende ist schwer zu formulieren. Wer sagt, dass den Geisteswissenschaften die Demokratisierung unseres Bewusstseinsalltags nicht gut bekommt, der läuft Gefahr, mit Überzeugungen und Haltungen in Verbindung gebracht zu werden, die vollkommen zu Recht auf dem Index stehen. Aber wie die Kunst haben auch die Geisteswissenschaften im Grunde nicht die Tendenz zur Verlässlichkeit, Kompatibilität und Markentreue. Ihre Idee ist es auch nicht, irgendeinen Bestand zu sichern; sie befördern vielmehr Energie und Dynamik des Denkens, auch auf die Gefahr hin, dessen Richtung nicht vollkommen bestimmen zu können. Es wird daher in Zukunft unendlich schwierig sein, dieses Wesen der Geisteswissenschaft dem demokratischen Bewusstsein zu vermitteln. Aber es muss gelingen!

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Herausgeber

Prof. Günther Rüther und Prof. Jörg-Dieter Gauger

verlag

Herder

ISBN

978-3-451-29

erscheinungsort

Berlin Deutschland